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"Aber du wirst die Hochzeit mit dem Tode halten." (Brüder Grimm)




Die Hochzeit

Sophie war von einer entfernten Verwandten zur Brautjungfer bestellt worden. Am Morgen der Hochzeit lief sie in ihrem ausgeschnittenen, mit Raffschnüren geschürzten Seidenkleid zu der nahegelegenen Kirche und wurde mit einem Mal sehr hungrig. Am Bürgersteig entdeckte sie einen Imbiß, der geöffnet hatte. Sie zog ihre feinen Handschuhe aus und suchte nach Geld.
Vor ihr in der Schlange stand einer, über den im Ort viel geredet wurde. Man nannte ihn den Kohlen-Till. Sein richtiger Name war Tillmann Ruß, und er war Köhler von Beruf. Man schätzte ihn wegen seines unermüdbaren Fleißes, seiner maschinenhaften Genauigkeit und seiner außergewöhnlichen Körperkraft. Er maß etwa zweieinhalb Meter in der Höhe, und in der Breite glich er einem Kühlschrank. Seine ganze Gestalt war schwarz wie ein Schatten. Nur dort, wo an dem plumpen, zylindrisch geformten Kopf die Augen hätten sein müssen, schimmerte ein weißer Querbalken.
Erst jetzt, als sie ihn aus der Nähe sah, fiel Sophie auf, wie wenig der Kohlen-Till einem lebenden Wesen ähnelte. Er sollte aber durchaus eines sein, und er galt als harmlos und gutmütig, wenn er auch nicht eben redselig war. Vor Jahren hatte man eine Reihe ungeklärter Morde mit dem Kohlen-Till in Verbindung gebracht. Allerdings wurde ihm nie etwas nachgewiesen.
Es beruhigte Sophie, daß der Kohlen-Till sich offenbar genauso ernähren mußte wie ein Mensch. Er bestellte zwei Currywürste mit Senf und ein Boulevardblättchen, nichts Ungewöhnliches also.
Während Sophie auf fettigen Pommes frites herumkaute, beobachtete sie den Köhler, der sich die Currywürste durch eine fast unsichtbare Mundöffnung in das Innere seines gewaltigen Körpers stopfte. Den weißen Querbalken hielt er auf das Boulevardblättchen gerichtet. Sophie konnte eine Schlagzeile erkennen:
"Wer heiratet wen? Roter Teppich für Würger?"
Sophie entschied sich, den Imbiß zu verlassen, ehe der Kohlen-Till ihr seine Aufmerksamkeit zuwandte. Sie ließ den Rest der Pommes frites stehen und schlich hinaus. Das Rascheln ihres Kleides erschien ihr überlaut.
Sophie ging vorsichtig weiter, zwischen Bauzäunen, durch Flure aus Platanenholz. Schutt lag herum, und grobkörniger Sand bedeckte die Erde.
Als Sophie auf den Kirchplatz kam, schien die Sonne, weiß wie ein Diamant. Die Hochzeitsgäste gingen eben in die Kirche hinein, zu Hunderten und Hunderten. Ihre prachtvollen Gewänder leuchteten und funkelten in dem hellen Licht. Aus diesem schillernden Meer ragte ein stumpfer Schatten auf, der Kohlen-Till. Sophie fragte sich, wie er so schnell hierhergekommen war und weshalb man ihn überhaupt eingeladen hatte. Es schien nicht ganz mit rechten Dingen zuzugehen.
Sophie suchte in der Menge nach vertrauten Gesichtern. Viele Gäste schienen von auswärts zu kommen. Sophie kannte niemanden von ihnen. Sie suchte die Braut, fand sie aber nicht, und es wußte auch keiner, wo sie sich aufhielt.
In der Kirche war der Boden aus Marmor, und die Wände schlossen sich nach oben wie ein Himmelsgewölbe. Die trüben Fensterscheiben ließen nur wenig Tageslicht herein.
Als Sophie über den roten Läufer schritt, der im Mittelgang lag, hatten sich die meisten Gäste schon gesetzt. Von der Braut war immer noch nichts zu sehen. Dafür stand der Kohlen-Till auf dem Läufer, unbewegt wie ein abgeschalteter Roboter. Sophie grüßte ihn, um es sich mit ihm nicht unnötig zu verderben. Der rechte Arm des Kohlen-Till winkte.
Sophie flüchtete in eine Nische, die man wie eine Garderobe hergerichtet hatte. Die Haken waren aber leer, und es war auch kein Mensch dort außer einem Garderobendiener.
"Wissen Sie, wo die Braut ist?" fragte Sophie.
"Die kann schon vorm Altar sein", vermutete der Garderobendiener. "Schauen Sie mal da vorn über die Stühle. Dann müßten Sie den Altar sehen können."
Die Garderobennische war umrahmt von ausgemusterten Stuhlreihen ohne Lehne. Dies war ein stiller und dunkler Ort, noch dunkler, als es sonst in der Kirche war. Die Stimmen der Gäste klangen leise hallend.
Sophie kletterte zwischen den Stuhlreihen hindurch. In der Ferne sah sie etwas, das ein Stück vom Brautschleier sein konnte. Über den Marmorboden schleifte ein sich bauschendes Gewebe aus weißer Spitze, halb verborgen hinter einer Säule.
Durch die Stuhlreihen kam man nicht zum Altar. Sophie mußte zurück zum Mittelgang. Als sie sich umdrehte, war auch der Kohlen-Till in die Garderobe gekommen. Er formte mit seinen schweren Fingern eine zweideutige Geste.
"Raus", sagte der Garderobendiener.
Gemächlich entrastete der Kohlen-Till seine Gelenke, schlurte davon und stellte sich ein paar Schritt entfernt wieder auf.
Neben der Garderobe stand eine alte Grabkapelle klein, fast verloren in der riesenhaften Kirche. Es war ein umzäuntes Häuschen aus grauem, bröckelndem Stein, in dem noch Reste gehauener Reliefs sichtbar waren. Auf dem Platz davor waren Grabplatten in den Boden eingelassen, ebenfalls verziert und aus grauem Stein. Innerhalb des Zaunes, im "Garten" der Kapelle, lag der Boden voll übereinandergeschichteter Grabsteine. Offenbar waren sie wegen der räumlichen Enge zusammengerückt worden; da der Ort verlassen und gemieden war, konnte man dies als eine durchaus vertretbare Maßnahme bezeichnen.
Der Zaun um die Kapelle war nur kniehoch. Sophie überlegte, ob es hier möglich sein konnte, zum Altar zu gelangen, ohne dem Kohlen-Till über den Weg zu laufen. Sie begann, über die Grabsteine hinwegzusteigen.
An der Seitenwand hatte die Kapelle ein Fenster, ähnlich dem Fenster einer Kutsche. Hinter der Scheibe saßen sich auf Bänken zwei Männer gegenüber, die einen heftigen Wortwechsel hatten. Der eine, ein Bärtiger, trug einen dunkelgrünen Frack, der andere war hohlwangig und blaß und trug einen tief ins Gesicht geschobenen schwarzen Hut und eine weiße Halsbinde. Sophie nahm nicht an, daß diese Herren ihr weiterhelfen konnten. Dazu wirkten sie viel zu beschäftigt mit Dingen, die jenseits der Hochzeit lagen.
"Die Braut!" durchfuhr es Sophie.
Unweit vom Zaun, inmitten unbenutzter Stühle, entdeckte Sophie die weiße Gestalt, deren Gesicht mit feinem Tüll verhängt war.
"Sie ist so schön und glatt wie eine Puppe", dachte sie und stellte beim längeren Hinsehen fest, daß es sich wirklich um eine Puppe handelte.
Ein ärgerliches Klopfen ließ Sophie herumfahren. Der Bärtige im grünen Frack hatte seinen Kopf fast aus den Angeln gedreht und schlug seine Fingerknöchel im Stakkato gegen die Scheibe. Der mit der Halsbinde kehrte Sophie seinen bleichen Schädel zu.
"Zwei wie Tod und Teufel", mußte sie denken. "Von denen ist wahrhaftig keine Hilfe zu erwarten."







Angewidert versuchte Sophie, über die herumliegenden Grabsteine aus dem kleinen Kirchhof herauszukommen. Der Garderobendiener stand auf dem Vorplatz. Lautlos, wie ein schwarzer Nebel trat der baumlange Köhler hinter ihn.
Als der Kohlen-Till die Finger um den Hals des Dieners schloß, begriff Sophie noch nicht recht, was geschah. Die stahlbehandschuhten Finger lösten sich nicht mehr, und ohne einen Ton hervorzubringen, sank der Garderobenwärter zu Boden.
Der Kohlen-Till kümmerte sich nicht weiter um den Toten. Er schien zum Scherzen aufgelegt zu sein. Als Sophie in seine Reichweite kam, bog er die Stahlfinger zu Krallen. Die gesichtsähnliche Anlage zeigte ein freundliches Lächeln, und mit dem weißen Querbalken zwinkernd sagte er:
"Ksss!"
Sophie beschloß, sich an ihm vorbeizustehlen. Sie versuchte, sich möglichst unauffällig zu verhalten, um den Kohlen-Till nicht zu Gewalttätigkeiten zu reizen. Sie ging langsam und gleichmäßig und vermied es, den schrankähnlichen Köhler anzuschauen. Das war nicht leicht, denn das hochaufragende Gebilde warf einen tiefen Schatten über sie.
Auf dem Platz vor der Kapelle, unweit vom Zaun, griff der Kohlen-Till zu. Sophie fiel auf eine der Grabplatten, immer noch in den Fängen des Würgers. Die Glocken läuteten, die Orgel begann zu spielen. Blumen wurden auf den Mittelgang gestreut. Die Trauungszeremonie konnte beginnen.

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