Die Bilderkammer

Der hölzerne Pavillon hatte filigran durchbrochene Wände. Hinter dem verschlungenen, an Blütenranken erinnernden Muster sah die Welt draußen fern und verklärt aus wie eine Märchenwelt.
Nicht immer war es in den Tropen sonnig, nicht überall war dichter Dschungel. Es gab Sandwege, es gab karge Wiesen, und wenn es regnete, war man versucht, an den Zorn der Götter zu denken.
An einem der finsteren Tage hatten Kezia und Ray sich von einer Gesellschaft abgesetzt. Sie hatten ihre Gläser mitgenommen und saßen nun auf gepolsterten Bänken in dem hölzernen Pavillon. Das Dach sprang weit vor, so daß der Regen nicht hineinkam.
Kezia trug seidene Haarschleifen, lange Satinhandschuhe und ein großes Decolleté. Ray trug einen Gehrock im orientalischen Stil mit eingewebten Goldfäden. Das tiefdunkle Haar hatte er mit einem golddurchwirkten Turban gebändigt.
Die Kolonialherren sahen auf Einheimische herab; Ray war es dennoch gelungen, sich Respekt zu verschaffen. Man hofierte ihn regelrecht.
"Wenn ich das immer sehe, wie die dich verehren", seufzte Kezia. "Falsche Bande."
"Lügen gehört zum guten Ton", erwiderte Ray. "Es ist nicht meine Sache, aber verkaufen muß man sich doch, wenn man mit den Seinen überleben will."
"Du hast Kinder?"
"Ja, eine Tochter, Tami Gabrielle."
"Wie alt ist sie?"
"Sechzehn."
"In dem Alter werden Mädchen fast immer verheiratet."
"Ich bin sehr dagegen", meinte Ray. "Ich möchte, daß Tami erst erwachsen wird und sich dann ihren Mann aussucht. Bei ihrer Mutter war das schon so ein Drama ... was hat Zara alles geopfert ... was haben wir alles opfern müssen, um miteinander leben zu können ..."
"Was ist denn da passiert?" erkundigte sich Kezia zögernd, doch mit kaum bezähmbarer Neugierde.
Ray trank von seinem Granatapfel-Cocktail und begann zu erzählen:
"Man hätte glauben mögen, daß Zara als Nichte eines Kolonialherren keine Sorgen hatte. Aber sie hatte sehr wohl welche. Beide Eltern waren früh gestorben, Zara war in Internaten aufgewachsen. Als sie achtzehn wurde, hat ihr Onkel sie zu sich in die Kolonien geholt. Alles wurde ihr vorgeschrieben ... mit wem sie befreundet sein durfte, mit wem sie auf Bällen tanzen durfte ... und weil sie sich das nicht vorschreiben lassen wollte, hatte sie mit ihrem Onkel dauernd Streit."
"Wollte er sie verheiraten?"
"Ja, mit einem adligen Offizier. Zara war dreiundzwanzig Jahre alt, als ich sie kennenlernte. Sie hatte sich der von ihrem Onkel gewünschten Ehe immer wieder entzogen. Ihr Onkel hat ihr vorgeworfen, daß sie wertlos ist, solange sie nicht heiratet. Dabei hatte sie damals schon seit Jahren als Lehrerin gearbeitet und aushilfsweise auch als Krankenschwester. Sie hat ihr Geld selbst verdient. Aber ihrem Onkel das klarzumachen, das war unmöglich. Er hatte seine Meinung, daß nur eine verheiratete Frau etwas wert ist, und davon ließ er sich nicht abbringen."
"Und wie hast du Zara kennengelernt?"
"Vincent - der Offizier, den Zara heiraten sollte - hat mich mit Hilfe eines Verräters in eine Falle gelockt. Vincent wollte Karriere machen und war besessen von der Idee, mich als Trophäe vorweisen zu können."
"Warum wurdest du denn gejagt?"
"Weil ich mit meinen Leuten Schiffe gekapert habe, eines nach dem anderen, und das gab gewaltige Verluste für das Empire."
"Warum hast du das gemacht?"
"Um mich zu rächen. Rachsucht, das heißt, man denkt nur noch daran, sich zu rächen, und gibt dafür alles auf, auch das eigene Leben. Und ich hatte damals kein eigenes Leben. Ich wollte mich völlig hingeben für die Rache."
"Weshalb wolltest du dich rächen?"
"Weil ich geglaubt habe, daß man mit der Rache etwas auslöschen kann, das einem zugefügt wurde. Ich habe gedacht, wenn man nur genügend Widersacher umbringt, kann man dadurch jeden Massenmord ungeschehen machen. Ich wußte nicht, was ich sonst mit meinem Schicksal anfangen sollte. Dieses Schicksal hat mich heimgesucht als Kuriosität, als Zynismus, als bizarre Laune. Stelle dir eine Familienfeier vor ... die Hochzeit einer Schwester ... alle Verwandten sind da, alle sitzen beim Festmahl, in fürstlichem Prunk, die Braut mit Goldschmuck behangen ... und es dauert nur wenige Augenblicke, bis alle über Tische und Boden hingestreut liegen, zersiebt von Kugeln, erstochen, erschlagen ... Ich konnte nur zusehen, ich mußte zusehen, ich konnte nicht mehr wegsehen, auch als ich längst auf der Flucht war. Ich hatte überlebt, aber ich wollte das Leben nicht, ich wollte Rache."
"Hast du denn die Täter gefunden?"
"Jahre später habe ich herausbekommen, daß die britischen Kolonialherren die Täter bezahlt haben. Sie wollten meine Familie entmachten, weil sie ihrem eigenen Machtstreben im Weg stand. Was die Täter betrifft, so habe ich erfahren, daß sie im Laufe der Jahre allesamt bei Auftragsmorden und Kampfhandlungen ihr Leben gelassen hatten. Von da an erklärte ich die gesamte britische Kolonialmacht zu meinem Gegner und nahm mir vor, ihr so viel Schaden zuzufügen wie möglich."
"Du hättest sie doch nie bezwingen können."
"Ich habe gedacht, es hilft mir gegen die Erinnerungen, und ich wollte gerne mein Leben dafür hingeben."
"Hast du denn wirklich nachgedacht?" fragte Kezia. "Oder warst du nur von einem Gedanken besessen, so wie Vincent von dem Gedanken besessen war, dich zur Strecke zu bringen?"
"So viel anders als Vincent war ich nicht, das stimmt. Nur hatte Vincent die Kolonialmacht hinter sich, und ich hatte sie vor mir. Vincent war mit seiner Zukunft beschäftigt, ich mit meiner Vergangenheit. Vincent wollte Macht und Ansehen, ich wollte Rache und Vernichtung.
Mein Tod oder meine Gefangennahme bedeutete für Vincent einen wichtigen Meilenstein in seiner Karriere. Als ich von einer Kugel eines Verräters getroffen wurde, hat Vincent nur zu gern geglaubt, ich sei tot, und er hat das überall herumerzählt. Also hat niemand mehr damit gerechnet, daß es mich noch gab. Und daß ich der Bewußtlose sein könnte, den man Zaras Onkel ins Haus schleppte, darauf kam keiner. Man war mit der Herausforderung beschäftigt, einen Halbtoten ins Leben zurückzubringen, und darüber wurde alles andere uninteressant. Ich galt als Mysterium, niemand in der Villa wußte, wer ich war, selbst Vincent erkannte mich nicht, denn er hatte beim Kampf keinen Blick auf mein Gesicht erhascht."
"Und Zara?"
"Die saß an meinem Bett und hat sich entsetzlich in mich verliebt. Ich habe das gar nicht glauben können. Ich habe gedacht, daß ich zwar in sie, aber niemals sie in mich verliebt sein konnte. Ich habe allen etwas vorgespielt, auch Zara. Ich habe mich ihr erst offenbart, als es fast zu spät war. Es war auf einer Tigerjagd. Vincent hat einen Kampfruf von mir gehört, und an dem hat er mich erkannt. Bevor ich geflüchtet bin, habe ich endlich den Mut gehabt, Zara zu umarmen und ihr zu sagen, daß ich sie liebe. Sie hat gemeint, daß sie immer darauf gewartet hat, daß ich das zu ihr sage.
Ihr Liebreiz, ihr Charme hat mich fassungslos gemacht. Meistens ließ sie nur ihre Augen sprechen. Oder sie ließ Taten sprechen. Wenn sie aber etwas sagte, dann - traf das - und sie war mutig, scheinbar unendlich mutig, jedenfalls habe ich nie das Ende ihres Mutes kennengelernt.
Zaras Entscheidung für mich war der Auftakt zu kriegerischen Handlungen. Weil ihr Onkel mich umbringen lassen wollte, anstatt Zara mit mir gehen zu lassen, habe ich mit meinen Gefährten Zara entführt und dabei ihre gesamte Eskorte niedergemacht. Ich wollte Vincent nicht auch noch umbringen, aus Rücksicht auf Zara, die Vincent zwar nicht heiraten wollte, ihm aber freundschaftlich verbunden war. Vincent allerdings war immer noch im Jagdfieber und wollte mich um jeden Preis als Trophäe. In einem Zweikampf habe ich ihn besiegt, aber ich wollte ihn am Leben lassen. Wie ich mich umgedreht habe, ist er von hinten auf mich losgegangen. Zara hat aufgeschrien, ich bin herumgefahren, und ja, das war das Ende von Vincent. Ich habe mich elend gefühlt. Mir war es, als wenn der leblose Körper von Vincent mein eigener wäre. Ich wollte trauern, aber ich konnte es nicht. Ich fand nicht das in mir, was man braucht, um trauern zu können.
Zara hat mit mir den Tod geheiratet. Ich wollte auf Zara verzichten, ich wollte sie nicht mit in den Abgrund reißen, aber ich konnte weder mich selbst noch Zara von dem Wunsch nach einem gemeinsamen Leben abbringen. Wir sind uns in die Arme gesunken, und da wußte ich, daß ich durch meine Rachsucht nicht nur meine Zukunft, sondern auch die ihrige vernichtet hatte.
Ist Liebe egoistisch? Ist das Verlangen nach einem anderen Menschen gleichbedeutend mit Selbstsucht?"
"In meiner Kultur sagt man:
'Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.'
Wenn du dich selber liebst, Ray, dann kannst du auch einen anderen Menschen lieben ... und nur dann", betonte Kezia. "Liebe bedeutet nicht, daß man sich aufgibt, sondern daß man sich erhält - um seiner selbst willen und um des geliebten Menschen willen. Liebe heißt nicht Zerstörung, sondern Schützen, Wachsen und Werden. Liebe und Haß können nicht gleichzeitig in einem Menschen bestehen. Entweder man entscheidet sich für die Liebe oder für den Haß, man muß eines von beiden aufgeben."
"Ach, deshalb ist mir aller Haß und alle Rachsucht verlorengegangen, als ich mit Zara auf die Insel zurückgekehrt bin, wo ich mit meinen Gefährten hauste ..."
"Du mußtest dir und deinem Leben eine neue Richtung geben."
"Das habe ich versucht, und dabei habe ich gemerkt, wieviel ich zerstört hatte ... Ich habe Zara gesehen, wie sie unbefangen und voller Freude darangegangen ist, die wüste Insel in ein Märchenreich zu verwandeln. Und ich habe mich selbst betrachtet und meine bisherigen Taten, mit denen ich mich zur Beute für die Kolonialherren gemacht hatte ... und nicht nur mich, sondern auch die gesamte Insel. Ich war ein Todgeweihter, und alle, die mir folgten, wurden ebenfalls zu Todgeweihten. Ich wollte es nicht wahrhaben, ich wollte es wegschieben. Das Leuchten in Zaras Augen ließ immer wieder in mir die Hoffnung erwachen, alles könnte sich zum Guten wenden. Zara zweifelte nie an dem Sinn ihres Handelns, unermüdlich baute sie etwas auf, trotz der Gefahr, daß es im Handumdrehen zerstört werden konnte.
Zara lebte in den Tropen, als hätte sie schon immer in den Tropen gelebt. Obwohl sie aus Europa stammte, konnte ihr das Klima nichts anhaben. Sie half beim Bau von Häusern, sie unterrichtete die Kinder, und wenn ich sie fragte, ob sie denn in dieser zusammengenagelten Welt nichts vermißte, antwortete sie nur, daß es kein schöneres Leben für sie geben konnte - mit dem Mann, den sie liebte, und einer Aufgabe, die für sie eine Berufung war.
Ich tat, was ich konnte, um mein Gewissen zu beruhigen. Verfolgten gab ich ein Zuhause, und das erbeutete Gold aus früheren Raubzügen verwendete ich, um allen Menschen auf der Insel die Existenz zu sichern. Ich griff niemanden mehr an, ich kaperte keine Schiffe mehr, in der Erwartung, die Gegner könnten von uns ablassen.
Zaras Onkel hat einmal das wahre Wort gesagt, daß sich die Herren in Politik und Wirtschaft gerne mit Begriffen wie 'Moral' und 'Menschlichkeit' schmücken ... und daß weder Politik noch Wirtschaft etwas mit Moral oder Menschlichkeit zu tun haben.
Die Insel, auf der ich lebte, war ein Politikum, und das bedeutete, daß weder auf Moral noch auf Menschlichkeit Rücksicht genommen wurde, als die Kolonialherren über deren Zukunft entschieden. Und sie entschieden, daß das Inselreich verschwinden sollte, ebenso wie sie zwanzig Jahre zuvor entschieden hatten, daß meine Familie verschwinden sollte."
"Und dann wurde das Reich planmäßig vernichtet."
"Es wurde vollkommen zerstört, vollkommen. Alles, was wir geschaffen hatten, wurde dem Erdboden gleichgemacht. Und die Menschen ... es war den Söldnern egal, wen sie vor der Flinte hatten, völlig egal. Sie hatten nur ein Ziel: Vernichtung. Ich konnte es nicht begreifen. Und was ich noch weniger begreifen konnte, das war, daß ich selbst einmal raubend und mordend übers Meer gefahren bin und daß mir so viele Menschen zum Opfer gefallen sind, die ich nicht einmal kannte und gegen die ich an sich gar nichts hatte. Allein daß sie die Kolonialmacht repräsentierten, war ihr Verhängnis. Mir wurde erst jetzt das Ausmaß der Zerstörung bewußt, die ich selbst verursacht hatte.
Was hatte denn am Anfang dieser Tragödie gestanden? Eine Herrscherfamilie, die den Engländern im Wege war. Einige wenige bezahlten einige wenige, damit sie einhundertzwanzig Menschen hinmordeten. Ich überlebte als Einziger von der gesamten Familie und brachte mit meinen Gefährten im Laufe der Jahre ungefähr zweitausend Menschen um, was bedeutete, daß zweitausend Familien meinetwegen zerstört wurden, daß Frauen zu Witwen wurden und Kinder ihre Väter verloren. Auch viele von meinen Gefährten kamen ums Leben. Und jetzt hatte ich noch einmal Hunderte von Menschen in den Tod gerissen, all diejenigen nämlich, die mit mir auf der Insel lebten und sich dadurch zur Zielscheibe für die Kolonialherren machten. Alles in allem hatte ich viel mehr Schaden angerichtet, als mir einst zugefügt worden war."
"Die Schuld, mit der wir leben, ist unsere Prüfung. Es ist leichter, schuldig zu sterben, als schuldig zu leben."
"Ich will gar nichts mehr annehmen von dem, was mir zuteil wird. Ich habe dann immer die Vorstellung, daß ich es anderen wegnehme. Daß ich mich selbst erhalte, kann ich vor meinem Gewissen nur noch dadurch rechtfertigen, daß es Menschen gibt, für die ich da sein muß."
"Auch für dich mußt du da sein."
"Für mich?" fragte Ray. "Aber ich bin es doch gar nicht wert."
"Jeder ist um seiner selbst willen etwas wert", sagte Kezia bestimmt, "gleich wer er ist und was er tut."
"Aber es kann doch sein, daß man das Leben verwirkt hat."
"Du kannst ein Leben, das dir geschenkt wurde, nicht verwirken."
"Woher willst du das denn wissen?"
"Das weiß ich deshalb, weil man Liebe nicht verwirken kann. Liebe verliert man nicht. Sie ist bedingungslos, sie besteht immer fort."
"Was hat denn Liebe mit dem Wert eines Menschen zu tun?"
"Stelle dir einen Menschen vor, der kein Gewissen hat, Ray. Ein solcher Mensch kann so viele Morde begehen, wie er will, es berührt ihn nicht. Er kennt kein Mitgefühl, er leidet nicht unter Verlusten, er fühlt sich an niemanden gebunden. Er wird niemals das empfinden, was du jetzt durchmachst, Ray. Du bist imstande, zu lieben und begangenes Unrecht zu bereuen. In meiner Kultur spricht man von der Vergebung der Sünden. Sie wird jedem zuteil, der sich abwendet vom Haß und der sich den Menschen zuwendet."
"Und ein Mensch, der kein Gewissen hat, was wird aus dem?"
"Der muß einsam durch die Welt irren, in ewiger Unrast, immer auf der Flucht vor einer höheren Gerechtigkeit. Wer Haß in sich trägt, wird niemals glücklich."
"Und du glaubst, mir werden die Sünden vergeben?"
"Du mußt nur immer bei den anderen Menschen sein und für sie da sein, und du wirst merken, daß der Frieden in dich zurückkehrt."
"Meinst du, daß ich dann auch eines Tages ... trauern kann?"
Kezia nickte.
"Wenigstens meine Tochter ist mir geblieben", sagte Ray und sah zwischen den filigranen Mustern hindurch nach draußen in das nebelgraue Tageslicht. "Als auf der Insel eine Cholera-Epidemie ausbrach, haben Zara und ich Tami Gabrielle zu einer Familie aufs Festland gebracht, damit sie sich nicht ansteckte. Sie war noch dort, als die Insel angegriffen wurde. Nur deshalb hat sie überlebt. Zara ist nicht mitgekommen aufs Festland, weil sie sich um die Kranken kümmern wollte."
"Und deshalb hat sie nicht überlebt."
"Ja, deshalb hat sie nicht überlebt."
Ray saß still da, den Blick in die Ferne gerichtet. Dann griff er nach seinem Cocktail, trank davon und sprach weiter:
"Ich sehe Zara immerzu vor mir, die hochgewachsene, schlanke Gestalt, das jugendliche, fast kindliche Gesicht, die prächtigen aschblonden Haare, die ihr wie ein Wasserfall über die Schultern hingen. In den leichten, zarten südostasiatischen Gewändern kam ihre Schönheit viel besser zur Geltung als in den viktorianischen Korsetts und Reifröcken, die sie trug, bevor sie auf die Insel kam.
Zara war ganz in Weiß gekleidet, als wir durch den Dschungel fliehen mußten. Im Haar trug sie ein weißes Tuch. Vielleicht war ihre helle Kleidung ein Grund dafür, warum ausgerechnet sie von den Söldnern getroffen wurde.
Die wenigen Getreuen, mit denen ich mich zum Strand durchkämpfen konnte, haben alle mit mir übers Meer fliehen können, alle außer Zara. Sie ist das letzte Opfer der Söldner geworden, kurz bevor wir den Strand erreicht hatten.
Es durfte nicht geschehen, und es ist doch geschehen. Ich hätte alles hingegeben, nur um Zara zu retten. Und ich habe es nicht geschafft. Ich kann es mir nicht verzeihen."
"Wir Menschen neigen dazu, uns Dinge vorzuwerfen, die wir erst im Nachhinein beurteilen können", meinte Kezia. "Du weißt heute vieles besser, aber nur, weil so vieles passiert ist. Du hast getan, was du konntest, Ray. Du konntest damals nicht mehr tun und nicht mehr wissen."
"Ich werde die Bilder nicht los. Ich werde die Erinnerung nicht los. Ich kann nicht an Zara denken, ohne an das Verbrechen zu denken, dem sie zum Opfer gefallen ist. Und ich muß an all die anderen Menschen denken, die mit ihr ermordet wurden. So viele Leben sind vernichtet worden, nur um die Machtgier der Kolonialherren zu befriedigen. Es steht alles vor mir, als wäre es gestern erst passiert, dabei ist es fünfzehn Jahre her. Ich kann es nicht abstellen. Ich kann nicht damit abschließen."
"Wir sollten eine Bilderkammer einrichten."
"Eine Bilderkammer?"
"Wir stellen uns eine Kammer vor, in die alle Bilder hineingestellt werden, von denen wir nicht wissen, wohin damit", erklärte Kezia. "Dann sind sie aufgeräumt, und wir müssen nicht immer an sie denken."
"Damals auf der Insel habe ich gesagt:
'Weinen kann ich nicht, ich bin zu wütend.'
Vielleicht bin ich immer noch zu wütend dafür", vermutete Ray. "Es gibt mich nicht mit gesenktem Kopf und den Händen vorm Gesicht. Es gibt mich nur aufrecht und kampfbereit. Ich habe alles eingesteckt, habe zu allem nur genickt und weitergemacht. Ich habe nie innegehalten und mich umgedreht."
"Dann halten wir doch jetzt inne", schlug Kezia vor. "Wir sagen einfach mal für eine Weile nichts und tun nichts."
Es ging auf sechs Uhr zu. Um diese Zeit kam in den Tropen immer schon die Abenddämmerung. Als es fast dunkel geworden war, zündete Kezia eine Lampe an und stellte sie auf ein Tischchen mit Intarsienmuster.
"Wo ist Tami Gabrielle?" erkundigte sie sich.
"Sie lebt noch in der Familie, wo wir sie damals hingegeben haben", erzählte Ray. "Tami betrachtet die Familie als ihre eigene, sie wird dort auch so gehalten. Sie weiß aber, daß ich ihr Vater bin. Ich besuche sie so oft, wie ich es kann. Neulich hat Tami gefragt, wo ihre Mutter begraben liegt. Ich habe ihr erklärt, daß die Insel, wo sich das Grab befindet, heute ein Truppenstützpunkt ist und daß wir nicht mehr dorthin fahren können."
"Wo wohnst du denn jetzt?"
"In der Kolonialvilla von Zaras Onkel."
"Wie kommt das denn?"
"Zaras Onkel hat keine Nachkommen außer Tami Gabrielle. Er hat ihr also seine Villa vererbt, vielleicht auch, um etwas gutzumachen von dem, was er seiner Nichte angetan hat. Und solange Tami Gabrielle noch nicht in die Villa gezogen ist, bewohne ich sie. Zaras Onkel wollte das, und mir kam es entgegen, zumal es dort reichlich Platz gibt für meine Gefährten und ihre Familien; sie wohnen seit dem Tod von Zaras Onkel ebenfalls in der Villa."
"Wollt ihr dort für immer bleiben?"
"Lieber würde ich in dem Palast wohnen, wo ich aufgewachsen bin, aber der ist niedergebrannt, das ist nur noch eine Ruine. Seit der Vernichtung des Inselreichs, das ich mit Zara aufgebaut habe, konnte ich mich an keinem Ort mehr heimisch fühlen."
"Was ist mit deinen Feinden, die dir alles zerstört haben?"
"Mein Freund Sastre hat zu ihnen diplomatische Beziehungen aufgebaut. Ich war es nicht gewohnt, zu handeln und zu verkaufen. Mir war bislang nie eine andere Lösung als Gewalt eingefallen, wenn ich angegriffen wurde. Sastre ist es gewesen, der mir den Weg geebnet hat zu einem friedlichen Dasein hier in der Villa. Er konnte den Kolonialherren vermitteln, daß sie am meisten profitieren, wenn sie mich und meine Getreuen in Ruhe lassen."
"Und wie verdient ihr euer Geld?"
"Heute bin ich offiziell kein Pirat mehr, sondern ein Kaufmann, wobei die Methoden keine wesentlich anderen sind. Es kommt eben auf die Verpackung an. Früher wollte man uns aufhängen, heute legt man für uns den roten Teppich aus und lädt uns auf Bälle und Empfänge ein."
"Was zieht mich nur in diese Welt?" fragte Kezia. "Warum will ich ausgerechnet hier leben? Es ist doch eine Welt, in der überall Krieg herrscht, Not und Elend. Einige wenige leben auf Kosten vieler anderer. Das ist auch in Europa so, aber hier ist es noch viel schlimmer. Hier kannst du einfach auf offener Straße erschossen werden, du bist nirgends sicher."
"Diese Welt ist nicht nur schrecklich, sie ist auch schön", meinte Ray. "Hier begegnen sich Orient und Okzident, hier trifft alles aufeinander, auch kulturell. Und in dem Chaos, das hier herrscht, hast du mehr Freiheiten als anderswo."
"Wenn man es versteht, sich die Freiheiten zu nehmen, ja", sagte Kezia nachsinnend und setzte sich wieder zu Ray. "Ich war fünfzehn, als ich auf Druck meiner Familie einen steinreichen Plantagenbesitzer geheiratet habe. Ich bin diese Ehe nur eingegangen, weil mein Mann und ich vorher ein Abkommen getroffen hatten. Ich habe ihm unmißverständlich gesagt, daß ich ihn heirate, weil meine Familie mich erpreßt. Und ich habe die Bedingung gestellt, daß jeder jeden in Ruhe läßt und daß ich im Gegenzug bereit bin, seine sämtlichen Liebschaften zu dulden und nach außen die glückliche Ehefrau zu spielen. Eric hatte eine Geliebte in einem Bordell, die er nicht aufgeben wollte, und er war mit meiner Bedingung einverstanden. So führten wir eine Scheinehe. Wir konnten sogar ein Kind vorweisen, das Kind seiner Geliebten nämlich, das wir mit ihrem Einverständnis zu uns nahmen und das Erics Familiennamen trägt. Gavin ist jetzt zwanzig Jahre alt und studiert in England."
"Wenn ihr nur eine Scheinehe geführt habt, warum war es Eric wichtig, gerade dich zu heiraten?"
"Meine Familie ist reich und angesehen, deshalb ging es Eric um diese Verbindung. Außerdem wollte er Nachkommen, und diesen Wunsch konnte ich ihm erfüllen, indem ich den Sohn aufzog, den er mit seiner Geliebten hatte."
"Und dein Mann lebt nicht mehr?"
"Eric ist vor fünf Jahren bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen. Ich vermisse ihn, ehrlich. Wir waren über die Jahre zu Freunden geworden, wir hielten zusammen. Natürlich, jetzt als Witwe habe ich mehr Freiheiten als jemals zuvor ... aber zu zweit war das Leben fröhlicher."
"Dürfen wir hier eigentlich miteinander gesehen werden?" fragte Ray.
"Ich bin Witwe", entgegnete Kezia. "Ich darf sowas."
"Dann darf ich das auch. Ich bin Witwer."
"Wir dürfen sogar miteinander tanzen."
"Ich habe endlich die europäischen Tänze gelernt. Damals in der Villa konnte ich mit Zara nicht tanzen, weil ich diese Tänze nicht kannte."
"Das ist versprochen, nach dem Diner tanzen wir."
"Hast du schon mal jemanden geliebt?"
"Mit vierzehn habe ich geglaubt, daß für mich eines Tages das Märchen wahr wird und ich meine ganz große Liebe finde", erzählte Kezia. "Stattdessen wurde ich mit fünfzehn gezwungen, einen Mann zu heiraten, der für mich ein Fremder war. Und ich mußte mitansehen, wie meine Klassenkameradinnen ein ähnliches Schicksal ereilte, eine nach der anderen. Sie träumten von der großen Liebe und wurden verschachert. Sie treten heute als große Damen auf mit Prunk und Gefolge, führen aber ein tristes, ernüchterndes Dasein. Kaum eine wagt das offen auszusprechen, der schöne Schein ist ihnen wichtiger. Im Alltag geht es um Klatsch und Tratsch, nicht um große Gefühle. Ihre Kinder lieben sie wirklich, aber ihre Männer, das sind nur die Aushängeschilder und Versorger, denen sie als Gegenleistung zu Willen sind. Ich habe versucht, meine Träume zu bewahren, auch wenn ich nicht daran glaube, daß sie sich erfüllen werden."
"Wie sehen deine Träume denn aus?"
"Das ist fast etwas Mystisches ... Es begann vor dreißig Jahren, in dem Herrenhaus im Dartmoor, wo ich aufgewachsen bin. Das Haus wirkt verwunschen. Es ist efeuüberankt, die Mauern sind grau und brüchig. Es gibt einen Wintergarten mit einem Glaserker, von dort führt eine Tür auf eine Terrasse. Eines Nachts habe ich geträumt, daß ich aufgewacht bin, und es war hell, obwohl es erst zwei Uhr morgens war. Ich konnte das kaum fassen und bin hinübergegangen in den Wintergarten, um nachzuschauen, ob dort auch das Tageslicht zu sehen war. Und wirklich, draußen war es hell, wenn es auch eine fahle, bleiche Helligkeit war. Ich hatte nur ein dünnes Hemd an, ein Unterkleid aus Leinen, ich fror aber nicht.
Erst als ich mich im Wintergarten umsah, fiel mir die nebelgraue Gestalt auf, die reglos auf einem der weißen Rattanmöbel saß. Das war ein Mensch, der hatte sich einen Schonbezug übergehängt, wie man ihn für ungebrauchte Möbel verwendet.
'Wer bist du denn?' habe ich ihn gefragt.
'Das darf ich dir nicht sagen', gab er zur Antwort. 'Sonst bin ich im Augenblick fort und kann nicht wiederkommen.'
'Dann zeige dich.'
'Das darf ich auch nicht, sonst bin ich gleich verschwunden und kehre nie wieder.'
'Und woher kommst du?'
'Auch das darf ich nicht sagen.'
'Und sonst kannst du auch nichts über dich erzählen.'
'Es kommt darauf an, was du mich fragst.'
Von da an habe ich mir eine Frage nach der anderen überlegt, die nichts mit seinem Namen, seiner Herkunft und seinem Aussehen zu tun hatte. Wir haben nächtelang miteinander geredet, immer wieder in diesen Träumen. Ich habe mich entschieden, ihm einen Namen zu geben, weil er mir seinen nicht sagen wollte oder durfte. Ich nannte ihn Morgan. Das hat ihm wohl nicht gefallen, vielleicht fühlte er sich entzaubert, aber ich habe darauf bestanden, ihn bei einem Namen zu nennen.
Morgan wirkte mir so vertraut, so nah. In seiner Anwesenheit fühlte ich mich seltsam geborgen und unverletzbar. Wir haben uns über die Frage unterhalten, worin Gefühle eigentlich bestehen. Wenn ein Bild von einem Mann seine Arme um mich schließt, bedeutet das noch lange nicht, daß in mir Gefühle entstehen. Gefühle sind etwas ganz anderes und viel mehr. Sie sind etwas zwischen den Menschen, etwas Unsichtbares und zugleich etwas sicher Vorhandenes, Greifbares, fast Dingliches, wie die Rattanmöbel im Wintergarten.
Morgan konnte mich durch den Stoff des Schonbezugs sehen, ich ihn aber nicht. Ich fand das ungerecht. Eines Nachts fragte ich Morgan, ob ich ihn wenigstens umarmen dürfte, um seine Gestalt durch den Stoff zu erahnen. Er warnte mich:
'Das kann schon zuviel sein, das Schicksal kann dich strafen.'
Weil ich es aber durchaus wollte und gar nicht davon abzubringen war, ist Morgan von dem Rattansofa aufgestanden und hat sich mit einem Seufzer in die Mitte des Wintergartens gestellt, so daß ich meine Arme um ihn legen konnte. So etwas hatte ich vorher nie erlebt. Eine Statue hätte ich umarmen können und hätte eine Statue in den Armen gehabt, nichts weiter. Morgan zu umarmen war etwas anderes - und viel, viel mehr - obwohl der Schonbezug zwischen uns war. Wir sanken ineinander wie zwei Teile eines Puzzles, die immer zusammengehört haben. Man kann es nicht beschreiben ... es war wie eine Entführung in die Endlosigkeit."
"Und dann, wie ging es weiter?"
"Am nächsten Tag hat mein Vater mir mitgeteilt, daß ich in den Kolonien eine vorteilhafte Partie machen sollte."
"Und was hat Morgan dazu gesagt?"
"Er hat gemeint, daß er nie erlöst wird. Ich habe ihn gefragt:
'Wie kann ich dich denn erlösen?'
'Du kannst es gar nicht', hat er geantwortet.
'Und wer kann dich erlösen?' wollte ich wissen.
'Eine Fügung des Schicksals ... und ich weiß nicht, welche.'
'Wie bist du denn verzaubert worden?'
'Das darf ich nicht sagen.'
'Werde ich dich denn wiedersehen, wenn ich von hier fortmuß?'
'Das weiß ich nicht.'
Ich habe eingewandt:
'Wenn das so ungewiß ist, könntest du mir doch endlich sagen, wer du bist und woher du kommst.'
Er hat entgegnet:
'Solange noch die geringste Hoffnung besteht, daß ich erlöst werde und wir zueinander finden, sage ich's dir nicht.'
Er hat es mir bis heute nicht gesagt."
"Und du hast ihn nie von Angesicht zu Angesicht gesehen."
"Nein, nie."
"Was für eine Stimme hat er denn?"
"Das kann ich schwer beschreiben, aber eines weiß ich: Wenn ich seine Stimme hörte, war es, als würde eine Glocke angeschlagen", erinnerte sich Kezia. "Es war, als wenn die Stimme genau mich meinte - als wenn sie genau dazu da war, mit mir zu sprechen."
"Wann bist du Morgan zum letzten Mal begegnet?"
"Das war, kurz bevor ich mit Eric verheiratet wurde. Ich empfand diese Ehe als Sünde, denn ich fühlte mich nur Morgan zugehörig. Aber ich hätte das niemandem erklären können. Und ich durfte auch nicht unverheiratet bleiben. Meine Eltern drohten mir, mich in ein Kloster zu schicken, wenn ich jede Ehe ablehnte, die sie mir vermittelten. Mein Vater glaubte ehrlich, daß er mir mit der 'guten Partie' eine Freude machte. Ich habe drei ältere Brüder, die waren damals schon alle bei der Marine, und ich war nur das Mädchen. Mädchen müssen so früh wie möglich verheiratet werden, damit sie nicht an Wert verlieren, das ist die traditionelle Ansicht."
"Bist du denn wieder einmal in dem Haus deiner Eltern gewesen?"
"Zwei- oder dreimal, zu Familienfeiern."
"Und was hattest du da für Träume?"
"Keine, an die ich mich erinnern kann. Ich träume auch nicht mehr so wie früher. Ich kann mir meine Träume kaum noch merken. Aber obwohl ich seit Jahrzehnten in den Tropen lebe, ist mir so, als würde ich noch immer im Wintergarten eines englischen Herrensitzes stehen und hinausblicken in die müde herbstliche Landschaft, wie damals, bevor ich fortging ... und ich hoffte bis zuletzt, daß Morgan doch noch auftauchen würde - in Wirklichkeit und nicht nur im Traum."
"Was machst du mit diesen Erinnerungen?" fragte Ray. "Wo tust du sie hin?"
"In die Bilderkammer", antwortete Kezia. "Da tun wir jetzt alles hin. Die Toten kehren nicht wieder, die verlorenen Träume wohl auch nicht. Also bringen wir die Erinnerungen in die Bilderkammer."
Kurz vor Mitternacht kamen Kezia und Ray in den Saal zurück. Unter Kronleuchtern tanzten sie Wiener Walzer. Kezia fühlte sich verunsichert und hatte den Eindruck, daß Ray es ebenfalls war.
"Wir tanzen einfach weiter", sagte sie.
"Wir tanzen einfach weiter", nickte er.






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