Netvel: "Im Netz" - 30. Kapitel































.

Ein Mann hat mir erzählt, daß es vielen Männern leicht fällt, ihre Gefühle vollkommen von ihrer Wahrnehmung abzutrennen. Wenn sie sich von ihren Gefühlen nicht mehr behelligen lassen wollen, stellen sie sie einfach ab, und das Leben wird kontrollierbar und überschaubar. Das würde bedeuten, daß für Rafa eine Hinwendung zu sich selbst und zu verdrängten Gefühlen nicht mehr zu erreichen ist. Er leidet nicht unter dem Verlust eines Teils von sich selbst. Er gibt sich immer vergnügt und wohlauf und glaubt wahrscheinlich selbst daran. Das kann ich nicht nachvollziehen und nicht fassen, es ist aber die ungeschönte Wirklichkeit. Rafa braucht nichts Echtes, ihm genügt der Schein ... so stellt es sich zumindest dar.
Seltsam finde ich jedoch, daß Rafa trotz seines zur Schau getragenen Frohsinns angibt, keine Lust zum Leben zu haben. Ihm gehe es nur um seine "Mission", sonst um nichts. Auch als ich mein Ziel nenne, die Familie zu haben, die ich mir wünsche, erwähnt Rafa seine Freundin nicht. Sie scheint für ihn keinen Lebensinhalt darzustellen.
Wenn ich selbstmordgefährdete Patienten frage, weshalb sie sich letztlich doch nicht umbringen wollen, antworten fast alle, daß sie sich für ihre Frau und ihre Kinder verantwortlich fühlen und daß ihnen ihre Familie viel bedeutet. Rafa hingegen wirft mir vor, "zu familiär" zu denken, zu sehr auf meine Mitmenschen bezogen.
Zum Thema "Rauchen und Partnerschaft" hält Berenice auf ihrer Internetseite ein Plädoyer, in dem Enttäuschung über den rauchenden Lebensgefährten und Sorge um die eigene Gesundheit mitschwingen. Von einer Sorge um die Gesundheit des Partners ist freilich nicht die Rede:

Was Mitraucher einatmen!
Passivraucher bekommen zum Teil ganz andere Schadstoffe ab als der Raucher selbst. So ist im Rauch, der von der glimmenden Zigarette abgeht, dem so genannten Nebenstromrauch, die Konzentration Krebs erregender Nitrosamine hundert Mal höher als in dem Rauch, den der Raucher durch die Zigarette einzieht. Die Konzentration der ebenfalls Krebs erregenden Amino-Biphenyle ist dreißig Mal höher. Daneben enthält Nebenstromrauch aggressive Stoffe wie Stickoxide. Sie sind stabil genug, um über die Lunge in die Blutgefäße der Passivraucher zu gelangen und dort Schäden anzurichten.
Die neuen wissenschaftlichen Studien zeigen eindeutig, daß Passivrauchen nicht nur Krebs hervorruft, sondern auch zu schweren Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall führen kann.
Dies ist kein Appell an Raucher, ihre Sucht zu besiegen. Selbst Schulkindern, die mit jungen Jahren aus den unterschiedlichsten Gründen mit dem Rauchen beginnen, sollte bewußt sein, was sie ihrem Körper mit diesem Laster an Schaden zufügen. Das Informationsangebot ist hierzu nahezu unerschöpflich ... Erwähnt seien nur kurz schönheitsrelevante Konsequenzen wie fahle, trockene Haut und Falten!
Ich möchte vielmehr das Bewußtsein von Rauchern und Nichtrauchern gleichermaßen dahingehend erweitern, daß das "ewige Gemecker" der Nichtraucher nicht nur etwas mit Beschwerden über den Geruch der Zigaretten zu tun hat. Sicherlich ist es immens ärgerlich, wenn man selbst frisch geduscht und duftend eingequalmt wird - der Gestank an Haaren und Kleidung ist doch objektiv betrachtet nicht gerade erstrebenswert. Aber das ist tatsächlich eine Sache, über die man tolerant hinwegschauen könnte.
Daß auf Parties, in der Kneipe und in Diskotheken geraucht wird, weiß man schon vorher. Alkohol und Zigaretten - das gehört nun mal zusammen ...
Aber ist es denn wirklich immer nötig, als Raucher die anwesenden Nichtraucher gesundheitlich zu gefährden? Kann man sich denn nicht wenigstens ab und an dessen bewußt sein und die Zigarette woanders rauchen - oder es einfach mal gar nicht tun?!? Wenn selbst der eigene Partner, der so überzeugend behauptet, zu lieben, nicht fähig ist, aus dieser Liebe heraus die Gefährdung des Nichtrauchers höher einzuschätzen als den Wunsch, mal eben eine Zigarette zu rauchen - dann wird wohl nie etwas aus Rücksichtsnahme und Bewußtsein in dieser Welt. Geschweige denn aus Tierschutz.

Vielleicht ist Berenice von Rafa doch etwas enttäuscht ...
Ted erzählte, daß am Freitag festgestellt werden soll, was für einen Tumor Marvin hat. Davon hängt entscheidend die Prognose ab. Der Tumor soll sich genau zwischen den Gehirnhälften befinden.
Bislang hat Ted nur Kontakt zu Marvins Eltern, nicht zu ihm selber. Frederik, ein alter Bekannter von Ted, hat behauptet, Marvin wolle Ted nicht sehen. Ted vermutet, daß Frederik einen Keil zwischen ihn und Marvin treiben will. Ich teile diese Vermutung. Frederik hat kaum Freunde und könnte befürchten, Marvin an Ted zu verlieren. Ted betrachtet Frederik inzwischen nicht mehr als Freund.
Ende Mai war ich bei Henk zu Besuch. Er servierte Rinderbrühe und Königsberger Klopse, fein und klassisch, nur aus frischen Zutaten.
"Hausmannskost, das kann ich", weiß Henk.
Deshalb findet er meine Mozzarella-Tortellini-Salat-Küche auch so spartanisch.
In Henks Bad hängt nach wie vor der "Singing Honey Fish", und darauf steht ein seltsames Gebilde, eine gläserne Skulptur mit einer Muschel im Inneren. Weil die Batterie des Gummifisches langsam alle wird, ist der Gesang, den er auf Knopfdruck von sich gibt, nicht mehr ganz tonrein. Aber unermüdlich klopft er mit seiner quietschenden Schwanzflosse den Takt.
Die Katze Feline maunzt zwar immer noch unwillig, wenn ich zu Besuch komme, läßt sich aber ein wenig streicheln. Gewissermaßen haben Henk und Feline im Laufe ihres Zusammenlebens eine ähnliche Entwicklung genommen. Beide sind zutraulicher geworden, beide sehen nach wie vor anziehend aus, und beide sind um die Leibesmitte aus der Form geraten.
Am Mittwoch war ich im "Zone". Zenza war mit Vittorio und Vernon da und erzählte von dem Konzert, das Rafa im April im "Zone" gegeben hat. Anläßlich des zehnten Bandgeburtstags soll Rafa kleine Törtchen verteilt haben. Zenza gefiel das Konzert.
Darius und Rafa sollen gemeinsam als Vorband aufgetreten sein. Es sei das zweite Konzert der beiden gewesen, und es sei ebenso wie das erste recht gut angekommen. Vorher sei Darius sehr aufgeregt gewesen.
Als Mauro mir die Haare schnitt, erzählte ich ihm, wie sehr Rafa von einigen seiner Fans verehrt wird.
"Dabei ist seine Musik doch noch nicht mal gut!" wunderte sich Mauro. "Das ist doch immer nur dasselbe!"
Die Verehrung durch seine Fans mag Rafa darüber hinwegtäuschen, daß er von ihrem Geld nicht leben kann. Er gilt bei einigen von ihnen als Gott, und niemand fragt einen Gott, ob er Geldschwierigkeiten hat.
Als Sarolyn wieder zum thailändisch Kochen einlud, erzählte Bertine:
"Jetzt hat mir Hakon endlich einen Antrag gemacht, den ich angenommen habe."
Rosen und Kniefall habe es nicht gegeben, aber darauf habe sie auch nicht mehr warten wollen.
Anfang Juni war ich mit Constri und Denise bei Henk. Constris Haare sind während der Schwangerschaft dünn und fransig geworden, und sie bekam von Henk einen Schnitt, der die Haare voller und gesünder aussehen läßt.
Weil Henk sich verspätete, rief ich seine Mutter an und fragte nach ihm. Sie hatte auch schon versucht, ihn zu erreichen. Sie berichtete mir, sie müsse ihre Sorgen unbedingt loswerden; sie könne und wolle nichts in sich hineinfressen. Sie sei jetzt zweiundsiebzig Jahre alt und müsse mitansehen, wie in ihrem Bekanntenkreis einer nach dem anderen stirbt. Am heutigen Tage habe sie erfahren, daß eine ihrer besten Freundinnen nach einem schweren Schlaganfall im Sterben liege und nicht mehr ansprechbar sei. Mit ihren neunundsechzig Jahren sei sie jünger als sie selbst. Zwanzig Jahre hätten sie beide in der Hochschule gearbeitet, die Freundin in der Neurologie, sie in der Psychiatrie. Sie hätten zusammen gemalt und viel schöne Zeit miteinander verbracht. Und das sei jetzt alles unwiderruflich dahin.
Als Henk nach Hause kam, staunten Constri und ich:
"Der ist fast so blau wie sein Hemd."
Henk erklärte, er habe sich verspätet, weil er jemanden im Krankenhaus besucht habe. Und darauf habe er erstmal etwas zu Trinken gebraucht. Die Erinnerung an seinen Bruder, der vor neun Jahren in einem Krankenhaus an AIDS starb, läßt ihn nicht los.
"Das hatte ich auch noch nicht, mir von einem Friseur die Haare schneiden zu lassen, der voll hacke ist", meinte Constri.
Henk spielte CD's von Hilde Knef und 2raumwohnung ab, mit dem Ergebnis, daß Denise von den Knef-Chansons einschlief und Constri und ich uns die CD von 2raumwohnung brennen wollen.
Henk hatte mir bei meinem letzten Besuch versichert, Kinder würden ihn in keiner Weise interessieren. Ich versicherte ihm, die Begegnung mit Denise werde seine Meinung ändern.
"Nein, gib dir keine Mühe!" winkte er ab.
Als er nun Denise sah, war er entzückt und sagte ein ums andere Mal:
"Das ist aber ein süßes Kind! Nein, das ist aber ein ganz besonders hübsches Kind! Ach, die ist wirklich süß!"
Er durfte sie kurz auf den Arm nehmen, wobei Constri und ich allerdings ein scharfes Auge behielten, weil er doch ein wenig sturzgefährdet war.
"Im Badezimmer hat er sich fast auf die Klappe gelegt", erzählte Constri, nachdem er ihr die Haare gewaschen hatte.
Henk führte Constri den singenden Gummifisch vor, und ich führte ihr Henks weißen Plüschhund vor, der auf Rufe in unterschiedlichen Tonlagen mit unterschiedlichem synthetischem Gebell und unterschiedlichen Hoppelbewegungen antwortet.
"Oh Gott, wie scheußlich", sagte Constri amüsiert.
Weil Henk so betrunken war, geriet der Haarschnitt etwas unregelmäßig.
"Mal was Neues", meinte ich.
Ted berichtete am Telefon, daß er Marvin endlich im Krankenhaus besucht hat. Meinen Rat, sich von der Angst nicht behindern zu lassen, nahm er sich zu Herzen. Er habe sich aber nie in seinem Leben so gefürchtet, nicht einmal im letzten Jahr, als er nur mit knapper Not seine Firma den Fängen des Finanzamts entwinden konnte.
Ted meldete sich bei Marvin nicht an. Lev beschrieb Ted, wo er Marvin finden konnte - in Zimmer 8. Dort war Marvin aber nicht. Eine Krankenschwester sagte Ted, Marvin liege in Zimmer 9, und er solle ruhig hineingehen. Ted sah Marvin am Fenster im Bett liegen und telefonieren. Marvin entdeckte Ted und telefonierte noch etwa fünf Minuten weiter. Ted setzte sich an ein Tischchen. Er hatte den Eindruck, Marvins Stimme hätte sich ein wenig verändert, nachdem er seiner gewahr wurde.
Als Marvin aufgelegt hatte, begrüßte er Ted:
"Oh, hoher Besuch! Was gibt's denn?"
"Ja, was gibt's denn ...? Ich bin hier, um dich zu besuchen und um zu fragen, wie es dir geht."
Marvin berichtete, wie er kürzlich beim Fahrradfahren Doppelbilder gesehen habe und deshalb zum Augenarzt gegangen sei. Der habe ihn sofort ins Krankenhaus geschickt, und man habe den Tumor in der Nähe der Sehnervenkreuzung entdeckt. Am vergangenen Freitag habe man einen Großteil des Tumors entfernt. Alles zu entfernen, sei nicht möglich gewesen, weil sich in der Umgebung lebenswichtige Strukturen befänden. Zur Zeit laufe die Gewebeuntersuchung. Man überlege, ob man mit Bestrahlung weiterkomme.
Marvin war in recht guter Verfassung, wenn auch etwas geschwächt. Ted glaubt, daß Marvin sich durch die Einschränkungen, die das lebensbedrohliche Tumorleiden zur Folge hat, in erheblicher Weise gekränkt fühlt. Sein Leistungsvermögen ist auf Dauer herabgesetzt. Er kann nicht mehr der dynamische Karrieremann sein, zu dem er sich in den letzten Jahren entwickelt hat.
Marvin erkundigte sich, wie es Teds Bruder gehe. Ted konnte nun erzählen, ohne Themen anzusprechen, die zu Spannungen oder Auseinandersetzungen hätten führen können. Er wollte seinen Besuch nicht allzu lange ausdehnen, um Marvin zu schonen.
"Aber daß du mich jetzt nicht jede Woche besuchst", verlangte Marvin.
"Das habe ich auch nicht vor, Marvin", entgegnete Ted. "Soll ich dich denn aber wenigstens nächste Woche mal anrufen?"
"Ja, ruf' mich an", bat Marvin. "Ruf' mich an."
Er berichtete, es stimme, daß er zu Frederik gesagt habe, er wolle von Ted nicht besucht werden. Es liege an dem Durcheinander in seinem Kopf.
Ted gewann den Eindruck, daß seine Anwesenheit in Marvin heftige Gefühle aufweckte und daß ihn diese Gefühle anstrengten.
Dieses Jahr besuchte ich wieder das Pfingstfestival in L. Am Samstagmittag gingen Sarolyn, Victor, Cindia, Clarice, Leander und ich in der Innenstadt spazieren. Leander trug ein Kleid, das ich hinreißend fand. Es war lang, schwarz, schlauchförmig und durchsichtig - mit Ausnahme einiger breiter Stoffstreifen, die auf das Kleid genäht waren. Leanders schlanke Figur paßte hervorragend hinein. Das glatte, jungenhafte Gesicht und die langen, zu einem Zopf gebundenen Haare unterstrichen den androgynen Charme des Outfits. Clarice trug, wie immer bei Festivals, ein prachtvolles, geschnürtes Rokoko-Kleid mit sehr tiefem Decolleté.
Sarolyn und ich setzten uns ab, um durch Modegeschäfte zu bummeln, als die anderen in einem Kinopalast einen Horrorfilm anschauen wollten, der Teil des Festivalprogramms war. Wir stellten uns ein "Männer-Wunderland" vor, wo die Frauen ihre Angetrauten abgeben konnten, um in Ruhe einkaufen zu gehen. Da würde die Ehefrau beim Schuhe-Anprobieren eine SMS auf ihr Handy bekommen mit dem Text:
"Andreas will aus dem Männer-Wunderland abgeholt werden."
In dem Wunderland wären Bier, ein Sport-TV-Kanal und hübsche Kellnerinnen die Attraktionen.
Daß es so ein Männer-Wunderland schon gibt - in HH. -, erfuhren wir kurze Zeit später durchs Fernsehen.
Am Abend gab es ein Programm mit Electro und Industrial in einem ehemaligen Herrenhaus. In der Sommerhitze traten im Ballsaal neun Bands auf. Dirk I. und Mark V. waren mit ihren eigenen Live-Acts dabei, als Dive und Klinik. Dirk riß wie immer das Publikum mit und war der eigentliche Headliner, obwohl sein Konzert in der Mitte des Abends stattfand. Mark bot Trance mit Computervideos als Untermalung, eingängig und tanzbar. 5F_55 sind Industrial-Newcomer und brachten sich mit ihren effektvoll beleuchteten Plexiglas-Keyboardtischen und ihren Strahlenschutzanzügen und Atemschutzmasken ins Gedächtnis. Zu Beginn des Konzerts wanderte einer der beiden in seiner seltsamen Kostümierung durch die Menge. Er trug einen Geigerzähler und befestigte einen Meßfühler an dem cadmiumgelben Lackrock eines Mädchens.
Die aufwendige Garderobe der beiden Herren von 5F_55 war unterm Bühnenvolk eher die Ausnahme. Im Publikum des Festivals jedoch waren viele aufregende Kostüme zu sehen, je nach Veranstaltung mal kühler, mal romantischer. Ich sah einen altrosa Lack-Reifrock mit schwarzer Schleifenbordüre, knappe bis sehr knappe Corsagen, ein ausgestelltes, völlig durchsichtiges Plastikröckchen, ein Röckchen mit vom Saum her halb aufgezogenen Reißverschlüssen ringsherum, ein Mädchen im schwarzen Ganzkörper-Lackanzug mit einer Art Stahlpanzer und einer Gasmaske, unter der hinten die langen Zöpfe hervorhingen. Es gab wattierte Herrenjacken mit Netzärmeln zu sehen, die Applikationen aus Metall und Kunststoff trugen. Es gab viele Herren in aufregend geschlitzten Röcken, in Plissee, in Lack, in Gummi. Es gab hoch angesetzte Zopfschnecken, kunstvolle Haarknoten und üppige Wallemähnen aus blondierten Zopfschnüren und grünen Plastikstreifen, es gab glitzernde Diademe und wehende Schleier. Ein Mädchen ging in Weiß, mit Korkenzieherlocken und federbesetzter Corsage. Ein Mädchen trug ein langärmeliges, hochgeschlossenes schwarzes Lackkleid mit Schleppe. Viele trugen durchsichtige Kleidung mit Dessous darunter, ein Herr jedoch trug ein undurchsichtiges Etwas ohne etwas darunter, das mehr zeigte als verhüllte. Es handelte sich um einen schwarzen Gummischurz, zusammen mit einer Bänderkonstruktion das einzige Kleidungsstück, das er am Leibe trug, abgesehen von den schweren Plateaustiefeln.
Im Herrenhaus fiel mir eine Frisur besonders auf. Die langen Haare waren gemeinsam mit Kunsthaaren zu vielen kleinen Zöpfchen geflochten, die ihrerseits auf raffinierte Art zusammengebunden waren. Dazu trug das Mädchen ein kurzes Bustier und eine knapp auf der Hüfte sitzende Militärhose aus dünnem Plastikstoff, mit verschiedenen Bändern und Schnallen. Die Hosenbeine ließen an mehreren Stellen den Blick frei auf die Netzstrümpfe darunter. So knapp sie oben saß, so überlang war die Hose nach unten, so daß das Mädchen unweigerlich darauftrat. Seraf begrüßte mich und wies strahlend auf dieses Mädchen, und ich erkannte Chantal. Ich beglückwünschte sie dazu, daß sie sich wieder mit Seraf versteht.
"Letzten Herbst bei 'Maschinenraum' ist es passiert", erzählte Chantal.
Sie hatte Seraf dort getroffen, und sie waren ins Gespräch gekommen.
"Lange Zeit hast du ihn gar nicht mehr sehen wollen, weil er dich so gekränkt hat", erinnerte ich mich.
"Sechs Jahre hat es gedauert", bestätigte Chantal.
Der Kontakt sei jetzt nur freundschaftlich.
Mir scheint, daß ihm Chantal mehr bedeutet, als er sich eingestehen wollte, als er sie 1997 verließ.
Draußen vor dem Herrenhaus versammelten sich viele Festivalgäste in den Parkanlagen. Unter ihnen waren Victoire und Shara. Sie wollten am nächsten Tag nicht hierher kommen, weil sie andere Veranstaltungen auf ihrem Programm hatten. Das Pfingstfestival in L. erstreckt sich über die ganze Stadt, etwa fünfzehn Locations sind beteiligt. Das Hauptgelände liegt im Süden von L., ein Gelände, auf dem sonst landwirtschaftliche Messen stattfinden. In einer Halle gibt es Verkaufsstände, die benachbarte Halle bildet die größte Konzertlocation. Das Herrenhaus liegt nördlich der Stadt in einem Naherholungsgebiet. So kam es, daß sich um das Haus herum Spaziergänger und Ausflügler unter die schwarzbunt gekleidete Festivalgemeinde mischten.
Später am Abend traf ich an einem Imbißstand mehrere Jungen, die zum früheren Stammpublikum des "Elizium" gehörten. Unter ihnen war einer, der "Manitou" genannt wird, weil er ein bißchen wie ein Indianer aussieht. Und Wegner war dabei, der schon mit Viktoria und Laura zusammengewesen ist.
"Ich zieh' auch nach L.!" schwärmte ein blonder Junge mit Ironie in der Stimme. "Dann kann ich jeden Tag Rafa sehen."
"Aber der wohnt doch nicht hier", wandte ich ein.
"Der wohnt in SHG.", ergänzte Wegner.
"Aber der gibt seine ganzen Konzerte hier", wußte der Blonde.
"Also, ich hab' mich mal mit dem unterhalten", erzählte Wegner, "und eigentlich fand ich den gar nicht so verkehrt. Gut, er ist ein Spinner. Aber wenn man mal die Tatsache beiseiteläßt, daß er ein Spinner ist, ist er gar nicht so verkehrt."
Der blonde Junge meinte, Rafa müßte doch inzwischen so weit sein, daß er von der Musik leben könne. Ich erwiderte, daß dem nicht so sei.
"Ich muß es wissen, ich arbeite bei spv", bestätigte Wegner. "Der hat keine Verkaufszahlen ..."
"Der war in den DAC-Charts auf Platz zwei", wußte ich.
"DAC-Charts, was ist das schon?" winkte Wegner ab. "DAC-Charts ist gar nichts!"
Der Blonde erkundigte sich, was Dolf eigentlich für eine Rolle in der Band spielt. Ich erzählte, daß Dolf an der Entstehung der Produkte keinen wesentlichen Anteil hat und auf der Bühne eher als Marionette fungiert.
"Die Weiber sind auch nur Staffage", setzte ich hinzu.
"Die tauscht Rafa doch eh dauernd aus", meinte der Blonde.
Wegner erzählte, daß Rafa mit seiner jetzigen Freundin schon länger zusammen ist.
"Die ist schon auf mich losgegangen", erzählte ich. "Die wollte mir schon mal das Kleid zerreißen."
"Die steht wohl auf dich", vermutete Manitou. "Die ist übrigens meine ehemalige Freundin. Ja, mit der war ich mal zusammen. Berenice Alder."
Am Sonntagnachmittag war ich mit Cindia in einem mittelalterlichen Dorf, das jedes Jahr zu Pfingsten in L. aufgebaut wird. Ich trank Holunderblüten-Federweißer. Cindia und ich kauften uns Täschchen aus schwarzem Leder. In der Messehalle auf dem Hauptgelände kaufte ich einen Miedergürtel, der zu meinem durchsichtigen Tüllrock paßt.
Abends war ich wieder im Herrenhaus. Ich traf dort Shirley und ihre Mutter. Wir setzten uns neben dem Imbißstand an einen Tisch und tranken im Freien Kaffee. Ich lieh mir Shirleys schwarzen Spitzenfächer. Der paßte gut zu meiner Garderobe, die ganz in Schwarz gehalten war. Ich hatte ein schulterfreies Spitzenblüschen an, dazu den langen, weiten, durchsichtigen Rock mit der Spitzenkante und um die Taille den frisch gekauften spitzenbesetzten Miedergürtel aus Samt. Als Accessoires trug ich Spitzenhandschuhe, ein Spitzenstrumpfband und ein Samthalsband mit Kreuz.
Das Kaffeetrinken war für mich das Richtige, um meine Laune zu verbessern. Shirley erzählte, daß sie immer wieder nach brauchbaren Herren ausschaut, aber sie nimmt nicht jeden, und außerdem haben die meisten eine Freundin.
Rafas Auftritt wirkte auf mich routiniert und vorhersehbar. Auch bei den neueren Stücken gab es die tausendmal gehörten, immergleichen Harmonien, und die Damen drehten die Leuchtdreiecke, die seit über zwei Jahren erbarmungslos für die Bühnenshow dienen müssen. Wie gewohnt flogen Papierflugzeuge und Luftballons in Publikum, wie gewohnt gingen die Damen in Rosa, die Herren im Sakko, und Rafa nahm nur einmal kurz die Sonnenbrille ab.
Nach dem ersten Stück begann Rafa seine Ansage mit den Worten:
"So, jetzt bin ich schon ein bißchen weniger nervös."
Einige Stücke später unterbrach Rafa den Applaus des Publikums mit den Worten:
"So, jetzt hört mal auf, ich habe nicht viel Zeit. Ihr seid hier auf dem Pfingstfestival, und jeden von euch kostet das 98 Euro. Und alle Bands, die nicht mindestens fünf Prozent von ihrer Gage für einen gemeinnützigen Zweck spenden, deklassiere ich hiermit zu absoluten Vollidioten! Wir spenden fünf Prozent unserer Gage für den Tierschutzverein."
Rafa irrte sich im Preis der Eintrittskarte; er verwechselte Euro und D-Mark. Auffällig fand ich die entwertende Haltung gegenüber dem Applaus, auf den er als Künstler angewiesen ist, und das Herausstreichen der eigenen Spendenwilligkeit auf Kosten anderer Musiker. Vielleicht glaubt Rafa, daß die Fans ihn umso mehr verehren, je geringschätziger er sich ihnen gegenüber verhält. Vielleicht glaubt er auch, daß das Entwerten anderer Bands seine eigene Band wertvoller wirken läßt.
Als Rafa "Starfighter F-104G" vortrug, baute er aus gegebenem Anlaß das Wort "Möllemann" ein. Dessen Tod war im doppelten Sinne ein Absturz, auch ein Absturz aus der Selbstüberhöhung.
Gegen Ende des Konzerts bat Rafa nunmehr um Applaus, jedoch für die Damen:
"Jetzt mal ordentlich Applaus, die Damen sind sehr nervös."
Rafa ließ Berenice und Lucy ein Stück singen, das von einem "Märchenprinzen, den es nicht gibt" handelt, "8 Bit Wunderland". Ich fand es kitschig und seicht.
Während des Auftritts klatschte ich nie, was ich sonst auch nicht tue, es sei denn, Rafa hat keine Freundin oder ein Stück gefällt mir. Ich stand links vorn neben der Bühne, als ein Junge mich hinter die Absperrung winkte und mir bedeutete, ich sollte mich auf einen großen Tisch setzen, zwischen ihn und einen anderen Jungen. Am Geländer stand noch einer, ein Bekannter von ihnen, und winkte mir zu.
"Da komm' ich doch gern, wenn ich zwischen so charmanten Herren sitzen kann", meinte ich.
"Der Safety Guard da vorn", sagte der Junge, der mich hergewunken hatte und Cliff heißt, "wir verstehen uns gut, ich kann hier immer sitzen."
Wir befanden uns in dem Bereich, wo die Musiker und Roadies hindurchgehen müssen, um ihr Equipment zum Seitenausgang zu schaffen. Nach dem Konzert schleppten Dolf und zwei weitere Herren lauter Requisiten zu uns herunter und legten das Zeug um uns herum. Dolfs neue Freundin, ein kleines blondes Mädchen mit Pferdeschwanz, war bei ihm. Rafa, Berenice und Lucy waren auf der Bühne mit dem Abbauen beschäftigt. Rafa kam nur einmal kurz herunter zum Seitenausgang, ohne daß ich Blickkontakt aufnehmen konnte. Die Sonnenbrille hatte er abgesetzt. Mitsamt Berenice und Lucy verschwand er, während Dolf und seine Freundin sich in der Nähe von Cliff und mir aufhielten und sich das Konzert von Boytronic anschauten. Cliff ist vierunddreißig Jahre alt. Er lebt in DO. und kennt Rafa überhaupt nicht. Als ich ihm erzählte, daß Rafa früher in meinen Stammdiscotheken viel unterwegs war und inzwischen kaum noch irgendwo auftaucht, meinte Cliff:
"Na ja, wenn erstmal die Kohle kommt ..."
Ich erzählte ihm, daß Rafa mit seiner Musik keineswegs so viel verdient, daß er davon leben könnte. Es müßte einen anderen Grund haben, daß man ihn kaum noch irgendwo zu sehen bekommt.
Mit einem Mädchen, das auch hinter die Absperrung kam, tanzte ich zu Boytronic. Als der Auftritt fast zu Ende war, ging Rafa eilig an mir vorbei zu einer Engstelle, die sich zwischen Sperrgeländer und Theke befand. Er trug ein langärmeliges T-Shirt mit einem Muster aus jeansfarbenen Gesichtern. Ich streichelte seinen Arm und überlegte, ob er es wirklich war. Als er sich umdrehte und nachschaute, wer ihn streichelte, drehte ich mich weg. Er ging weiter, und ich machte mich vorsichtig auf den Weg durch die Menge, um herauszufinden, ob es wirklich Rafa gewesen war. Ich sah ihn beim Haupteingang mit einem anderen Herrn im Gespräch an einem Tischchen stehen. Ich konnte feststellen, daß er es tatsächlich war, und ich legte von hinten die Arme um Rafa. Dann ging ich gleich weiter. Rafa ging nach draußen und von dort zum Seiteneingang zurück. Ich ging durch die Halle wieder dorthin und setzte mich auf den Tisch hinter der Absperrung. Inzwischen räumte Rafa mit den anderen gemeinsam, auch mit Berenice, die restlichen Sachen in den weißen Kleintransporter, den er für seine Auftritte verwendet. Berenice hatte sich die Knotenfrisur aufgelöst, die Rafa ihr für die Konzerte verordnet. Sie trug ein Trikot-Röckchen in denselben Jeansfarben, wie sie auf Rafas T-Shirt zu sehen waren. Einmal setzte sie sich auf eine Kiste, damit Rafa sie besser verschließen konnte. Alles wirkte reibungslos durchorganisiert und eingespielt.
Von außen betrachtet scheint Rafa nichts zu vermissen.
Hendrik traf ich zu später Stunde im Herrenhaus. Es war inzwischen dunkel und hatte zweimal geregnet, ohne wesentlich kühler zu werden.
Am Mittwoch erzählte mir Claire im "Zone", daß Lucy zu den Stammgästen des "Zone" gehört. Sie soll ein "Party-Mensch" sein, ohne nennenswerten Tiefgang und eigentlich ganz nett. Sie soll zu Claire gesagt haben, sie werde bei W.E erstmal weitermachen, weil sie Geld brauche.
Am Freitag nach Pfingsten war ich bei Ferry, der seinen 30. Geburtstag feierte. Ray erzählte, er habe mit Clara noch immer seine Schäferstündchen.
"Warum nicht", meinte ich, "hat sie eben zwei Männer, den einen füs Bett und den anderen fürs Renommé."
Marie-Julia und Nic planen Kinder. Marie-Julia war sich im letzten Herbst nicht sicher, ob sie dafür noch jung genug sei.
"Du bist gerade Anfang dreißig", führte ich ihr vor Augen. "Man kann Kinder kriegen, bis man weit über vierzig ist."
"Aber das ist doch schlecht, wenn Kinder so alte Eltern haben."
"Das ist ein Volksglaube, der in keiner Weise haltbar ist", widersprach ich. "Der Mensch ist ein Individuum, und man kann nicht alle Menschen über einen Kamm scheren. Außerdem ist das Lebensalter kein Kriterium für die Qualität der Erziehung. Junge und Ältere können gleichermaßen bei der Kindererziehung versagen."
Marie-Julia und Nic wollen ein Kind adoptieren, falls sie keine eigenen Kinder haben können.
Am Samstag war ich im "Read Only Memory". Edaín erzählte, sie habe meine E-Mail erhalten, jedoch noch nicht antworten können, da sie so viel im Studio gewesen sei. Sie hat mit dem Frontmann der Band Nichts eine Coverversion von deren Stück "Tango 2000" hergestellt, die Kappa jetzt auf ihr Bitten auflegte. Die Coverversion unterschied sich nicht wesentlich vom Original. Ich finde, daß Edaíns Stimme gut zu dem Stil dieses NDW-Stücks paßt.
Als ich Edaín erzählte, daß Denise besonders klare blaue Augen hat, berichtete sie, auch Maya habe zuerst blaue Augen gehabt.
"Ich habe mich gefreut: 'Mein Kind hat blaue Augen!' Aber als Maya ein halbes Jahr alt war, wurden die Augen auf einmal grün. Kappa hat blaue Augen, ich habe grüne. Da habe ich mich doch durchgesetzt."
Onno erzählte, daß er Rafa am Pfingstsonntag nachmittags draußen auf dem Festival-Hauptgelände in L. gesehen hat, mit Sonnenbrille. Rafa soll in Begleitung eines langhaarigen Mädchens gewesen sein und mit ihr irgendwo gesessen haben, um sich auszuruhen. Das Mädchen war vermutlich Berenice.
Im "Read Only Memory" sprach mich ein Junge an, Dean, der sich 1994 mit mir im "Nachtlicht" unterhalten hat. Er war damals mit Moonchild dort. Dean kennt Moonchild aus seiner Zeit in B. Moonchild soll aus Verhältnissen stammen, wo Kindesmißbrauch an der Tagesordnung ist. Sie soll diesem sozialen Hintergrund entflohen sein.
Dean erzählte, ihm habe schon früher mein Tanzstil gefallen, an dem er mich auch jetzt erkannt habe. Am liebsten wolle er mich in Gänze mitnehmen, aber vorerst wolle er sich mit meiner Internetpräsenz zufriedengeben. Er fragte mich nach meinem "Konservierungsgeheimnis".
"Vaseline und Talcumpuder", erzählte ich. "Und Verzicht auf Zigaretten und Alkohol. Und die Gene!"
Dean studiert Jura und möchte im nächsten Winter fertig werden. Seine kleine Schwester strebe gleichfalls eine Karriere in diesem Fachbereich an und werde es wohl bis zur Richterin bringen. Als Teenager habe sie zweimal wegen Schwarzfahren und zweimal wegen Bagatelldiebstählen vor Gericht erscheinen müssen, sei also "vorbelastet".
"Im Zentralregister hat sie nichts stehen", war ich sicher. "Von sowas nicht."
Bertine macht sich seit Monaten Sorgen um Giulietta. Sie wird von Giulietta als eine Art Tränenbecken verwendet und muß sich allerlei Klagen und Vorwürfe anhören. Bislang geht Bertine darauf ein und versucht, Giulietta mit sachlichen Argumenten davon zu überzeugen, daß sie nicht wertlos ist, nur weil sie keinen Mann hat. Giulietta denkt freilich gar nicht daran, sich überzeugen zu lassen. Im Gegenteil wirft sie Bertine vor, sie könne doch gar kein Verständnis für sie aufbringen, da sie in festen Händen sei. Ich versuchte Bertine zu vermitteln, daß Giulietta keineswegs beabsichtigt, ihre Haltung oder ihre Situation zu verändern. Hingegen genießt Giulietta es, wenn sie die Nerven und die Zeit anderer Leute beanspruchen kann, die ihr Aufmerksamkeit und Mitgefühl schenken. Sie nimmt alles in sich auf wie ein Faß ohne Boden und bleibt gegen jede Art der Entwicklung oder Veränderung immun. Bertine schien das jedoch nicht so recht zu begreifen. Ich riet ihr, Constri in dieser Sache zu befragen. Constri soll ihr von anderer Seite nochmals erklären, daß es keinen Sinn hat, Giuliettas selbstbemitleidende Haltung ändern zu wollen.
Giuliettas Verhalten ist in gewisser Weise entwertend. Sie bewertet ihr eigenes Leiden höher als das Leiden anderer. Das ist wohl auch der Grund, weshalb ich auf Giuliettas Klagen so wenig eingehe.
Im "Radiostern" erzählte mir Thorlev Rees, seine Freundin und er hätten sich getrennt.
"Das war doch klar", meinte ich. "Das habe ich mir doch gleich gedacht."
Ohne ein Wort marschierte Reesli davon und wirkte schwer gekränkt.
Osiris bestätigte meine Vermutung, daß die Trennung von Reeslis Freundin ausging.
"Reesli merkt nicht, was für Bedürfnisse andere Menschen haben", sagte ich zu Osiris, der wissend nickte. "Der lebt nur für sich in seiner eigenen bizarren Welt. Damit ist er hier in der Szene bestens aufgehoben."
"Weil hier noch mehr so sind."
"Eben. Reesli versucht nicht, vorsätzlich anderen Menschen zu schaden. Er nimmt nur andere Menschen einfach nicht wahr. Er wollte mal eine Psychotherapie machen, konnte aber kein Ziel benennen, das er durch diese Therapie erreichen wollte. Damit wäre eine Psychotherapie sinnlos. Ich würde ihn am ehesten so betrachten, daß er einfach so ist, wie er ist, und gut."
Mit Timon und Norman unterhielt ich mich auch über Reesli.
"Der ankert nicht in der Welt", meinte ich. "Er weiß gar nicht, was er hier auf Erden überhaupt soll."
Timon befürchtete, eines Tages auch so herumzuirren wie Reesli, wenn er sich zu lange mit ihm befaßte. Ich versicherte, daß ein sonderbares Wesen nicht ansteckend ist. Mir ist es sehr recht, daß es Leute gibt, die sich um Reesli kümmern und wissen wollen, wie es ihm geht.
Cyra war nicht im "Radiostern", weil sie eine Freundin zum 30. Geburtstag besuchte. DJ Unix gelang es, ein ähnlich tanzbares Programm zu bringen wie Cyra. Unter anderem spielte er "Roter Schnee", mein Lieblingslied von Feindflug.
Mitte Juni lief im Fernsehen auf dem Sparten-Kanal "Onyx" Rafas Video zu "1000 weiße Lilien". Dieses Video wirkt auf mich recht professionell, recht anspruchsvoll. Rafa und Berenice geben das verliebte Paar. Sie muß sich mit fassungsloser Miene von einem Hellseher Schlimmes voraussagen lassen. Kurz danach wird sie von Rafa auf einer Straße mit einer Super 8-Kamera gefilmt und dabei von einem 50er-Jahre-Oldtimer überfahren. Rafa beugt sich über sie und nimmt in der nächsten Einstellung mit Grabkränzen Abschied. Dann sieht man ihn unrasiert und mit Fensterglas-Brille vorm C64 sitzen, und er versucht, diesem Gerät das Geheimnis zu entlocken, wie er seine tote Braut zurückholen kann. Analog der Geschwindigkeit des Rechners dauert das, bis Rafa ein alter Mann ist. In einer Nacht gräbt er die halb verweste Berenice wieder aus. Bewaffnet mit diversen Chemikalien und Infusionsbestecken macht er sich ans Werk, und schließlich schlägt Berenice frisch, jung und lebendig die Augen auf. Das Paar küßt sich innig, und in der Umarmung stößt Berenice ihrem alt gewordenen Rafa eine Giftspritze in den Rücken. Man sieht ihn zu Boden fallen. In der nächsten Einstellung turtelt Berenice mit einem anderen Mann draußen in der Natur herum. Donner und Blitz grollen vom Himmel, und ein Oldtimer rast auf dieses neu verbundene Paar zu. Berenice sieht, wie die schlimme Weissagung sich erfüllt, und gibt Schreckenslaute von sich.
Der Film überzeugt den Zuschauer, der die Hintergründe nicht kennt, daß Rafa und Berenice ein innig verliebtes Paar sind. Wenn einer der beiden je die Treue bricht, dann ist es nicht Rafa, der seine Braut bis über den Tod hinaus liebt, sondern Berenice, der er eines Tages nicht mehr gut genug ist. Rafa ist seiner Freundin in tiefer Verehrung ergeben, so stellt er es zumindest dar.
Rafa berichtet in dem Forum auf seiner Homepage stolz über die Fernsehausstrahlung seines Videos und vermeldet, daß "1000 weiße Lilien" Platz 7 in den DAC erreicht habe.
"Alle Zeichen stehen auf START", fügt er hinzu. "W.E lebt und sendet wie nie zuvor ... auch ohne Gesichtsverlust. VIELEN DANK!!! Es wird immer weitergehen ... Musik als Träger von Ideen!"
Als "virtual-structure.de" schrieb ich dazu:
"Wie kommst du denn auf Gesichtsverlust? Weshalb solltest du denn dein Gesicht verlieren?"
Rafa erwiderte nichts darauf. Auch kündigte er bislang keinen neuen Chat an.
In einem Online-Magazin gibt es eine Rezension zu der MCD "Nur tote Frauen sind schön":

Warnung! Es folgt eine lautmalerische Beschreibung der 'Musik':) Fiep-piep-plopp-popp-poing-umpf-bumm-bummpf-knarz - (dazu:) Lalalala-Tralala-Trulala. Und alle singen mit:
"Tausend weiße Lilien blühen - tausend Mal denk ich an dich - tausend wundervolle Leben warten nur auf dich - tausend Mal will ich dich spüren - tausend Mal werd ich verrückt - tausend Mal für meine Liebe hol ich dich zurück!"
Willkommen bei "W.E"! Hier gibt es einmal mehr das Leidigste der Vergangenheit wiederaufbereitet für die Gegenwart. Garantiert exklusiv und unverhofft.
Dass solche Musik mit derartigen textlichen Dreingaben einmal entstehen konnte oder dass es sie nun - mitsamt Publikum - wieder gibt: Es fragt sich, was mehr verwundern soll? Zumindest partiell muss der Zeitgeist gestört sein, wenn er sich so schamlos selbst zitiert. Die 80er mit ihrem Elektro-Pop - in verdrängenswertester Ausprägung als deutscher NDW-Schlagerschmunz - waren sicherlich eine der fatalsten Geschmacksverdunkelungen seit der Entstehung des Kulturmülls (frei nach Adorno): Die "Künstler" - überwiegend schwarzgewandete - und bebrillte, frisurenfeindliche Männchen in Neonlicht - waren so besessen davon, ein modernes Lebensgefühl zu besitzen und es allen vorzuführen, dass ihnen der schiere Treppenwitz-Charakter ihres Verhaltens gänzlich verborgen blieb.
Bei DAF, Ideal, Kraftwerk usw. mag die Gesellschaftskritik in ihrer künstlerischen Attitüde, vermischt mit kindlicher Naivität, wenigstens noch einen Restanteil Charme gehabt haben. Bei "W.E" handelt es sich lediglich um eine Imitation ("Hommage" wäre zu euphemistisch), in der Stilmittel, aus ihrem Zeit- und Sinnkontext gerissen, letztlich ausgehöhlt werden. Und so kabbelt sich penetrantes C64-Pacman-Soundgefiepe mit lyrisch wie humoristisch schlicht indiskutabler Meinungsäußerung ("Ich schau sie an - sie schaffen nichts - fressen, saufen, stören mich - und denken noch dabei, die Krone der Schöpfung zu sein ..."). Letzteres auch noch passions-, da stimmlos vorgetragen.
Eine beruhigende These zum Schluss: die Gesellschaft im Jahre 2003 ist ohne Zweifel in perfekter Verfassung, wenn die "künstlerische" Gegenwelt zu ihr so klingt wie "Nur tote Frauen sind schön".

Wahrscheinlich ohne es zu wissen, spricht der Rezensent eines der heikelsten Themen in Rafas Leben an, nämlich die Bereitschaft, einer festen und ausreichend einträglichen Arbeit nachzugehen und damit das eigene Leben auf eine gesicherte Basis zu stellen.
Rafas Fans zeigen sich in seinem Forum überwiegend begeistert von dem neuen Tonträger. Einige äußern vorsichtige Kritik, andere schwelgen in Lobeshymnen, wie Divina:

Danke für eure Lieder, die kreisen in meinen Gedanken.
Danke für das Niederreißen von Zwängen und Schranken.
Danke für den Rhythmus, der pulsiert in meinem Blut.
Danke für das Auffangen meiner grenzenlosen Wut.
Danke für das Sagen aller Wahrheiten.
Danke für das Zeigen jeder Möglichkeiten.
Danke dafür, dass ihr mir neue Träume schenkt.
Danke dafür, dass ihr meine Wünsche lenkt.

Ihr Gedicht endet mit:

Ihr seid mein Gott!

Fan "Wizard" schreibt gar:

Ohne W.E kann ich nicht mehr leben!

Zu Divinas Gedicht fällt mir ein, daß Rafa ihr durch seine Musik etwas vermittelt, an dem es ihm selbst mangelt: Offenheit, Aufrichtigkeit, Mut, Hingabe, Hoffnung ... Von Rafas Mängeln wird Divina freilich nichts ahnen.
Am Freitag gab Cyra eine Industrial-Tanzveranstaltung im "Reentry", hinten im Backstage, das als Location ausgebaut ist. Dort gab es auch Neues von Sonar zu hören, rhythmischer und tanzbarer als je zuvor.
Weil ich von Nahtanz nicht viel halte - Rafa als Partner ausgenommen -, begnügte sich Reesli damit, eine Lichtsäule auf der Tanzfläche zu umschmeicheln und zu umarmen. Cyras Freund Maurice tanzte selten. Kürzlich war Cyra mit ihm im Thüringen, wo seine Eltern leben. Sie haben Wanderungen gemacht.
Cielle warf sich vor, Ginet eine SMS geschickt zu haben. Sie fragte ihn, weshalb er sie von einem Tag zum anderen verlassen habe. Ginet antwortete ausweichend.
Als ein Betrunkener mich auf der Tanzfläche belästigte, kamen mir mehrere Leute zur Hilfe. Cyra sorgte dafür, daß der Betrunkene im "Reentry" Hausverbot bekam.
In der Nähe des Eingangs gibt es im "Reentry" einen Bonbonautomaten für den kleinen Hunger. Als ich den Automaten bestaunte, sprach mich ein Gast der parallel laufenden Veranstaltung in der Main Hall an, der Ron heißt. Er meinte, ihm gefalle mein Aussehen so gut, vor allem meine Figur. Strumpfhosen habe er nicht so gern. Ich entgegnete, daß man einen kurzen, weiten Taftrock, wie ich ihn trug, nur mit Strumpfhosen anziehen könne, sonst würde es unmöglich aussehen.
"Das habe ich mir noch gar nicht bewußt gemacht", sagte Ron.
Er ist vierunddreißig Jahre alt und lebt in BS. Er erzählte, er stamme "aus der Gosse". Sollte dies der Fall sein, so schien er seine unglückliche Herkunft überwunden zu haben; er wirkte brav und anständig.
Ron gab mir Afri-Cola aus und klagte, im "Reentry" würden so viele unreife Teenager herumlaufen, daß er sich oft fehl am Platz fühle. Ich nahm ihn mit ins Backstage und sagte ihm, hier sei das Publikum deutlich älter.
Am Samstag war ich in der "Lagerhalle", wo es eine Veranstaltung mit Cyra und Josh gab. Besonders tanzbar fand ich "Moaner" von Underworld und "Plasticity" von Frontline Assembly.
Cyber war mit Sheryl und einer ihrer Freundinnen da. Als ich Cyber erzählte, daß Constri und Derek verheiratet sind und eine Tochter haben, war er aufs Höchste erstaunt. Er sei mit Derek gemeinsam konfirmiert worden, er kenne ihn seit der Kindheit, und jetzt sei Derek mein Schwager - die Welt sei doch klein. Cyber erkundigte sich, wo Constri und Derek sich kennengelernt haben.
"Damals hast du doch im 'Read Only Memory' immer die Techno-Wave-Parties gemacht", erinnerte ich an seine DJ-Sets, "und im Herbst 1992 sind Panic on the Titanic da aufgetreten. Auf dieser Party hat Derek Constri zum ersten Mal entdeckt und festgestellt:
'Das ist die Frau aus meinen Träumen.'
Wir wußten davon nichts. Ende 1992 haben wir Derek in unseren Freundeskreis hineingezogen. Erst ein Jahr, nachdem er sich in Constri verliebt hat, hat er ihr seine Liebe gestanden. Seit 1993 sind sie zusammen, 2002 haben sie geheiratet."
"Und dann haben sie sich auch noch auf meiner Party kennengelernt", staunte Cyber.
Cielle erzählte mir, daß sie noch mehr von Ginet enttäuscht sei als bisher. Er habe ihr heute in der "Lagerhalle" kaum Beachtung geschenkt.
An Donar mailte ich, daß ich versuche, mir Ivo Fechtner im Dirndl vorzustellen. Donar antwortete:

Das hat er dann am Obersalzberg ausgegraben!
Aber ... so fett, wie er nun einmal ist, dem passt keine normale Hose von der Stange, er muß alles beim Schneider ändern lassen.

Ähnlich äußerte sich Donar über Ghislaine von Byzanz:

Die übertrifft alles, was der Begriff "fett" hergibt. Noch nie habe ich eine dickere Frau gesehen. Ein Mann allein kann die nicht tragen! Naiv ist die noch dazu, das ist nicht zu ertragen! Die realisiert überhaupt nicht, mit wem sie da zusammen ist! Dass Antifa und Polizei Ivo Fechtners ständige Begleiter sind!

Donar möchte Ivo Fechtner vergessen, doch ganz gelungen ist ihm das noch nicht. Er möchte "kreativ sein trotz Fechtner" und arbeitet an einem neuen Projekt:
"Die Freß-Sch...-Maschine. Eine industrielle Oper über des Menschen Wandlung zur Maschine."
Im Dienst habe ich mit zwei Nachtpflegern geplaudert, die mir Tee anboten. Der eine fragte mich, wie es für mich sei, Tante zu sein.
"Ich liebe dieses Kind", erzählte ich von Denise. "Und ich muß sie alle paar Tage sehen, um auch wirklich zu glauben, daß es sie gibt."
Als wir auf meinen Wunsch nach einer eigenen Familie zu sprechen kamen, erzählte ich einige Streiflichter aus den seltsamen Begegnungen zwischen Rafa und mir.
"Was zwischen uns passiert an spannungsreicher Action, passiert in mancher zwanzigjährigen Ehe nicht", meinte ich. "Ich brauche mich also gar nicht so sehr zu beklagen."
Victoire schrieb mir eine E-Mail:

Ich hab gerade etwas Leerlauf im Labor und beschloß, endlich mal anzufangen, deine Geschichte zu lesen:
Großes Kompliment!!! Echt Klasse, deine Seite. Ich wollte eigentlich nur mal kurz reinschauen, bin jetzt aber so begeistert, dass ich mich schon eine halbe Stunde festgelesen habe und heute abend gleich weiterlesen will. Echt spitze!! Richtig professionell!!
Und wie hat Dir noch L. gefallen? Wie war es dann bei W.E? Warst du so enttaeuscht wie befuerchtet?
Tja, bei mir war es nicht mehr so prickelnd: Ich hatte etwas Stress mit den anderen aus FR. und war deshalb ziemlich enttaeuscht.

Ich antwortete:

Das freut mich, daß dir die Story gefällt. Ich versuche demnächst, endlich das 22. Kapitel fertigzukriegen.

Ich erzählte von Rafas Konzert und verabredete mit Victoire ein Treffen in E., wo sie demnächst arbeiten wird. Ich schlug vor, das Treffen so zu legen, daß Shara dann gerade bei ihr zu Besuch war.
Darien und Dera haben ihre Internetpräsenz wieder erweitert. Die beiden stellen sich als Sonne und Mond dar - Dera als Sonne, Darien als Mond. In Dariens Selbstportrait klingt die Auseinandersetzung mit seiner Krankheit durch:

... erst wenn die Zeit vermeintlich kürzer ist, als wir denken, und unser Geist mit dem Körper nicht erreichen kann, was wir wollen, dann stellen sich Zeit und Gesundheit als kostbarstes Gut dar, das wir besitzen, die verbleibende Zeit sinnvoll zu nutzen, das ist mein grösster Wunsch, für das, was wir lieben ...

Dera schreibt über sich selbst gelassen und optimistisch:

... wenn jemand beim Betrachten meiner Bilder für einen Augenblick seinem Alltag entflieht, wenn er sich in ihnen bewegen kann, Empfindungen dabei wahrnimmt und sich für ihn die Grenze zwischen Unmöglichkeit und Realität verschiebt - dann habe ich mein Ziel erreicht ...

Auf der Internetpräsenz gibt es eine neue Rubrik, "No Function", deren Symbol das Piktogramm einer Abfalltonne ist und die farblich in dem Orange und Schwarz von Müllwagen gehalten ist. Unter "Realcycling" beschreibt Darien eine bedrückende Innenschau:

... wie oft, wie schnell, wie konsequent man die Orientierung verliert, mein Kopf dreht sich, unzählige Gedankenfenster sind geöffnet, der Versuch, den Wegen nachzugehn, lässt mich im Dunkel versinken, im Jetzt, im Nichts einfach stecken, kann mich an nichts erinnern ... wo ist das Licht??? Ein möglicher Ausweg, nichts wollen, nichts müssen ...

Hoffnung wächst für ihn in der Gemeinschaft mit anderen, vor allem mit Dera:

... es gibt einen Unterschied, es ist unser Weg, es sind unsere Gedanken und Gefühle, die dieses System mit Informationen füllen, die Auseinandersetzung damit lässt in uns Erkenntnisse erwachsen, so ist es kein reines "CopyAndPaste", es erhitzt den Geist und das Gemüt, der Nebeneffekt ist, was zählt ...

In der Rubrik "No Function" gibt es Listen mit philosophischer Literatur und Dariens Lieblingsfilmen, darunter "Koyaanisqatsi". Auch religiöse Inhalte finden sich, etwa eine Anleitung zum Beten eines Rosenkranzes. Und es gibt gesammelte Informationen und Links zum Thema Multiple Sklerose. Darien leidet insofern unter seiner Krankheit, als er besonders anfällig ist für Streß und seine Augen rasch ermüden.
Am Mittwoch war ich mit Claudius im "Zone". Er erzählte von einem Bekannten namens Laris, der Rafa seit der Kindheit kennt und mit ihm zur Schule gegangen ist. Von Laris hat er gehört, daß Rafa früher Ballettunterricht hatte.
"Das kann durchaus sein", meinte ich. "Rafa hat eine besonders elegante Körperhaltung."
Über Rafas neues Video zu "1000 weiße Lilien" sagte Claudius:
"Schlecht."
Die szenischen Filmsequenzen gefallen Claudius, jedoch das Gewinke und Gewedel der Bandfrauen in den Zwischenschnitten findet er furchbar albern; der Meinung konnte ich mich anschließen.
Im "Zone"-Café fand ich Les. Ich half ihm, seinen Kaffee auszutrinken.
Ted berichtete am Telefon, daß er Marvin vor einigen Tagen angerufen hat, und Marvin soll dankbar gewirkt haben und immer mehr aufgetaut sein. Es soll fast wieder so ein vertrautes Verhältnis entstanden sein wie früher. Marvin erzählte, daß er mehrere Chemotherapie-Zyklen bekommt und zwischendurch nach Hause darf. Was für ein Tumor es ist, weiß er immer noch nicht; ihm sei aber mitgeteilt worden, daß man davon ausgehe, Ende des Jahres werde er weitgehend gesund sein.
"Der wird nie ganz geheilt sein", vermutete ich. "Der kann viele Jahre lang Ruhe haben, aber es kann immer eines Tages wieder losgehen. Marvin sollte die Zeit, die ihm bleibt, sehr bewußt leben. Vor allem sollte er alles vermeiden, was sein Immunsystem schwächt - Streß, Schichtarbeit, hohe Arbeitsbelastung."
"Das ist es ja, Marvin neigt immer dazu, sich zuviel abzuverlangen."
"Dann ist es jetzt deine Aufgabe, ihm beizubringen, Streß zu vermeiden. Es ist deine Aufgabe, ihm zu helfen, sein Leben zu verlängern."
"Das Eis ist gebrochen", hofft Ted, "und das Eis war vor allem Angst."
Ted vermutet, daß Marvin sich schämt, weil er Ted, seinen engsten Freund, über Jahre von sich gestoßen hat.
Die Fabrikhallen, die Ted gemietet hat, wollen sein Bruder Dan und er jetzt gemeinsam nutzen, um sich im Krankheitsfall gegenseitig vertreten zu können. Dans schwere Krankheit hat Ted und Dan näher zusammengebracht.
Ted glaubt, daß Rafa vor mir unter anderem deshalb Angst hat, weil ich ihm gleichrangig gegenübertrete:
"Frauen sind für ihn sonst nur Beiwerk. Mit ihm redet keine so wie du. Du hast eine besondere Rolle in seinem Leben."
Saara erzählte von ihrem Freund Justin, der ihr seinen Sportwagen leiht und ihr eine Rolex-Uhr geschenkt hat.
"Dieser Angeber", lästerte ich. "Sowas Überflüssiges wie eine Rolex-Uhr! So richtig zum Verlieren und Klauen-Lassen."
"Svenson ist doch nie in die Puschen gekommen. Der hat doch nie was aus sich gemacht."
"Svenson hat nicht so eine Angeber-Karriere gemacht wie Justin. Der verdient genug, um seine Miete zu bezahlen und sich dann und wann ein Designer-Stück leisten zu können, das war's, mehr braucht der nicht."
Ich erzählte, wie Svenson klagte, Saara sei häufig ungerechtfertigt eifersüchtig gewesen. Sie berichtete, Justin sei auch sehr eifersüchtig.
"Dem Justin geht's nur um ihn selbst", meinte ich. "Der will dich allezeit ganz zu seiner Verfügung haben. Der sieht nicht dich, die Saara. Der findet dich nur äußerlich toll und verziert dich mit Statussymbolen, wie ein Objekt. Für dich ist das schmeichelhaft, aber eines Tages kommt die Ernüchterung. Das ist eine Erfahrung, die mußt du jetzt einfach machen. Dann weißt du auch, wie es ist, wenn dich jemand mit seiner Eifersucht einengt."
Constri erzählte, daß Derek behauptet hat, er habe den Hund Flex für zwei Euro verkauft. In Wirklichkeit war Flex nur vorübergehend draußen abhandengekommen und tauchte schon bald wieder auf.
Derek ist ohne Führerschein gefahren und muß jetzt Bußgeld zahlen. Constri hat den Wagenschlüssel an ihren Schlüsselbund gehängt und Derek untersagt, sich den Schlüssel zu nehmen.
Nach diesen Ereignissen gab es eine Gerichtsverhandlung in einer Unterhaltssache. Als Derek siebzehn war, wurde seine damalige Freundin schwanger. Er erkannte das Kind als sein eigenes an und ist deshalb unterhaltspflichtig. Die frühere Freundin ist längst anderweitig in festen Händen, und sie soll gutsituiert sein. Dennoch macht ihr Anwalt gegenüber Derek ihre Forderungen geltend. Dieses Mal ging es auch wieder um Zahlungen für das inzwischen fünfzehnjährige Kind. Constri und Derek nahmen Denise mit in die Verhandlung im Amtsgericht in SHG. Der Richter soll, als er das Baby sah, wesentlich freundlicher geworden sein, als er bisher war.
Aus Freude wurde Derek sogleich übermütig. Kurz nachdem sie wieder zu Hause waren, vermißte Constri ihren Schlüsselbund. Derek war "nur mal eben" draußen und kam verdächtig spät zurück. Unter dem T-Shirt versteckte er Videos, die er sich ausgeliehen hatte. Constri sagte ihm auf den Kopf zu, daß er schon wieder mit dem Auto gefahren war - zur Videothek.
"Du hast eben einen dummen Jungen geheiratet", rechtfertigte Derek sich trotzig. "Ich brauch' das manchmal. Ich muß ausbrechen und Blödsinn machen."
Am Samstag war ich in der "Neuen Sachlichkeit". Im Eingangsbereich empfing die Gäste ein schräg hochgestellter Sarg, bedeckt mit Rosenblättern, eingerahmt von brennenden Kerzen. Drinnen ging ich auf die Empore und blickte in den Saal. An der Decke waren zwei Schaufensterpuppen aufgeknüpft, ohne Arme, ohne Haare, ohne Kleidung. Eine hing in der Mitte, eine weiter weg vor einem Fenster. Auf der Bühne jonglierte ein Pärchen in knapper schwarzer Garderobe mit Stöcken, deren Enden in lodernde Fackeln ausliefen. Sie trug ein Bustier und ein Röckchen, er trug ein Höschen.
"Das ist eine Vorstellung, davon kann man gute Laune bekommen", dachte ich.
Abraxas stand im schwarzen Lack-Kilt am DJ-Pult. Er konnte nicht fassen, daß mir die Party gefiel. Er schien nicht die beste Laune zu haben.
Weil auch in der Nacht so heißes Sommerwetter war, stand draußen im Hof ein Grill. Dort gab es Würstchen zu kaufen.
Saverio trug einen Kunsthaarzopf und hatte sich eine Schweißerbrille wie einen Haarreif aufgesetzt, ein vor allem in der "Industrial-Fraktion" beliebter Look. Er trug ein weißes Hemd mit Binder, ein reaktionärer Kontrast zum avantgardistisch-androgynen Kopfputz.
"Die Show gefällt mir nicht", maulte er über die Feuerkünstler. "Die hat nichts Martialisches. Da werden keine amerikanischen Fahnen verbrannt, da ist nichts Faschistisches."
Nach wie vor dekorierte Saverio sich mit rechtsradikaler Attitüde. Er setzte noch eins drauf, als ich ihn fragte, ob er Claudius gesehen habe.
"Nee, habe ich nicht gesehen", antwortete er, "Leute unter eins-sechzig sehe ich grundsätzlich nicht."
Claudius erschien kurz darauf, und Saverio unterhielt sich angeregt mit ihm.
"Da haben wir es mal wieder", dachte ich. "Saverio macht einen auf Nazi und Minderheiten-Hasser, und in seinem Verhalten ist er das Gegenteil. Nur wird er ganz leicht mißverstanden, wenn er seine Sprüche macht. Er kann sich mal eine Menge Ärger einhandeln."
Über Carl sagte Saverio, er wisse nicht, ob dieser mit ihm reden wolle. Beim letzten gemeinsamen Kaffeetrinken sei Carl ihm etwas reserviert vorgekommen. Nun liegt das auch schon lange zurück ...
Wendelin meinte, ich würde immer schick aussehen, wie auch jetzt. Wendelin trägt wildere, buntere Kleidung als früher; das hat etwas damit zu tun, daß er die Goa-Parties mit ihren Soundteppichen und ihrem Hippie-Flair für sich entdeckt hat.
Morris erzählte, daß es wegen seiner Meerschweinchenzucht schwierig sei, Arbeit und eine Frau zu finden. Er lebt zur Zeit in drei Wohnungen; eine hat er im Haus seiner Mutter, eine will er untervermieten.
Madeleine fragte mich, warum ich Rafa nicht aufgebe.
"Also, wenn ich so lange auf jemanden warten würde, dann würde ich den doch in den Wind schießen", meinte sie.
"Rafas Fehler sehe ich", entgegnete ich, "ich akzeptiere sie nicht, ich nehme sie nicht hin."
"Der hat aber doch gezeigt, daß er sich nicht ändert."
"Wenn er tot wäre, würde sich nichts ändern."
Dann wäre ich sicher, daß sich nichts ändert. Solange Rafa aber lebt, sehe ich rein physikalisch die Möglichkeit einer wie auch immer gearteten Entwicklung.
Ein Mädchen bat mich, Dominiks Witwe Ina von mir zu grüßen. Sie sei zusammen mit Ina in der psychiatrischen Tagesklinik gewesen. Ina hat mir am Telefon erzählt, ihr habe es in der Tagesklinik gut gefallen. Sie sei sich selbst und den anderen Menschen nähergekommen. Ina lebt seit dem Tod ihres Mannes sehr zurückgezogen und kümmert sich fast nur um ihre drei Katzen. Die Ansage auf ihren Anrufbeantworter beginnt mit:
"Willkommen im Katzenparadies!"
Diese selbstgewählte Einsamkeit führte zu Depressionen.
Am Montag machte ich mit Beatrice einen Spaziergang zu einem abgelegenen Waldfriedhof aus dem 19. Jahrhundert. Er liegt am Hang und hat niedrige efeuüberrankte Begrenzungsmauern in Bruchsteinbauweise. Die offene, wie zufällige Anordnung der Mauerstücke, die zum Teil Fensteröffnungen haben, läßt an eine antike Kultstätte denken. Es gibt auch eine Altarnische, mit dem Abdruck eines Kreuzes. Eines der neueren Gräber war frisch bepflanzt. Es stammt aus der Mitte des 20. Jahrhunderts.
Beatrice und ich fotografierten uns gegenseitig. Wir ließen uns von dem leichten Regen nicht hindern.
Nach unserem Ausflug gingen wir in der Stadt essen. Beatrice erzählte, daß Miles, der kürzlich mitgeteilt hatte, er werde sich nun endlich von ihr scheiden lassen, diesbezüglich weiter nichts unternommen hat. Der verheiratete Timothy, der Beatrice zum Jahreswechsel glühend umworben, zwischenzeitlich abweisend behandelt und dann übers Internet um eine neue Chance angefleht hat, ist Beatrice vor Kurzem wieder begegnet. Als Beatrice beim Mittagessen in der Kantine saß, ging er an ihrem Tisch vorbei, schaute erst, weil er sie mit rotgetönten und nicht mit blondierten Haaren kannte, und grüßte sie dann erwartungsvoll. Beatrice erwiderte den Gruß, blieb aber kurz angebunden. Später mailte sie ihm, es tue ihr leid, daß sie nicht länger mit ihm habe reden können, aber sie habe so wenig Zeit gehabt, daß es ihr unmöglich gewesen sei. So hatte er ihr zum Jahreswechsel auch sein abweisendes Verhalten ihr gegenüber begründet.
Zu Lessa hat Beatrice keinen Kontakt mehr. Es liege daran, daß für Lessa das Posten in Internet-Foren wichtiger geworden sei als ihre Freundschaft mit Beatrice.
Beatrice erkundigte sich, wie ich es mit Beziehungen halte für den Fall, daß ich mit Rafa nie zusammenkomme. Ich erklärte ihr, daß ich nicht den Wunsch habe, mit einem anderen Mann etwas anzufangen. Der Verzicht auf eine andere Beziehung erfolgt also nicht aus Rücksicht auf Rafa, sondern aus meinem eigenen Wunsch heraus.
"So ein bißchen was von dir hätt' ich manchmal auch gern", überlegte Beatrice. "So ganz bißchen was ..."
Beatrice erzählte, wie sie als Teenager fast jede Art von Drogen probiert hat, um am Ende nur von einem Suchtmittel abhängig zu werden - Zigaretten. Über Kokain sagt sie, das mache die Welt grellbunt, man sei überwach und spüre jede Wahrnehmung intensiver. Heroin dämpfe die Wahrnehmung, die Welt fühle sich an wie Samt und färbe sich in Pastelltönen.
Victoire schrieb mir eine E-Mail:

Deine Story ist echt so klasse. Ich hab sie meiner Freundin vom Bodensee weiterempfohlen, und sie ist auch so begeistert. Sie meinte, du solltest schauen, dass du sie richtig veroeffentlichen kannst. Du schreibst so schoen anschaulich und gefuehlvoll. Sie sagte dann auch gleich, dass ein Taschenbuchverlag gerade Manuskripte sucht, um sie zu veroeffentlichen - Geschichten aus dem Leben. Waere das nichts fuer Dich?
Wie lange schreibst du jetzt schon an der Geschichte? Hast Du gleich am Anfang eures Kennenlernens angefangen, Dir alles zu notieren, oder erst spaeter?
Der Sockenschuss waer mir auch super unheimlich.

Ich antwortete:

Ein Grund, warum ich bisher gar nicht mit dem Gedanken gespielt habe, die Story "Im Netz" zu einem Verlag zu schicken, liegt darin, daß die immer nur Manuskripte wollen, die in deren Konzept passen - das Design will der Verlag bestimmen, die Länge auch, und die "typische" Länge von Romanmanuskripten liegt ungefähr bei 200 Seiten. "Im Netz" ist aber wie eine Seifenoper auf Unendlichkeit konzipiert und hat bereits jetzt eine geschätzte Länge von 2000 Seiten, je nach Schriftgröße und Layout. Außerdem stammt das Design komplett von mir, d. h. auch Seitenhintergrund und Illustrationen. Wenn dieses Produkt überhaupt in ein verkaufsfähiges und dennoch handhabbares Format verwandelt werden kann, dann nur als Datenträger! Ich möchte nämlich, daß man sich auch bei einem verkaufbaren Produkt "durchklicken" kann. Das heißt, ich würde dem Verlag nicht nur Länge und Design vorschreiben wollen, sondern auch das Medium. Und das läßt kein Verlag mit sich machen, da winken die nur müde ab. Mein Produkt paßt nicht in irgendein Raster, es ist wirklich innovativ, und das interessiert nur die Kunden, nicht aber die Verlage. Die wollen was Konventionelles, wo sie den Gewinn schon vorher berechnen können. Und was ist konventionell in der Belletristik? Entweder sind es Produkte von Literaturfossilien, die das 70. Lebensjahr schon hinter sich haben, oder es sind Importe aus Great Britain oder den USA oder irgendwas Exotisches. Wenn deutsche Autoren unter 70 hier irgendwas verkaufen können, dann sind es alberne Egomanen wie Benny von Schwungrad-Barracke. Die Frage nach der Qualität interessiert auf dem deutschen Literaturmarkt nicht. Es ist kein Kriterium dafür, ein Manuskript anzunehmen. Erstens fühlen sich die Lektoren gekränkt, weil da jemand viel besser schreibt als sie, die meistens "verhinderte Dichter" sind. Zweitens suchen sie nicht nach Qualität, sondern nach äußeren Kriterien (kommt's aus den USA? Wenn nicht, vergiß es etc.). Ich wage zu vermuten, daß viele Lektoren die eingereichten Manuskripte noch nicht mal lesen!!!
Wie "Im Netz" entstanden ist?
Als ich angefangen habe, "Im Netz" zu schreiben, habe ich das automatisch gemacht, am 02.02.1993, einige Stunden, nachdem mir bewußt geworden war, daß ich Rafa liebe. Damals kannte ich ihn seit vier Wochen persönlich.
Es ging mir zuerst nur darum, nichts von dem zu vergessen, was wir jemals miteinander erlebt haben. Alles mußte notiert werden. Niemals vorher habe ich eine solche Arbeit gemacht wegen eines Menschen, niemals vorher hat mich ein menschliches Wesen so interessiert. Daran habe ich auch gemerkt, wie wichtig Rafa mir ist - genauso wichtig, wie ich mir selbst bin. Ich habe gefühlt, daß ich mir selbst durch ihn näherkomme und mich nur durch ihn wirklich erreiche. Das geht ihm wahrscheinlich genauso im Bezug auf mich. Und das will er wahrscheinlich nicht. Ich glaube, Rafa will nicht an sich herankommen.
Im Frühjahr 1993, als ich schon sehr viel über Rafa geschrieben hatte, stellte ich mir die Frage, was ich damit anfange. An dem Roman "Wirklichkeit" arbeitete ich schon seit 1977, und mir fehlten Anfang und Ende und die 2. Hauptfigur. Als ich mit meinen Notizen über Rafa begonnen hatte, legte ich die "Wirklichkeit" automatisch komplett auf Eis. Ich beschloß, die Aufzeichnungen über Rafa in ein literarisches Produkt zu verwandeln. Die Veröffentlichung übers Internet ist ein einfacher, gut steuerbarer Weg; man hat das gesamte Konzept immer in der eigenen Hand. Und weil ich aus Literaturworkshops wußte, daß man in Deutschland zur Zeit nichts veröffentlichen kann - aus obengenannten Gründen -, verabschiedete ich mich von dieser Vorstellung und zog mein eigenes Konzept auf. Im Selbstverlag bringe ich nie etwas heraus, das darf man in der Literaturwelt nicht, das ist eine Todsünde, also würde ich ein Musiklabel wählen und auf Datenträgern veröffentlichen, wenn der Bekanntheitsgrad von "Im Netz" groß genug ist.
Von 1998 bis 2002 schrieb sich die "Wirklichkeit" wie von selbst fertig, aus einem Guß, denn ich hatte ja endlich die 2. Hauptfigur gefunden, die eigentliche Hauptfigur. Rafa paßte genau in die Lücke wie ein Puzzleteilchen ins Puzzle, deshalb wurde die "Wirklichkeit" so ganz nebenbei fertig.

Anfang Juli gab Constri ein Geburtstags-Damenkränzchen - erst jetzt, weil sie vorher wegen ihres Kindes nicht die Zeit fand.
Elaine hatte ein Handtäschchen voller Barbies dabei. Ich nahm Elaines sprechende 29-cm-Puppe, die Sätze von sich gibt wie:
"Hippe Schuhe sind voll geil!"
Mit Elaine und der Puppe ging ich in Dereks Zimmer und gab ihm beides. Er versampelte die Puppenstimme, und Elaine drehte eifrig an den Reglern. Derek nahm mit ihr drei Stücke auf und brannte sie auf CD. In allen Stücken ist Elaines Stimme verzerrt, im dritten spricht sie mit "Monsterstimme". Im Hintergrund hört man die Puppe krächzen.
Nachts war ich mit Derek bei "Stahlwerk". Darien erzählte, daß es Dera gut geht, die Schwangerschaft mache es ihr aber schon beschwerlich, weil das Kind sehr groß sei.
"Passend zu dir", deutete ich. "Denise ist auch sehr groß, passend zu Derek. Habt ihr euch denn schon Namen überlegt?"
"Ach, wir lassen uns inspirieren."
Ich erkundigte mich, wie Dariens Psychotherapie läuft.
"Man erhält viele Einblicke", erzählte Darien.
"Was hat eigentlich bei dir diese Kehrtwendung ausgelöst, vom Workaholic zum nachdenklichen Menschen, der lebt?"
"Also, einmal war's die Krankheit ... und dann die Abtreibung meiner Ex-Freundin."
Die konfliktreiche Beziehung zu dieser Freundin lief von 1999 bis 2001, eher locker und mit vielen Unterbrechungen. Sie arbeitet bei der Post und wohnt in B. Dariens jetzige Freundin ist eine Kollegin und Bekannte von ihr. Darien ist mit Dera seit Anfang 2002 zusammen. Als ich ihn nach anfänglichen Konflikten in der jetzigen Beziehung fragte, meinte er, die Konflikte seien vor allem von ihm selbst ausgegangen. Es sei so schön für ihn, daß Dera einfach nur ein lieber Mensch sei, mit dem man entspannt leben könne.
"Erfrischend gesund", nickte ich. "Ich habe den Eindruck, daß ihr einander in eurer Kreativität unterstützt. Ihr geht auf Fotosafari am Strand und in alten Wehrmachtsanlagen ..."
"Ja, wir machen viel gemeinsam ..."
Im Foyer traf ich Donar und Sasso, die beiden "Unidentified Men", dieses Mal als "Identified Men" ohne schwarze Brillen. Sie begrüßten auch Darien, an den sie sich von alten "Klangwerk"-Tagen her erinnern konnten.
"Ich finde das einfach klasse, daß wir endlich so miteinander reden", freute sich Sasso. "So lange haben wir uns nur immer gesehen und nie miteinander gesprochen."
Donar trug ein Soldatenschiffchen und eine Tarnjacke. Er scheint durch seine militärische Kleidung und seinen "bodygebuildeten" Körper besonders cool, männlich und martialisch wirken zu wollen.
Donar meinte, daß so manch einer sich hinter einer Fassade verbergen und vor sich selbst davonlaufen will. Ich erzählte ihm von Rafas Versuchen, sich zu verstecken und vor sich selbst davonzulaufen. Donar ist sicher, daß man sich nicht ewig verbergen kann, weder vor sich selbst noch vor anderen.
Wenn "Fassadenmenschen" wie Donar versichern, daß jede Fassade irgendwann bröckelt, und wenn "Fassadenmenschen" wie Darien schließlich doch noch einen Weg zu sich selbst und zu anderen Menschen finden, läßt mich das hoffen.
Henk hat eine ähnliche Entwicklung durchgemacht. Den Begriff des "Fassadenmenschen" hat sein Bruder Marek sich im Jahre 1986 für ihn ausgedacht.
1986 habe ich befürchtet, daß Henk eines Tages versuchen könnte, sich umzubringen. Bis 1992 hat er tatsächlich mehrere Selbstmordversuche unternommen. Was ich 1986 nicht zu hoffen wagte, trat 1999 ein - zwischen Henk und mir entstand ein freundschaftlicher, unbefangener und dauerhafter Kontakt.
Immer denke ich an diese Geschichte, wenn Rafa wieder einmal aller Welt zeigen will, wie glücklich er mit seiner Freundin ist und wie erfolgreich er mit seiner Musik ist, so obenauf, daß er sich keinerlei berufliche oder private Sorgen machen muß.
Delan erfüllte meinen Musikwunsch und spielte eines der Stücke, die Elaine und Derek miteinander aufgenommen haben. Die Tanzfläche blieb voll, es wurde dankbar angenommen. Nach dem Stück erzählte mir Delan, als Derek dieses Stück gehört habe, sei er zum DJ-Pult gerannt und habe gerufen:
"Mach' das aus! Mach' das sofort aus!"
"Wieso denn?" entgegnete Delan. "Guck' dir doch mal die Tanzfläche an!"
"Die spinnen doch alle! Das spricht ein achtjähriges Mädchen! Das habe ich heute nachmittag aufgenommen!"
"Das weiß ich."
"Die spinnen doch alle, die!"
Delan und Derek gaben dem Stück einen Titel, der in Delans Computer-Playlist eingetragen wurde:
"Elaine - 'Gebrabbel'"
Den Montag hatte ich mir freigenommen, damit Beatrice und ich Buchenwald besichtigen konnten. Durch die Spiegelreflexkamera betrachteten wir das Grausen, von dem wir verschont geblieben sind. Mit zaghafter Sonne beschienene Betonwände, Bahnsteigkanten, Treppenstufen und Holztüren dienten als Kulissen, vor denen wir uns gegenseitig fotografierten. Beatrice wollte auch auf dem Seziertisch fotografiert werden. Wir schauten in die Einzelhaft-Zellen, die kleiner waren als die Hundezwinger. In fast allen hingen Gedenktafeln, auch Blumen und Weihekerzen waren aufgestellt. Es gibt eine nachgebaute Genickschußanlage, die ein Untersuchungszimmer vortäuscht. Wenn die Häftlinge sich vor die Meßlatte stellten, an der die Körpergröße bestimmt werden konnte, wurden sie durch einen Schlitz in der Meßlatte erschossen.
Beatrice hat in ihrem Leben so viel Schlimmes erfahren, daß es einer KZ-Haft ähnelt. Aber es ist eben nicht genau dasselbe, es gibt einen zeitlichen und räumlichen Abstand, und so kann Beatrice über einen Besuch dieser Stätte von Mord und Zerstörung ihr Schicksal relativieren, in ein Verhältnis bringen zu anderen Schrecken. Ihr Leben kann eine Ordnung bekommen, die ihr die Möglichkeit gibt, ihre Erlebnisse wie in einem Schrank wegzuschließen und sich von dem Druck der Erinnerungen zu befreien.
Auch mir hilft es, solche Gedenkstätten zu besuchen. Ich fühle mich weniger verloren und kann mich daran freuen, einfach nur am Leben zu sein.
Als Nächstes wollen Beatrice und ich Mittelbau-Dora besuchen, das KZ im Harz, das sich zum Teil in einem Stollen befand.
Über Andras sagte Beatrice, eigentlich sei er ihr bester Freund, sie liebe ihn wie einen Bruder, innig und immerwährend. Aber die Leidenschaft, das Verlangen nach dem Körper des anderen, das fehle in dieser Beziehung. Am liebsten wolle sie Andras für immer als besten Freund haben und als Mann jemand anderen, von dem sie noch nicht wisse, wer es sei. Zur Zeit ist sie verliebt in einen Kollegen namens Tagor. Der schweigsame Tagor soll regelrecht aufgeblüht und aus sich herausgekommen sein, seit Beatrice in der Firma arbeitet. Das sei mehreren Kollegen aufgefallen.
Beatrice ist Praktikantin in einer Mediendesign-Agentur, im Rahmen ihrer Ausbildung zur Fachinformatikerin. Andras macht dieselbe Ausbildung wie sie. Bei der Post war es ihm zu eintönig.



Am Mittwoch war ich mit Terry im "Zone". Darius lief dort herum, in der Nähe der Theke gegenüber vom Eingang, wo ich meine Sachen meistens hinlege. Les meinte, er bekomme 70.000 Euro von mir, "weil Rafa heute da ist". Ich fand Rafa auch gleich, als ich wieder zu der Theke kam. Bei ihm waren Darius und ein Junge in sandfarbener Kleidung. Dieser Junge rief mich:
"Elektro-Betty!"
Ich ging auf ihn zu und begrüßte ihn. Dabei legte ich flüchtig den Arm um Rafa. Rafa trug Sakko und Sonnenbrille. Ich hatte den Taftrock mit den silbernen Spinnweben an, ein durchsichtiges graues Oberteil und darüber ein schneeweißes Bustier, das im Schwarzlicht leuchtet. Die Haare hatte ich zusammengebunden und rechts und links Zöpfchen.
Der sandfarbene Junge heißt Sten. Ich überlegte, woher ich ihn kannte. Nachdem ich einige Worte mit ihm gewechselt hatte, strich ich Rafa über den Rücken und ging zu meinem Platz vor der Theke, wo Terry saß.
Les spielte für mich etwas zum Tanzen, "Honour" von VNV Nation und "One eyed man" von This morn omina.
Terry schlug danach vor, wir könnten einen Rundgang machen. Rafa stand mit seinen Begleitern vor der Theke auf der Seite des Eingangs, so daß also zwischen meinem Platz und seinem die Tanzfläche lag und wir uns aus der Entfernung beobachten konnten. Auf unserem Rundgang kamen Terry und ich an Rafa, Darius und Sten vorbei. Sten blickte mir erwartungsvoll entgegen, Rafa verbarg sich dicht hinter ihm. Als ich auf Sten zuging, streichelte ich Rafa wieder flüchtig. Während ich mich mit Sten unterhielt, konnte ich über seine Schulter hinweg Rafa anschauen. Rafa schien mich durch seine "Schutzbrille" gleichfalls zu mustern. Zwischendurch drehte er sich zur Theke um und ließ sich ein Bier geben.
Sten erinnerte mich an die "Abschied aus dem Ghetto"-Party eines seiner Bekannten, auf der wir 1996 beide zu Gast waren. Mit dieser Party hatte Stens Bekannter seiner Auszug aus dem "Uferpark" gefeiert. Sten und ich unterhielten uns über die Schrecken des "Uferparks", jenes Hochhaus-Ghetto, aus dem nach und nach alle Mieter und Geschäftsleute flüchten, mit Ausnahme sozial schwacher oder sozial problematischer Bewohner. Wer dort in der Urbanismus-Euphorie der siebziger Jahre eine Eigentumswohnung erworben hat, wird sie nicht mehr los.
Wie ich Sten in meiner Erinnerung einordnen konnte, wußte ich immer noch nicht. Mir fiel auf, daß Sten mir Darius vorstellte - den ich freilich schon kannte -, Rafa jedoch stellte er mir nicht vor. Sten erwähnte Rafa nicht einmal, obwohl Rafa wie ein Schatten hinter ihm stand. Ich vermutete, daß Sten etwas wußte über Rafa und mich. Vielleicht hatte Rafa ihn sogar gebeten, mit mir nicht über ihn zu sprechen.
Als ich mit Terry weiterging, legte ich noch einmal kurz meine Hand auf Rafas Rücken.
Am DJ-Pult bat mich Les, ich sollte nicht zu lange mit ihm reden, sonst wüßte Rafa, daß er und ich uns absprächen. Rafa stehe nämlich hinter mir.
Tatsächlich war Rafa mit Sten herangekommen. Ich streichelte Rafas Schulter und erzählte Sten von dem Stück, das Derek am Samstag mit Elaine eingespielt hat. Bevor Sten mit Rafa weiterging, bat er mich, ihm bescheidzugeben, wenn Les das Stück auflegte.
Als ich bei Terry und Nancy stand, gingen Rafa und Sten an uns vorbei und verschwanden für einige Zeit im "Zone"-Café. Dort fragte ich den Barmann, wann es wieder eine Obstschale gibt. Er meinte, das wisse er nicht. Ich hoffe, bald steht wieder eine Schale mit Obst auf dem Tresen, wo man sich kostenlos bedienen kann, eine erfrischende Mahlzeit für Leute, die vor lauter Tanzen sonst nicht zum Essen kommen.
Les spielte auch noch "Four Voice" von Soman und "08/10" von Stigmata, so daß ich wieder auf die Tanzfläche lief. Rafa kam mit Sten zurück in den Tanzraum; sie stellten sich neben das DJ-Pult. Ich ging zu Sten und sagte ihm, daß es heute im "Zone" zu leer sei für das Stück von Derek und Elaine. Während ich auf Sten zukam, wich Rafa einige Schritte zurück und blieb wie festgewachsen stehen.
Darius kam zu den beiden Jungen, und sie schienen sich zum Aufbruch zu rüsten. Les gab mir Flyer, die ich in anderen Locations für ihn auslegen wollte. Als "Stuttgart schwarz" von New Dimension begann, lief ich wieder auf die Tanzfläche. Rafa kam neben mich, einen Schritt vor mir, und tanzte ebenfalls. Ich griff ihn flüchtig am Arm und tanzte weiter. Danach kam "Hello" von Lars Falk. Rafa tanzte nun mir gegenüber auf der anderen Seite der Tanzfläche, recht weit weg. Vorher hatte ich Rafa in dieser Nacht nie tanzen sehen.
Les erzählte mir, daß Rafa ihm sein Video gegeben hatte, um es auf der Leinwand im "Zone" zu zeigen, was dann auch geschehen sei. Und für Rafa habe er dessen Stück "Monoton & minimal" gespielt.
Les meinte, er sei sicher, daß Rafa mit Berenice nicht mehr zusammen sei. Ich entgegnete, ich sei sicher, daß er noch immer mit ihr zusammen sei, weil ich mir nicht vorstellen könne, daß Berenice nach einer Trennung von Rafa noch bei W.E mitwirken wolle. Und sie sei ja noch immer in der Band. Ich erkundigte mich, was Les so sicher machte, daß Rafa sich von Berenice getrennt habe.
"Habe ich so mitbekommen", war die unscharfe Antwort.
"Über wen hast du das denn mitbekommen?"
"Von niemandem."
"Und woher willst du das dann wissen?"
"Ach, nur eben so. Ach nein, ich weiß wirklich nicht, was mit Rafa ist, ehrlich."
Rafa kam mit seinen Begleitern noch einmal an Terry, Nancy und mir vorbei, und sie verließen das "Zone".
Auf der Heimfahrt erzählte mir Terry, daß Nancy an einer Erbkrankheit leidet, die ihr Leben erheblich verkürzt. Das wußte ich bisher nicht. Ich vermute, daß es sich um Chorea Huntington handelt.
Am Freitag war ich zum Kaffee bei Marie-Julia. Wir saßen im Garten zwischen Holundersträuchern und Apfelbäumen. Marie-Julia servierte selbstgebackenen Eierlikörkuchen. Sie freut sich darauf, mit ihrem wiedergewonnenen Nic in ein eigenes Haus im Grünen zu ziehen, zu heiraten und Kinder zu haben.
"Ich habe genug Streß gehabt", seufzte sie, "jetzt kann's auch endlich mal schön werden."
Sie zeigte mir eine Tüte mit Briefen von einer Patientin, mit der sie sich nach deren Krankenhausaufenthalt privat befreundet hatte. Die Patientin - die eigentlich Petra-Ulrike heißt, sich aber "Putzi" nennt - leidet an einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung und Alkoholabhängigkeit. Putzi nahm eine Arbeit als Küchenhilfe in Kingston an und tauchte zu allen erwünschten und unerwünschten Zeiten bei Marie-Julia und Nic auf, die wenige Straßen entfernt wohnen. Putzi schien nicht so recht zu wissen, was sie mit sich und ihrem Leben anfangen sollte. Sie begann schließlich, Briefe an Nic zu schreiben, in denen sie anonym behauptete, Marie-Julia habe eine lesbische Beziehung. Auch an sich selbst richtete Putzi solche Briefe, wohl um den Verdacht von sich abzulenken. In Kingston erzählte Putzi herum, Marie-Julia sei lesbisch. Die Intrige kam heraus, als ein befreundetes Pärchen Marie-Julia erzählte, daß Putzi auf deren Computer diese Briefe getippt hatte. Putzi hatte versucht, auch dieses Pärchen auseinanderzubringen. Nun flehte Putzi bei Marie-Julia brieflich um Gnade, freilich voller Vorwürfe. Marie-Julia hat den Kontakt zu Putzi abgebrochen, viele andere haben sich ebenfalls von Putzi abgewandt, sogar ihre Stelle wird sie verlieren.



Am Samstag und Sonntag veranstaltete Kappa im "Read Only Memory" ein Festival, wie schon im vergangenen Jahr. Ich kam am Samstag bereits nachmittags dorthin, weil KiEw sehr früh auftraten. Das "Read Only Memory" ist ein ehemaliges Freibad. Die Indoor-Location, wo die meisten Veranstaltungen stattfinden, befindet sich in der ehemaligen Gaststätte des Freibades. Bei größeren Veranstaltungen im Sommer gibt es auch eine Freilichtbühne. Sie war im ehemaligen Schwimmbecken aufgebaut, wo man viel Platz zum Tanzen und einen guten Überblick hat. Flache Stufen führen hinunter, und man kann auch vom Beckenrand aus zusehen. KiEw spielten ihre Hits "Staub", "Zimmer 72" ("Ich bin ein Geisteskranker!"), "DcDisk" und "Feierabend in Kiew".
Der jungenhafte Sänger von KiEw - Thedi - trug eine selbstgebastelte Zwangsjacke, die ihm hervorragend stand. Es war eine weiße Sweatshirtjacke mit sehr langen Ärmeln, die unten in schwarze Bänder ausliefen. Die Jacke war verkehrtherum angezogen, so daß sie hinten zu schließen war, und dort waren mehrere schwarze Querbänder mit Schließringen befestigt.
Nach dem Konzert ging ich in ein mittelalterliches Dorf, das wie im letzten Jahr auf dem Gelände aufgebaut war, mit Hütten, einem Amboß und einer großen Feuerstelle. Dort traf ich Saverio und einige seiner Freunde, alle in Kampfkostümierung für Schaugefechte. Saverio hatte schon gekämpft, mit Schwert und Schild, und sein knöchellanger Kilt war voller Strohfusseln.
The Fair Sex traten ebenfalls auf der Freilichtbühne auf. Von den Herren Musikern gefiel mir am besten ein gut gebauter Kahlkopf mit einem langen, hinten aufregend geschlitzten Rock. Der Rock ist schwarz und hat Applikationen im Nadelstreifendekor. Vorne ist ein Metallring angebracht, wie zum "Dran-Ziehen".
Während des Konzerts stellte ich fest, daß mehrere Reihen hinter mir Rafa und Berenice standen. Rafa trug Sakko und Sonnenbrille. Er hatte einige Ponysträhnen blondiert. Berenice trug ein kurzes Etuikleid, vorne mit großen schwarzen und weißen Dreiecken gemustert. Ihre Haare sind schon sehr lang und inzwischen nach vielem Bleichen fast blond.
Rafa schien mich entdeckt zu haben. Er blieb ein Weilchen stehen und entfernte sich dann mit Berenice.
Nach dem Konzert unterhielt ich mich mit Simon und Afra, die an einem der vielen Tische im Freien saßen. Einige Tische weiter sah ich Rafa und Berenice mit Ace, Xentrix, Enya und Dolf an einem Tisch sitzen.
Afra gefiel meine Garderobe, die ganz in Rottönen und Schwarz gehalten war. Ich hatte den langen, dunkelrot und schwarz gestreiften Rock mit den Raffungen an, den ich vor zwei Jahren in L. gekauft habe. Die Raffungen sind garniert mit schwarzen Satinrosen und geben den Blick frei auf den schwarzen Unterstoff. Als Schmuck hatte ich Choker und Armbänder mit Plastikperlen in Rosa und Bordeaux und schwarze Spitzenhandschuhe. Und ich hatte die zierliche straßbesetzte Fünfziger-Jahre-Sonnenbrille auf, die ich draußen immer trage, wenn es hell ist, weil ich sehr lichtempfindlich bin. Andere Brillen als die im Stil der Fünfziger stehen mir nicht.
Als Simon kurz weggegangen war, sagte ich zu Afra, es sei doch schön, daß es zwischen ihr und Simon wieder in Ordnung sei.
"Na ja ...", sagte sie und wirkte nicht sehr glücklich.
"Es gibt keine heile Welt", seufzte ich.
Auf dem Gelände begegnete mir Kappa mit Maya, die nun schon eineinhalb Jahre alt ist. Sie trug ein T-Shirt mit dem Schriftzug "Maya" und ein Ziergummi im Haar. Etwas später traf ich Edaín, die nun Maya auf dem Arm hielt. Edaín meinte, sie wolle mir eine E-Mail schicken, sei nur bisher nicht dazu gekommen.
Marcia winkte mir zu, und wir erzählten einander, was aus unseren gemeinsamen Bekannten geworden ist. Marcia hatte noch gar nicht gewußt, daß Malda sich umgebracht hat. Sie war durch diese Nachricht sehr bestürzt und betroffen.
"Wir haben alle mal unsere Phasen", meinte Marcia. "Aber wenn man Schluß macht, dann gibt man doch seine Seele auf."
"Malda hat im Leben wohl keinen Sinn gefunden. Ich bin mit dem Vertrauen aufgewachsen, daß das Leben schon irgendeinen Sinn haben wird. Und dieses Vertrauen hatte Malda nicht. Die hatte keinen Halt im Leben."
"Schon als sie diesen Freund hatte aus der Fascho-Szene, schien sie immer mehr abzudriften. Man kam gar nicht mehr an sie heran."
Als Psyche auftraten, war ich - wie schon bei den vorherigen Konzerten - weit vorne, unmittelbar vor der Bühne. Ich traf dort Shirley, ihre Mutter und Celeste. Wir tanzten miteinander. Rafa kam mit einer vollen Plastiktüte in der Hand durch die Menge langsam näher. Er begrüßte Xentrix und Enya. Dann kam er zu uns nach vorne und stand dort kurze Zeit. Dann ging er an der Seite über die Schwimmbeckenstufen hinauf zu Ace und blieb mit ihm dort stehen. Aus der Ferne schaute er zur Bühne. Berenice schaute mit einer Freundin dem Konzert zu.
"Daß ich Rafa im 'Zone' streicheln konnte, war wichtig", sagte ich zu Shirley, "aber es bringt keinen Fortschritt, das ist das Schlimme. Es geht überhaupt nicht vorwärts."
Nach dem Konzert sah ich Cyrus und Deirdre bei den Tischen auf der Wiese stehen. Deirdre hatte ihren einjährigen Sohn Cillian aus dem Kinderwagen gehoben. Rafa stand dicht dabei, mit dem Rücken zu mir. Berenice war nicht in der Nähe. Ich ging auf Deirdre und Cillian zu und strich dabei sehr kurz mit der Hand über Rafas Rücken. Ich begrüßte Deirdre und Cillian:
"Hallo ... Cillian, jetzt lerne ich dich auch mal kennen."
Rafa lief weg. Deirdre unterbrach unser Gespräch:
"Ich muß mal kurz gratulieren."
Sie ging auf Berenice zu, die herangekommen war, und gratulierte ihr, wahrscheinlich zum Geburtstag. Berenice trug eine mit Kaiserin-Soraya-Konterfei verzierte Tragetasche in der Hand, die mit Geschenken gefüllt war. Sie bewunderte Cillian nun auch.
Ich wandte mich ab und ging zu einem Getränkestand. Rafa ging mit Berenice händchenhaltend in das ehemalige Schwimmbecken hinunter. Berenice trug immer noch die Geschenktüte. Am Merchandizing-Stand redeten Rafa und Berenice mit Psyche-Sänger Darrin Huss und marschierten händchenhaltend wieder hinauf zur Wiese.
Kappa und Edaín, Cyrus und Deirdre, Xentrix und Enya, sie alle sind inzwischen verheiratet, und auch Xentrix und Enya wollen Kinder.
Um Rafa herum heiraten nach und nach alle, und ich bin mir sicher, daß Rafa und Berenice inzwischen konkretere Heiratspläne haben. Sie schließt ihr Studium ab, wird sich Arbeit suchen und kann dann die Familie ernähren.
Ich fuhr nach Hause, was ich mir ohnehin vorgenommen hatte. Ich wollte meine Planung nicht von Rafa abhängig machen, solange er keinen Schritt auf mich zuging.
Kurz nach Mitternacht kam ich wieder ins "Read Only Memory", jetzt in dem kurzen cremefarbenen Spitzenkleid, das zum Tanzen praktischer ist. Wie ich erwartet hatte, war Rafa mitsamt seiner Freundin fort. Die Tanzfläche war draußen angelegt, und die meisten Gäste, die noch da waren, hielten sich draußen auf. Saverio hatte sich bei einem der Schaugefechte eine Schramme an der Stirn zugezogen. Die Kameraden konnten ihn gleich verbinden, weil sie immer einen Verbandskasten dabei haben.
Revil war erleichtert. Er hat seine Prüfung zum Physiotherapeuten bestanden.
Taidi berichtete, in den letzten Wochen habe er an einer Fortbildung teilgenommen und sei nun fast Lokomotivführer.
Am DJ-Pult traf ich Edaín wieder, die ihre Tochter bei Kappas Großmutter in Obhut gegeben hatte. Auch Kappa war dort; er sprach mit einem nahezu kahlköpfigen Herrn im weißen Designerhemd, der Maj heißt und aus D. oder DO. kommt. Er ähnelte dem Glatzkopf von The Fair Sex, doch weil ich mir Gesichter schlecht merken kann, konnte ich nicht zuordnen, ob er es war. Jedenfalls sind The Fair Sex eine Band aus E. und damit in unmittelbarer Nähe von DO. beheimatet.
Der Stoff von Majs Hemd war so gestaltet, daß es aussah, als wäre es mit vielen quadratischen Flicken benäht.
"Das Hemd ist schön", sagte ich zu Maj.
"Dein Kleid ist auch schön", sagte er.
"Ja? Danke."
"Es ist extraordinary", meinte er, "vor allem für hier."
"Ja, ich entwerfe gerne sowas. Dein Hemd sieht aus, als wäre es zusammengeflickt, und es ist doch nicht zusammengeflickt."
"So soll es wohl auch wirken."
"Das finde ich so interessant."
Drinnen an der Bar traf ich Darius und fragte ihn, ob es sich bei Sten, mit dem er und Rafa am Mittwoch im "Zone" waren, um denjenigen handelte, der früher mit Aimée zusammen war. Darius bejahte. Ich bat ihn, Sten zu grüßen und ihm auszurichten, erst im Nachhinein hätte ich mich erinnert, wer er sei, sonst hätte ich ihn gleich noch mehr gefragt. Was denn aus seiner Band geworden sei?
"Also, das ist mehr oder weniger gestorben", berichtete Darius.
Als ich Sanina erzählte, daß ich noch zum "Radiostern" fahren wollte, sagte sie mir, daß sie und ihre Schwester Trisha auf dem Wege in der Nähe der A7 wohnen und daß sie soeben die letzte Mitfahrgelegenheit nach Hause verpaßt hatten. Ich bot ihr an, sie und ihre Schwester mitzunehmen bis HI. und sie dort an einer 24-Stunden-Tankstelle abzusetzen, wo sie ein Taxi für den Rest der Strecke bestellen konnten. Das Angebot nahmen sie gerne an, und so fuhren wir gemeinsam hinunter zur A7.
Sanina erzählte, daß Cyra mit Robin ein kurzes Intermezzo hatte, nachdem Robin sich von Sanina getrennt hatte, im Frühjahr 2002. Sanina und Cyra hätten sich unter anderem durch die Geschichte mit Robin näher kennengelernt. Robin soll nach seiner Kurzliaison mit Cyra zu Sanina gesagt haben:
"Cyra war ein gutes Sprungbrett, um mit Rina zusammenzukommen."
"Wie kann er eine hochintelligente, charismatische Frau wie Cyra als 'Sprungbrett' betrachten, um mit sowas wie Rhinozeros-Rina zusammenzukommen?" stöhnte ich. "Der kann doch nur völlig bescheuert sein?"
"Vor allem, Rina ist strohdumm", erzählte Sanina.
Von Robins blondierter Freundin kenne ich außer ihrer gewaltigen Nase vor allem ihren äußerst giftigen Blick, mit dem sie alles Weibliche taxiert, das sich Robin nähert.
Ich erinnerte mich, wie Robin während seiner Beziehung mit Sanina über ein Jahr lang ohne sie ins "Zone" gegangen war:
"Er hat immer gesagt, er trinkt im 'Zone' seinen Kaffee, und dir wäre eh das 'Maximum Volume' lieber, deshalb geht er alleine ins 'Zone'."
"Das war gelogen", war Sanina sicher. "Der wollte Rina."
"Da denkt man, ein Paar, das nicht so klammerig ist, wo auch mal einer ohne den anderen ausgehen kann, das ist doch ein Zeichen für Vertrautheit. Aber nichts war. Er ist alleine ins 'Zone' gegangen, um mit Rina zuammenzukommen."
"Seit er mit der zusammen ist, kennt er keinen mehr."
"Nicht mal mich."
"Was? Ihr habt doch sonst immer nett miteinander geschwatzt."
"Ja, wir haben uns auch nie gestritten, es gab nie Auseinandersetzungen. Aber seit er mit Rhinozeros-Rina zusammen ist, bin ich für ihn Luft."
"Die ist rasend eifersüchtig. Ihren Freund darf keine Frau auch nur angucken."
"Das dachte ich mir gleich, als ich die gesehen habe und Robin von einem Tag zum anderen durch mich hindurchgeguckt hat. Die ist ja auch sagenhaft häßlich, da sollte die wohl Angst haben."
"Robin hat herumerzählt, er hätte mit Rina so guten Sex gehabt, daß sie nachher beide geweint haben."
"Ha! Ha! Wahrscheinlich hatten sie so schlechten Sex, daß sie nachher nur noch weinen konnten! Oder warum hat er's nötig gehabt, das 'rumzuerzählen?"
"Ich weiß nicht, was die Männer an Rina finden."
"Sie hat wohl irgendwelche Trophäen-Attribute."
"Sie ist dominant, das braucht Robin wohl."
"Diese Art von Dominanz wirkt auf mich nur wie ein Zeichen von Abhängigkeit und Hilflosigkeit."
Robin soll seine Arbeit in einem Behindertenheim gegen einen lukrativeren Job eingetauscht haben. Er soll sich unter den behinderten Jugendlichen die Rolle eines Stars oder Heilsbringers angeeignet haben, so daß sie schwer enttäuscht waren, als er sie verließ. Robin soll keine größeren Anstrengungen unternommen haben, um den Jugendlichen die Ablösung zu erleichtern.
"Ich glaube, der kreist vorwiegend um sich selbst", vermutete ich.
"Der hat viel von ... das Wort war, glaube ich ... Narzißmus oder so."
"Jawoll! Hundert Prozent", nickte ich. "Ich wollt's grad sagen! Genau das ist er - narzißtisch. Der hat ein gewaltiges Selbstwertdefizit!"
"Der stand immer drei Stunden vor dem Spiegel, ehe der fertig war zum Ausgehen. Und vor mir hatte der eine Freundin, das ging sechs Jahre, mit der war der aber fast nur unterwegs, wie um sie vorzuzeigen."
"Eben, narzißtisch durch und durch. Der hat das Gleiche wie Rafa. Rafa hat es gar nicht gern, wenn ich ihm Fragen stelle, die mit ihm selbst zu tun haben. Deshalb will er auch nie mit mir zusammen sein. Und ich habe nie aufgehört, ihm solche Fragen zu stellen, und ich werde auch nie damit aufhören."
"Berenice, die kenne ich ja näher, von der 'Halle', als wir gemeinsam an der Theke bedient haben. Sie ist ziemlich unterwürfig. Ja ... unterwürfig. Sie vergöttert Rafa total."
"Das hält die beiden zusammen. Sie hinterfragt ihn nicht, sie will nichts über ihn wissen, sie will nur seine Fassade. An ihrer Seite braucht er sich nie mit sich selber zu beschäftigen. Sie ist praktisch und vorzeigbar. Sie sieht gut aus, ist intelligent und interessiert sich nicht für Rafa, sondern nur für die Position an seiner Seite. Sie ist nett zu vielen Leuten, sonst würden sie nicht so viele mögen. Es ist aber zweigeteilt; einige beschreiben sie als kalt und arrogant, andere als nett. Zu mir ist sie natürlich nicht nett, aber ich bin da kein Maßstab."
"Was würde geschehen, wenn Berenice Rafa eines Tages doch mal nach ihm selbst ausfragen würde? Würde Rafa sich dann von ihr trennen?"
"Wahrscheinlich ja, aber das tut sie nicht, das entspricht nicht ihrem Naturell."
"Robin habe ich zuerst auch vergöttert und gedacht, das ist der Mann für mich, mit dem werde ich alt", erzählte Sanina. "Alle haben gesagt, ihr seid so ein schönes Paar. Und er hat sich zu Anfang auch sehr bemüht um mich. Aber in unserer ganzen Beziehung habe ich mich von ihm nie wirklich geliebt gefühlt."
"Der beschäftigt sich ja eigentlich auch nur mit sich selber. Der braucht die Frauen zum Vorzeigen."
"Aber was will der mit Rina vorzeigen?"
"Das ist die Frage. Vielleicht hat sie etwas an sich, das bestimmte Männer glauben macht, sie sei attraktiv."
"Von dir fühlte sich Robin wahrscheinlich eher eingeengt, bei Rina hat er das Gefühl, sie immer wieder erobern zu müssen."
"Dabei klammert sie noch viel mehr als ich!"
"Das ist richtig. Aber bei dir war es eher so, daß du Robin in die Verantwortung genommen hast, als liebebedürftiges Wesen. Und bei Rina ist es eher so, daß sie so tut, als sei sie Robin überlegen und würde ihm die Zuwendung nur gnadenhalber zugestehen. Bei dir war es ein trauriges Klammern, bei ihr ist es ein aggressives Klammern. Du hast Verantwortung verlangt, sie ist egozentrisch."
"Das ist wohl der Unterschied. Ich bin jemand, der viel Zuwendung braucht und sich schnell minderwertig fühlt. Das hat auch mit dem Elternhaus zu tun. Meine Mutter ist eher nachgiebig und schwach."
Im "Radiostern" spielte Cyra gleich vier Stücke von dem neuen Album von Chris Liebing, und ich staunte, wie beweglich die Leute auf der Tanzfläche wurden und wie sie herumspringen konnten, von den Rhythmen wie von Fäden gezogen. Das war bei jedem der vier Stücke so, obwohl jedes einen anderen Rhythmus und einen anderen Stil hat. Das wildeste ist "American Madness".
Cyra spielte auch etwas Freigebranntes, "Femme fatale" von Spetsnaz von dem noch nicht veröffentlichten Album "Grand Design".
Türsteher Solvar erzählte, daß früher die Polizei regelmäßig im "Radiostern" war, um nach dem Rechten zu sehen. Damals lungerten vor der Tür des "Radiostern" schwererziehbare Jugendliche herum. Die sind inzwischen alle verschwunden, da sie von den Türstehern nie hereingelassen wurden. Einige dieser Jugendlichen waren schwer betrunkene "Schmuddelpunks", andere kamen im weißen Hemd, die Daumen mit Macho-Geste in den Taschen, und gaben sich artig, waren aber voller Drogen und handelten auch mit solchen. Seit diese Problemgruppierungen im "Radiostern" kein Nachtlager und keinen Absatzmarkt mehr finden, kommt auch die Polizei kaum noch her.
"Die wissen, wenn diese Parties im 'Radiostern' laufen, bleibt es ruhig", sagte Solvar nicht ohne Stolz.
Ich fragte Cielle, ob sie Ginet wieder nehmen würde, wenn er es ihr anbieten würde. Sie verneinte das.
Donar fühlt sich für die Szene zu alt und wagt deshalb kaum noch, auszugehen. Er befürchtet, daß andere sich über ihn lustig machen, weil er über dreißig ist. Ich mailte:

Ach, es gibt so viele in der Szene, die über 30 sind. Das ist wahrhaft keine Teeniekultur, eher kulturelle Avantgarde. Man sieht den Leuten ihr Alter nicht immer an.
"Die Szene hält jung", sagt mein 38-jähriger Kumpel Ted.
Dem sieht man das Alter bestimmt nicht an.
Dirk I. ist 45 geworden und sieht superknackig aus ... drahtige Figur, im bauchfreien T-Shirt, hüpft auf der Bühne herum, keine Spur von Verschleißerscheinungen.

Donar antwortete:

In den Nischen, schon. Muß mich langsam mal im "Barcode" sehen lassen, davon verspreche ich mir mehr. Neue Leute, neue Orte!

Über "Stahlwerk" mailte ich:

War doch ganz cool bei "Stahlwerk", nicht? Und ihr habt so lange durchgehalten. Mir hats sehr gefallen.

Donar antwortete:

Nicht genial, aber für die Verhältnisse in HH. ist man ja alles andere als verwöhnt. Ganz nett!

Über das Thema "Fassade" mailte ich:

Das Thema "Fassade", das wir bei "Stahlwerk" hatten, finde ich sehr interessant. Ihr seid ja dieses Mal ohne Brillen da gewesen, als "Identified Men". Es gibt so viele Arten von Fassaden, sichtbare, unsichtbare, durch Kostüme oder Verhalten. Was steckt dahinter? Diese Frage finde ich immer wieder spannend. Ein Spiel wie "Schiffe versenken".

Donar antwortete:

"Fassade" ist hier nicht wirklich passend. Wir verkleiden uns nicht, geben nur der jeweiligen Tagesstimmung mit Kleidung Ausdruck. Wer von der "Fassade" abprallt, ist in diesem Moment nicht auf einer Wellenlänge mit uns.
Jeder trägt seine persönliche geliebte Uniform. Auch in ständig wechselnden Outfits bleibt doch ein roter Faden erhalten, der für den Einzelnen charakteristisch ist.
Welche Art von Uniform bevorzugst du? Bei uns ist es das Paramilitärische.

Über die fragliche Prominenz von Ivo Fechtner mailte ich:

Wie öffentlich ist Ivo Fechtner eigentlich? Viele kennen ihn gar nicht. In L. wars, glaub ich, da hat einer zu einem anderen gesagt:
"Zum Thema IF, ich weiß, wo Ivo Fechtner ist."
- gerade, als handle es sich um Gefahrgut oder heiße Ware. "IF".

Donar antwortete:

Das Anrüchige entbehrt nie eines gewissen Reizes.

Über mein Verhältnis zum Christentum mailte ich:

Wie christlich ich bin? Irgendwie schon, aber ich ordne mich nicht irgendwelchen Dogmen unter. Was ich sinnvoll finde, verinnerliche ich, das andere lasse ich beiseite. Die Bibel ist nur von Menschen geschrieben worden, und was Gott ist, ich denke, das kann man eigentlich gar nicht wissen. Vieles kann man nicht einordnen zwischen Himmel und Erde.

Donar antwortete:

Ich versuche, meinen wahren Willen zu tun. Jedes Konzept enthält mindestens einen brauchbaren Teil. Jeder Mensch sollte danach streben, ein Gott zu werden. Auf wenigstens einem Gebiet seiner Neigung.

Am Mittwoch war ich mit Gesa im "Fractal". Dort saßen wir zuerst im Bistro, und als die Musik zu späterer Stunde anspruchsvoller wurde, tanzten wir lange, ich fast durchgehend, zu Stücken wie "Joyenergizer" von Joy Kitikonti, "Beachball" von Nalin and Kane und "Direct Disco 2003" von Tinnitus.
Die Gäste, die mittwochs im "Fractal" sind, unterscheiden sich von den Wochenendgästen fast wie Tag und Nacht. Mittwochs sind vorwiegend "Menschen von nebenan" da, denen man am nächsten Tag als Angestellte in einer Apotheke oder einer Bank begegnen könnte. Sie kommen wegen der Musik und um Spaß zu haben. Im Februar vergangenen Jahres habe ich erlebt, was für Leute am Wochenende im "Fractal" sind. Erstens sind es viel zu viele, und zweitens gehören viel zu viele von ihnen zu oberflächlichen, drogenumnebelten Jugendcliquen, denen es ausschließlich darum geht, alle dasselbe anzuhaben und auf eine Art "cool" zu sein, die durch Modediktate, Musikkanäle und Jugendzeitschriften festgelegt wird und sich laufend ändert. Diese Cliquenmitglieder beschäftigen sich überwiegend damit, sich als etwas Besseres zu fühlen und alle abzuwerten, die sich in ihrem Verhalten und ihrer Kleidung von der Clique unterscheiden. Mittwochs sind solche Leute in der Minderzahl.
Sirio mailte mir, ein Bekannter von Sofie und Marlon:

Mein Name ist Sirio, ich bin Brasilianer aus São Paulo und z. Zt. lebe ich hier in HH. EBM, Industrial and Noise sind meine Lieblings-Musikstile.
Also, wir haben uns mehr als einmal bei "Stahlwerk" getroffen. Letztes Mal hast du mir deine eMail-Adresse und URL gegeben.
Dann habe ich deine Site (www.netvel.de) angeguckt, und die hat mir sehr gut gefallen! Die Ideen mit den Bilder, Texten, Illustrationen, usw. sind sehr originell und miteinander gut verbunden!
Glückwunsch!
Da gibt es noch vieles zu lesen und zu sehen.
Ist "Lichtwind" deine Schwester?
Also, ich möchte ein Profile über dich und deine Site auf meine Site "DarkStyle" einfügen. Wenn du es mir erlaubt, mache ich so. Natürlich zeige ich dir das Layout vorher mit der Einfügung. Das Hauptziel meiner Site "DarkStyle" ist, Infos und Fotos der Szene meiner Heimstadt São Paulo und von HH. zu präsentieren. Ich möchte auch verschiedene Arten von Künstler-Expressionen zeigen.

Ich antwortete:

Ja, klar kannst du ein Profile von mir auf deine Seite stellen. Schön, daß dir netvel.de gefällt. Für das Profile kannst du ein Foto aus www.netvel.de nehmen, da gibts ja viele. Ich habe auch noch ein Banner dieser Mail beigefügt, zum Verlinken. Deine Homepage gefällt mir auch gut, ich habe sie gleich mit meiner verlinkt.
Lichtwind ist meine Schwester Constri. Sie ist verheiratet mit Missratener Sohn alias Derek. Sie hat es bisher noch nicht geschafft, ihre Homepage fertigzustellen.

Am Donnerstag war ich mit Cyra in MD., CD's kaufen. Vorher aßen wir beim Amerikaner. Cyra erzählte, welche Veranstaltungen sie plant und daß Dirk I. zu ihrer Geburtstagsfeier kommen will. Hal soll sich viel mit seinem nächsten Tonträger beschäftigen und schlecht abkömmlich sein.
"Hal streßt sich zuviel und trinkt zuviel", findet Cyra. "Wenn der nichts getrunken hat, geht der normalerweise nicht weg. Ich finde das ganz oft, bei den Großen wie den Kleinen in der Musikbranche, daß die irgendwas nehmen, daß die irgendwie süchtig sind."
Cyra besorgte mir Rafas MCD "Nur tote Frauen sind schön" zum DJ-Rabattpreis. Daheim hörte ich sie mir an und lauschte den Texten. In "Lieber Gott ..." entwertet Rafa im Gebet die gesamte Menschheit:

Ich sprech' zu dir und bitte dich, ich hoffe doch, du erhörst mich, denn der Mensch, den du erschufst, kann eigentlich nur ein Fehler sein.

Es gehe den Menschen nur um Macht und Geld, und sie würden sich selbst töten. Rafa bittet, Gott möge ihn als Messias beauftragen:

Lieber Gott, ich fleh' dich an, dein neuer Sohn kommt irgendwann, der uns zum Lichte führt. Benutze mich dafür!

Er hat vor, mit Gott gemeinsam die "Neue Welt" zu erschaffen und "den Neuen Menschen gleich dazu". Was diesen "Neuen Menschen" ausmacht, beschreibt er nicht.
Daß es unter Menschen Liebe, Treue, Aufrichtigkeit und Verantwortungsgefühl gibt, scheint Rafa sich nicht vorstellen zu können. Welche Verfehlungen seinen eigenen Lebensweg kennzeichnen, scheint ihm nicht bewußt zu sein. Er betrachtet die Menschen aus großer Entfernung und scheint die einzelnen Personen in ihrer Vielschichtigkeit nicht wahrnehmen zu können oder zu wollen. Er verurteilt pauschal, ohne sich den Menschen zu nähern.
Das Stück "Nachtprogramm" von Rafas wiedererwecktem "Feindsender"-Projekt klingt nach Mobilmachung:

Diese Nacht ist unsre Nacht. Wir müssen alle nochmal ran. Wir kämpfen bis zum letzten Mann.

Wogegen allerdings gekämpft werden soll, ist nicht zu erfahren. Rafa stößt in Texten und Interviews immer wieder Kampfrufe aus, kann aber nicht beschreiben, was genau er eigentlich erreichen will.
Am Samstag war ich in WF., wo Norman eine Grillparty gab. Ich erkundigte mich, ob er inzwischen eine Freundin hat. Er meinte, die Richtige habe er noch nicht gefunden.
Von Dirk I. erzählte man sich, der sei früher, vor zehn oder fünfzehn Jahren, noch ein "Übeltäter und Frauenverführer" gewesen. Heute aber sei er wahrscheinlich seiner Frau treu, dabei würden sich nach ihm bestimmt nicht nur Frauen umdrehen.
Auf der Grillparty entstanden einige Scherzfotos, die Norman mir per E-Mail zusandte. Ehe ich auf der Party erschien, hatten die Gäste schon ordentlich getrunken und einen "Bratwurst-Grufti" gebaut. In dem Drahtgestell eines Sektkorkens klemmte die Bratwurst; als Kopf war eine Tomate aufmontiert, die Frisur bildete ein Erdnußflip, aus Alufolie war ein Ankh als Brustschmuck gebastelt worden, die Ärmchen waren Salzstangen, und rechts und links von der Gestalt flackerten Grablichte. Norman entschuldigte sich:

die hälfte der bilder ist aber auch dank des alkohols unscharf bzw. schief geworden :(

Mitte Juli zeigte der Musikkanal "Onyx" ein Interview mit Rafa ... sic, denn die anderen Bandmitglieder sagten so gut wie gar nichts.
Rafa wurde am Pfingstsonntag in L. interviewt, im Herrenhaus. Vor dem Beginn der Konzerte war im Merchandize-Bereich eine Wand mit Plakaten von Rafas Band W.E vollgeklebt worden, und davor saßen aufgereiht an einem Tisch Lucy, Dolf, Rafa und Berenice. Alle trugen ihre Bühnenkluft mit den Sonnenbrillen. Rafa spulte leise und hektisch seine eingelernten Formeln ab. Er erklärte, heutzutage werde doch nur alles schlechter, und er wolle mit einer Zeitmaschine zurück in die fünfziger Jahre reisen. Alle seien herzlich eingeladen, ihn zu begleiten. Diese Zeit sei die beste, die es je gab, "wunderschöne Frauen flanieren in Petticoats" und so weiter. Lucy, Dolf und Berenice saßen stumm und reglos da, nur Dolf sagte einmal "Jawoll". Schließlich zog sich Berenice auf Rafas Wink die Träger ihres Kleides von den Schultern und zeigte ihre entblößte Oberweite, worauf mit einem Schminkstift die Spendenadresse des Tierschutzvereins geschrieben war. Die Kamera hielt so kurz auf die Schrift, daß ein Mitschreiben unmöglich gewesen sein dürfte.
In Rafas Forum setzte ich am nächsten Tag als neues Thema "Der Zusammenhang?" und schrieb unter "until-dawn.de ":

Weshalb entblößt deine Freundin im Fernseh-Interview ihre Oberweite, um für den Tierschutzverein zu werben? Wo ist der Zusammenhang?

In der Nacht meldete sich Rafa unter "w.e / Funkhaus" zu Wort; er hatte die über mein Pseudonym abfragbare E-Mail-Adresse - in der ich mich "sara_hausser" nenne - geprüft und redete mich damit an:

Sehr verehrte Sara,
welchen Zusammenhang meinen Sie?
Zwischen der Brustentblößung von Soraya und dem damit verbundenen Aufmerksammachen auf die Adresse bzw. das Spendenkonto des Deutschen Tierschutzbundes?
Das muß wohl niemandem erklärt werden, oder?
Die Alternative wäre Nichts gewesen ...
Gesülze und Botschaftslosigkeit gibt es weiß Gott schon zur Genüge in diesen ganzen Interviews, die kein Mensch braucht.
Fakt ist doch, daß etwas gemacht werden muß ... wir machen etwas (in unserem "W.E-Stil").
Was machen Sie?
Hochachtungsvoll
w.e / Funkhaus

Morgens schrieb ich unter "until-dawn.de":

Was ich mache? Ich setz mich für die Menschenwürde ein, aber ausziehen muß ich mich dafür nicht. Das kann ich auch anders vermitteln.
Ein hehres Ziel, der Einsatz für Mensch und Tier, aber ich denke, man muß sich dafür nicht erniedrigen, indem man sich vor der Kamera entblößt.
Du hast Recht, es gibt viel Botschaftslosigkeit in Interviews. Und tiefgründige Botschaften zu vermitteln, ist nicht immer einfach. Ich denk aber, "Oben ohne" ist kein geeigneter Weg, für die Würde von Mensch und Tier zu werben.

Abends schrieb ein Forummitglied namens "Download":

Ist es nicht jedem seine eigene Sache, wie er / sie sich aktiviert??
Ich persönlich gebe JEDEM Engagement meine vollste Unterstützung (- solange es kein fanatistisches / extremistisches ist).
Wer keine Sorgen hat ... (der macht sich welche)

Ich antwortete:

Hat halt jeder seine Meinung zu dem Thema. Kommt halt immer auf die Sichtweise an.

Am darauffolgenden Abend schrieb Wave:

Ich persönlich fand diese Art von Werbung eine super Idee.
Mal angenommen, man sieht die Adresse auf einem Zettel, beachtet man sie kaum. Doch so hat diese Werbung bestimmt einige Leute angesprochen und dazu animiert, etwas zu spenden.

Während ich die Urlaubsvertretung in einer psychiatrischen Tagesklinik übernahm, eine Außenstelle von Kingston in PE., saß ich jeden Morgen mit dem Personal am Frühstückstisch und tauschte merkwürdige Erlebnisse und Geschichten aus. Wir unterhielten uns über eine Extremsportart von Jugendlichen, das "Halbschrankenfahren". Wenn es an Bahnübergängen nur Halbschranken gibt, kann zwar kein Auto zwischen den Schranken steckenbleiben, jedoch ist eine gefährliche Mutprobe möglich:
"Mal sehen, wie knapp vor dem Zug man noch durchkommt."
Gleich drei Leute, die dort arbeiten, haben mit mir etwas gemeinsam: Sie können Entspannungsübungen nicht ausstehen und werden davon aggressiv. Bisher kannte ich nur Leute, die Entspannungsübungen "herrlich" finden. Ich freute mich, mit meiner Abneigung gegen Entspannungsübungen nicht allein zu sein.
An Shara mailte ich:

Kürzlich soll einem Bungeespringer das Seil gerissen sein, und er soll (Wars nicht in DO.?) 150 m in die Tiefe gestürzt sein. Geflügeltes Wort: "Den Möllemann machen."

Shara antwortete:

Ja, das war im Park in DO., da wollte vor ein paar Wochen Victoires Bruder unbedingt springen. Jetzt male man sich die Situation mal aus. Ich war noch nie ein Freund solcher Sachen, aber wenn das nun bei ihm passiert wäre ... weia ...

Ich mailte:

Übrigens hat mir heute ein Steinmetz erzählt, es gibt einen Steinmetz-Szeneaufkleber:
"Euer Tod ist unser Brot."

Shara mailte:

Bei mir im Erdgeschoß wohnt ein Bestatter-Azubi, der Spruch paßt eher zu dem ;-)

Als ich Victoire von dem Bungee-Unfall mailte, antwortete sie:

Das hat mich ziemlich schockiert. Ich kannte den Turm naemlich ganz gut. Als mein Bruder das letzte Mal bei mir zu Besuch war, wollte er da runterspringen. Wir standen da schon davor, aber dann hatten wir nicht mehr genuegend Zeit.

Als ich eines Abends bei Constri war, legte Derek eine bunte Schaumstoffmatte auf seinen Teppichboden, die aus großen Puzzleteilen besteht. Auf diese Matte legte er Denise, die sich schon gut um ihre eigene Achse drehen kann. In Bauchlage versuchte sie, durch Aufstützen ihr Hinterteil anzuheben, um Krabbelhaltung zu erreichen. Sie war wütend, weil sie es nicht schaffte.
Derek bringt Denise das Fernsehen bei. Wenigstens läßt er meistens den Kinderkanal laufen.
Derek denkt sich gerne Rufnamen aus. Mich nennt er "Gustl", und Denise ist "Babyletta".
Derek machte über mich immer wieder Sprüche wie:
"Ich denk', ich seh' nicht recht! Die ist ja immer noch da!"
Constri fragte ihren Gatten:
"Derek, kannst du zu Gustl eigentlich auch mal was Nettes sagen?"
Nein, er konnte zu mir nichts Nettes sagen.
Als ich Derek fragte, was er zu Rafas Fernsehinterview und zu seinen Liedtexten meint, antwortete er:
"Gar nichts, ist einfach nicht mein Fall."
"Ich stelle mir gerade vor, wie es wäre, wenn ihr beide, du und Rafa, miteinander reden würdet."
"Kannst du dir nicht vorstellen, mit dem rede ich nämlich nicht."
"Warum denn nicht?"
"Weiß ich auch nicht, ist einfach nicht mein Fall."
Am 27. Juli wurde Klein Denise getauft. Constri hatte sich, nachdem ich sie lange bearbeitet und schließlich ermüdet aufgegeben hatte, doch noch darauf eingelassen, mehr als nur den Verwandten die Anwesenheit bei der Taufe zu gestatten. Constri befürchtete, Denise wäre die Gesellschaft zuviel. Das stimmte jedoch nicht; Denise wirkte zufrieden und schien sich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wohl zu fühlen.
Denises Paten sind meine Cousine Vivien, Dereks Schwester Delia, Denises Großtante Elisabeth, Elisabeths Mann Gustav - ein Bruder meiner Mutter - und ich. Constri hat Elisabeth und Gustav um das Patenamt gebeten, weil deren eigener Kinderwunsch unerfüllt geblieben ist und sie sich nun besonders um Denise kümmern und ihr viele schöne Geschenke machen.
Gustav - mit sechzig Jahren der älteste Pate - durfte Denise über das Taufbecken halten. Delia, die mit ihren sechzehn Jahren die jüngste Patin ist, durfte die Taufkerze halten. Die Kerze hatten Gustav und Elisabeth mit dem Taufspruch verziert:

Er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.
(Psalm 91,11)

Constri sang im Gottesdienst zum ersten Mal nach zwanzig Jahren wieder die Kirchenlieder mit. Aus Protest gegen das klösterliche Korsett des Mädchenchores, von dem wir uns vor zwanzig Jahren befreit haben, hatte sie nach dem Choraustritt kein Kirchenlied mehr mitgesungen. Jetzt, zur Taufe, sang sie für Denise.
Nach der Taufe gab es bei Constri und Derek einem Empfang mit Buffet und kleinen Snacks. Constri und Zoë erzählten, im Taufgottesdienst sei es ihnen schwergefallen, die Tränen zurückzuhalten.
"Und dann hat man kein Taschentuch dabei", seufzte Zoë.
Für dem Taufempfang hatte Constri zwei schöne Fotoalben mit Denises ersten Bildern zurechtgemacht, angefangen bei:
"Ich weiß noch nicht, daß ich schwanger bin!"
Sie verteilte farbige Zettel an die Taufgäste, auf die sie gute Wünsche für Denise schreiben konnten. Elaine schrieb, sie wolle immer für Denise da sein wie eine große Schwester. Ich schrieb:

Liebe Denise,
ich wünsche dir ein langes Leben und daß du immer gesund bleibst und bald ein Geschwisterchen bekommst.
Hetty

Delia erzählte, daß sie Eminem verehrt und daß sie mit einem Freund Schluß gemacht hat, weil er ihr zu brav und willfährig war. Sie möchte lieber einen Unartigen - wie Eminem.
Ich erzählte Delia, daß Constri 1991 Bill Leeb mit seiner Band Frontline Assembly live gesehen hat und daß er ihr gut gefiel. 1992 lernte sie Derek kennen, der Bill Leeb ähnlich sieht und auch andauernd Musik macht.
"Vielleicht brauchst du einen Mann, der Eminem ähnlich sieht", sagte ich zu Delia.
Elisabeth und Gustav wohnen in PA., wo Gustav einen Lehrstuhl für mathematische Logik innehat. Elisabeth meinte, daß man in PA. schon merkt, daß es am Rande von Deutschland liegt. Gustav sieht nirgendwo seine wirkliche Heimat und möchte deshalb auch nach seiner Pensionierung in PA. bleiben.
Meine Eltern kamen während der Tauf-Feier miteinander zurecht, was mich erleichterte. Ich denke, sie passen nicht zusammen, es ist aber doch wünschenswert, wenn sie wenigstens halbwegs unbefangen miteinander reden können.
Für alle Verwandten - auch für meinen Vater - gab es nach dem Taufempfang bei meiner Mutter noch Kaffee und Kuchen.
Rafa vermeldete in seinem Forum an der Stelle, wo er sonst seine nächste Anwesenheit im Chat ankündigt:

Nächster Direktkontakt mit dem Funkhaus: Momentan keine neuen Termine!!!

Was das bedeutet, kann ich mir denken: Rafa hat nicht vor, jemals wieder seine Anwesenheit im Chatroom anzukündigen. So kann er verhindern, daß ich ihm noch mehr Fragen stelle, auf die er antworten muß, wenn er sich nicht vor seinen Mitchattern bloßstellen will. Es scheint Rafa sehr wichtig zu sein, den Kontakt mit mir zu verhindern. Er ist bereit, dafür seine Anwesenheit im Chatroom zu opfern.
Ende Juli erhielt ich eine SMS von Ian, dem Verehrer:
"Habe mich schon ewig nicht mehr bei dir gemeldet und wollte einfach mal Hallo sagen! Wie geht es dir?"
"Vor allem müde, egal wie lange ich schlafe", antwortete ich. "Heute will ich noch in den Technotempel 'Fractal', das ist mittwochs ganz gut."
Darauf antwortete Ian nicht mehr.
Im "Fractal" traf ich Cyra, ihre Schwester Gracienne und Dina-Laura. Gracienne erzählte von ihrer Ehe. Ihr Mann sei zunächst der vollendete Kavalier gewesen. Gleich nach der Trauung jedoch habe er sie wie sein Eigentum behandelt und ihr vorschreiben wollen, was sie anziehen durfte, wenn sie ausging. Gracienne zog sich heimlich um und bekam später von ihrem Mann eine Szene. Am liebsten hätte er ihr verboten, ohne ihn abends wegzugehen. Nach zwei Jahren verließ Gracienne ihn und nahm den kleinen Sohn mit.
Dina-Laura erzählte, sie sei dabei, sich mit dem Vertrieb von Wellness-Produkten selbständig zu machen.
Ein Junge sprach mich an und bewunderte meinen langen schwarzen Spitzenrock. Ob ich ein bißchen gothicmäßig angehaucht sei? Das konnte ich bestätigen. Der Junge findet den Gothic-Stil schick und liegt damit im Trend, denn allmählich kommt der Stil wieder in Mode.
Gegen ein Uhr wurde die Musik tanzbarer, auch Musik von Chris Liebing wurde gespielt, außerdem "Derb" von Derb und "Twisted" von Svenson & Gielen.
Auf der Internetpräsenz von Dera und Darien habe ich mich in die Rubrik "No Function" vertieft. Hauptthema der Rubrik ist die Philosophie. Auf einer "PersonListe" stehen chronologisch geordnet die Namen von Verfassern philosophischer Texte; auch der Dalai Lama ist darunter. Ich mailte an Darien:

"No Function" ist eine raffiniert-minimalistisch gestaltete Domain mit viel innerem Zusammenhalt. Gibts dort bald auch ein Gästebuch, in das man einfach und unmittelbar Kommentare bzw. Anregungen schreiben kann?
In "PersonListe" bekommt man (sic!) den Eindruck, daß die Menschheit ausnahmslos aus Männern besteht (im Englischen nach wie vor "man"-kind), lediglich Ada Lovelace hat sich irgendwie dahin verirrt, wie ein Wesen von einem anderen Planeten.
Klar, früher war den Frauen jede anspruchsvolle Berufstätigkeit verboten. Die Ideen, die sie hatten, konnten sie höchstens ihren Männern zuflüstern, ohne daß ihre Namen in den Verfasserlisten erschienen. So kam sicher manch strohdummer Mann zu einem geistreichen Manuskript.
Auffallend ist, daß sogar im "aufgeklärten" 20. Jahrhundert in "PersonListe" (fast) keine einzige Frau zu finden ist. Wo sind die nur alle? Gibts die vielleicht gar nicht? Oder sind die keine Personen??
Naja. Vielleicht könnt ihr doch noch irgendwelche Frauen auftreiben, die irgendwann zwischendurch mal was Kluges gesagt haben.

Darien nahm dazu vorerst nicht Stellung, sondern tauschte sich mit mir über Schriftdeutung aus. Er hatte ein Graphologie-Programm entdeckt, mit dem man - angeblich - Charakterzüge aus dem Schriftbild ableiten konnte.
In Rafas Forum begann ich als "until-dawn.de" eine Diskussion über das Thema "Wer wird Messias?":

In "Lieber Gott" singst du:
"Ein neuer Sohn muß nochmal ran, der uns zum Lichte führt. Benutze mich dafür."
Weshalb eignest du dich besonders gut für die Aufgabe des Messias?"

Rafa antwortete nicht. Valerien schrieb:

Ich hab zwar nix damit zu tun, aber da ich gerade mal beim Tippen bin:
Also wenn ICH (z. B. im Auto) den Text singe, fallen MIR spontan diverse Gründe ein, die den Rahmen hier bei weitem sprengen würden ...
Zum Beispiel: jung, schön und modern ...
(Achtung: IQ über 5 erforderlich! :-)
Greetinx
Valerien

Ich antwortete:

IQ hin, IQ her, mir gehts darum, von Rafa selbst zu erfahren, weshalb er sich die Aufgabe des Messias für sich vorstellen kann.

Fan "Hypnoid" schrieb:

"Weshalb eignest du dich besonders gut für die Aufgabe des Messias?"
WER denn SONST???????????????
Gibt es Alternativen??
Er ist der Auserwählte. Schon immer gewesen!

Divina schrieb:

Mir wird es jetzt echt fast schlecht!
Warum, wer ... Messias??? Habt ihr sie nicht mehr alle? Wollt ihr jemandem hinterherlaufen? Erinnert mich irgendwie an das Dritte Reich. Ich sehe das eher als eine Metapher ... für mich ist jeder für sich selbst der Messias. Wer das nicht kapiert, braucht auch andere nicht als Messias sehen, denn so wird es eh nichts. Ein Einzelner wird das nie allein schaffen!
In jedem selbst steckt solch ein "Jesus", man muss ihn / sie ;) nur finden und zu nutzen wissen!

Wave schrieb:

Ganz recht, Divina.

Zu meiner Frage nach dem Zusammenhang zwischen Berenices "Oben ohne"-Vorstellung und dem Tierschutz schrieb Valerien:

Irgendwie / -wo / -wann gab's mal eine Demonstration lauter Nackter gegen die Pelzindustrie. Die waren alle splitterfasernackt - genau wie die Tiere, nachdem der Pelz genommen wurde ...
Das vielleicht zum Thema Zusammenhang.
WIE man auf sich aufmerksam macht, ist nun wirklich nicht ausschlaggebend, das WOFÜR ist viel wichtiger!
An dieser Stelle (und das soll keine Beweihräucherung unserer selbst, sondern lediglich ein Beispiel sein, daß es auch andere Wege gibt) sei auch mal darauf hingewiesen, daß durch den Hörerclub (und ergo auch durch W:E selbst) im letzten Dezember auch eine Zahl mit zwei Nullen an die SOS Kinderdörfer gegangen ist. Das als Fazit des Hörerclubtreffens 2002 und der Fanclubeditionen. Und das Schöne ist, daß das auch 2003 wieder funktionieren wird ... und das Ganze weiß außer einer Handvoll Leuten z. B. niemand (bis jetzt) ...
Ergo - EGAL wie man was tut, ob Aufmerksamkeit erregt wird oder nicht, Hauptsache ist: man TUT es.

Ich schrieb, weiterhin als "until-dawn.de":

Ja, die Kampagne "Lieber nackt als Pelze tragen" fand ich auch gut! Da war für mich der Zusammenhang zwischen Tierschutz und Ausziehen wirklich noch ersichtlich! Regt mich eh auf, daß Pelze jetzt wieder angesagt sein sollen; ich zieh sowas jedenfalls nicht an.

Hypnoid schrieb:

@until-dawn:
Du schriebst:
"Ein hehres Ziel, der Einsatz für Mensch und Tier, aber ich denke, man muß sich dafür nicht erniedrigen, indem man sich vor der Kamera entblößt.
[...]
Ich denk aber, "Oben ohne" ist kein geeigneter Weg, für die Würde von Mensch und Tier zu werben."
Dann:
"Ja, die Kampagne "Lieber nackt als Pelze tragen" fand ich auch gut! Da war für mich der Zusammenhang zwischen Tierschutz und Ausziehen wirklich noch ersichtlich!"
Widerspricht sich das nicht etwas?
WO IST DER Unterschied (zwischen "Lieber nackt als Pelze tragen" und der Interview-Aktion)??
Verstehe nicht, warum das eine für dich okay ist und das andere nicht.

Ich schrieb:

Diese Frage habe ich mir auch gestellt.
Weder das eine noch das andere würde ich selbst mitmachen. Aber "Lieber nackt als Pelze tragen" kann ich deshalb noch akzeptieren, weil es von der Botschaft her eher frech und anarchisch wirkt und unmittelbar mit dem Thema zu tun hat, wie bei den Menschen, die sich auf der Fußgängerzone in Hühnerkäfige setzen, um gegen die Massentierhaltung zu protestieren. Die Entblößung im Fernseh-Interview ließ sich für mich nicht mit dem Thema in Verbindung bringen und wirkte auf mich eher so, daß den Betreffenden nichts anderes einfiel, als auf diese Art auf den Tierschutz aufmerksam zu machen: "Im Zweifelsfall ausziehen, dann werden die Leute aufmerksam."

Während es Rafa nicht gelingt, zu dem Thema "Messias" Stellung zu nehmen, fällt es ihm umso leichter, über Kinderhörspiele zu plaudern, die ihn weit wegführen von seiner Lebenswirklichkeit. Er unterhält sich mit anderen Forummitgliedern begeistert über alte Hörspielkassetten, die angeblich bei ihm zu Hause noch immer "rauf & runter" laufen; er baue auch viele Samples aus diesen Kinderkassetten in seine W.E-Stücke ein. Als Zyniker würde ich dazu sagen:
"Das läßt ja tief blicken, was das Reifungsniveau betrifft."
Freilich enthielt ich mich im Forum jeder Stellungnahme, um Rafa nicht unnötig aufzuregen.
Rafa fachsimpelte über die Möglichkeiten, Kinderhörspiele und C64 miteinander zu verknüpfen:

Ich hatte Idee, die ganzen Hörspiele per C=64 zu digitalisieren.
Das Ganze ist natürlich nur via Massenspeicher möglich. Aber bei Hörspielen (Sprache) muss die Qualität ja auch nicht perfekt sein.
Mit einer SCPU (16MB) wäre schon Einiges machbar. Aber das Laden würde zu lange dauern.
Einzige komfortable Möglichkeit sehe ich in dem IDE64 Kontroller 2 x bis zu 8 GB am C=64. Das Funkhaus besitzt sogar so eine harte Ware, doch leider habe ich auf diesem Gebiet nicht viel getestet.
Fakt ist: Software & Hardware zum DIREKTEN Abspielen der "Samples" von eine IDE-Festplatte gibt es. Es müßte eigentlich nur mal gemacht werden. (... läuft dann aber auch nur, wenn man einen IDE64-Kontroller hat - welchen ich jedem C=64 nur wärmstens empfehlen kann!!!)

Rafa antwortet auch bereitwillig und ausführlich, wenn Rat bei technischen Problemen mit historischen Computern gesucht wird. Er tröstet:

Das bekommen wir schon wieder hin ; ).

Die dankbaren Fans übernehmen Rafas Jargon und bezeichnen den C64 als "perfektes Produkt".
Sanina schrieb mir eine E-Mail:

Wie war es denn im "Zone"? Waren Robin und Rina auch da? Würde auch echt gerne mal wieder ins "Zone", nur weiß ich nicht, wie ich damit umgehen werde, wenn ich die beiden sehe... Keine Ahnung, wie egal es mir sein wird oder auch nicht?! Ich denke, dass es mich nicht mehr sehr berühren wird, aber wohl eher ein wenig nerven. Ich wäre zumindest nicht ganz so frei. Naja, vielleicht hab ich ja Glück, wenn ich mal wieder ins "Zone" fahre und die beiden sind nicht da.

Ich antwortete:

Im "Zone" war ich am letzten Mittwoch nicht, ich will aber so bald wie möglich wieder hin.
Bislang waren Robin und Rina einfach jedes Mal im "Zone", erbarmungslos. Wahrscheinlich würdest du sie also sehen, wenn du mitkämst. Es ist die Frage, ob du dann die Erfahrung machen kannst, daß sie dir doch beide mehr oder weniger egal sind ... oder ob du Robin eben doch noch nachtrauerst. Man kann, glaube ich, bei solchen Wiedersehen ganz gut feststellen, ob einem am Ex noch was liegt.

Anfang August gab Claudius im Garten seines Elternhauses seine Geburtstagsparty. Dort traf ich ein punkig gestyltes Mädchen, das mich von einem Besuch im "XXL" in MD. kannte, wo sie vor einiger Zeit mit Cyra und mir und zwei weiteren Mädchen hingefahren ist. Aus ihrer Stimme sprach Verbitterung, als sie erzählte, sie hasse Cyra, die sei überheblich und falsch. Auf meine Frage, weshalb Cyra falsch sei, antwortete das Mädchen, Cyra habe genau bemerkt, daß sie im "XXL" einen Jungen gefunden habe, der sich ein wenig um sie bemüht habe, und genau diesen Jungen habe Cyra umgarnt und ihr weggenommen.
"Ich bin eben unsicher", sagte das Mädchen, "und ich passe äußerlich auch nicht zu dem Standard, mit dem Cyra sich abgibt."
Was sie an Cyra besonders abstoße, sei deren "Promi-Getue". Wenn irgendwo ein Musiker vorbeilaufe, werfe Cyra sich diesem sofort an den Hals.
Am Sonntag war Sator bei mir zu Besuch, und wir brannten CD's. Sator berichtete, Siddra sei mit ihrem neuen Freund beschäftigt und ziehe sich sehr zurück. Ich bin gespannt, was das für ein Freund ist. Ihr letzter soll sich in einem zwielichtigen Milieu bewegen und suchtkrank sein.
Wir saßen gerade beim Cappuccino, als ich eine neue Folge der Underground-Musiksendung bei "Onyx" aufnahm. Die Sendung begann mit dem Video zu "1000 weiße Lilien" von Rafa, das im Juli-Videovoting sogar das aktuelle Video "Küss mich" von In Extremo besiegt hat, bei einer Auswahl von drei Videos.
Sator findet Rafas Video klischeehaft, flach und plakativ. Das Video auf dem aktuellen Album von Sonar findet Sator eindrucksvoll und mitreißend. Es wurde mit wenig Aufwand gestaltet und zeigt nur, wie Dirk I. und sein Bandkollege Eric van W. sich an ihren Synthesizern gegenseitig aufheizen.
"Rafa wirkt auf mich eingemauert, steif und verklemmt", meinte ich. "Rafa läßt sich nicht gehen, er gibt sich nicht hin. Dadurch wirkt auch seine Musik steif und verklemmt, gestelzt und künstlich."
Sator erlebt Rafa ähnlich.
Im "Zone" traf ich Claire, Cal und Nancy. In Nancys Familie gibt es tatsächlich Chorea Huntington. Diese Erbkrankheit führt innerhalb von etwa fünfzehn Jahren zum Tode. Die Betroffenen leiden an Bewegungsstörungen, magern ab und werden geistig verwirrt. Nancys Vater ist an Chorea Huntington verstorben, ihre Schwester ist gesund, weil sie einen anderen Vater hat als Nancy. Nach Nancys Tod wird die Krankheit in der Familie erloschen sein. Nancy verzichtet auf Kinder. Sie ist dreiunddreißig Jahre alt und hat sich vor einem Jahr berenten lassen. Sie will die Zeit genießen, die ihr noch bleibt. Sie meinte, sie käme in eine Zwickmühle, wenn sie sich verlieben würde.
"Früher, als ich es noch nicht sicher wußte, habe ich meinem jeweiligen Freund noch von der Krankheit erzählt", sagte sie, "inzwischen aber würde ich, glaube ich, es erstmal nicht sagen."
Wer die Krankheit erbt, bei dem bricht sie auch aus, meistens zwischen dem fünfunddreißigsten und fünfundfünfzigten Lebensjahr, bei Frauen eher als bei Männern. Nancy will sich umbringen, wenn die Krankheit ausbricht.
"Mein Kater, meine Mutter, meine Schwester werden mich vermissen", ist sie sicher. "Meine Mutter nimmt dann meinen Kater. Meine Mutter und meine Schwester haben Verständnis für meine Entscheidung."
Cyra feierte ihren 30. Geburtstag im hinteren, "gemütlichen" Teil des "Restricted Area", der Lounge. Dort besteht der Boden aus Holzdielen, und es gibt eine hölzerne Theke. Treppauf stand ein provisorisches DJ-Pult, wo abwechselnd Dirk I., dessen "Right Hand" Peter, Hal, Cyra und einer von Cyras DJ-Kollegen auflegten, wann und wie sie gerade Lust hatten. Dirk begrüßte mich mit Handschlag.
"How are you?"
"O.k. ... and how are you?" fragte ich.
"I'm fine!"
"And pretty drunk ...?"
"Ohh no ... I'm not drunk ...!" versicherte Dirk.
"No, you've never been drunk in your life", war ich sicher.
"Never", bestätigte Dirk und versuchte, mit einem Cocktailspieß die mit Schnaps versetzte Götterspeise aus einem Gläschen herauszubekommen.
"Geil", sagte ich.
"Geil", nickte Dirk, der das Wort kennt.
Cyra trug ein großes Tablett herum mit vielen dieser Götterspeisen, in unterschiedlichen Farben. Ich nahm auch eine und hatte ebenfalls Mühe, mit dem Cocktailspieß das Gläschen leerzubekommen. Zwischendurch kam ein Junge vorbei und wollte mit mir anstoßen. Wir stießen an, mit seinem Bier und meiner Götterspeise.
Es war - und ist schon seit Wochen - sehr heiß. Ich hatte, wie in der vorherigen Nacht, meine schwarze Trägercorsage an, dazu die langen Satinhandschuhe, den langen Spitzenrock mit den vielen herunterhängenden Schleifenbändern und ein Drahthäkelcollier mit Straßsteinen um den Hals. Solche "Auftritte" lieferten auch andere: hübsch aussehende Jungs in transparenten T-Shirts und trendigen Hemden, mal mit kajalumrandeten Augen, kahlgeschoren, spraygestylt, und dazu die Damen in sommerlich knapper Garderobe. Dina-Laura trug ein schneeweißes Oberteil, das viel Haut zeigte.
"Ein Club der Selbstdarsteller", dachte ich, "aber sie lassen einander leben und gehen einander nicht auf die Nerven."
Stattdessen bewunderten wir uns gegenseitig, ein weit konstruktiverer Umgang mit der Sehnsucht nach Aufmerksamkeit und Wertschätzung.
Maurice erzählte, daß er mit einigen Freunden am frühen Abend für Cyra einen kleinen Parcours aufgebaut hatte, den sie mit einem Steckenpferdchen bewältigen mußte, um sich ihre Geschenke zu erarbeiten. Er war nicht sicher, ob Cyra da mitmachen würde. Sie tat es aber, mit viel Vergnügen.
Unter anderem hatte Cyra ein Reiterjournal für Mädchen zwischen acht und zwölf Jahren geschenkt bekommen, in Rosa gehalten. Von Dirk hatte sie eine vergriffene Doppel-Vinyl-Ausgabe von Sonar bekommen und von Hal einen gewaltigen Strauß mit blauen und weißen Rosen, der in einer Vase auf einem Tischchen stand, wo die meisten Geschenke lagen. Maurice hatte Cyra einen Gutschein geschenkt für ein gemeinsames Wochenende in Amsterdam. Die meisten Gäste - auch ich - schenkten Cyra Geld, damit sie sich die ersehnte CD-Tasche kaufen konnte, die praktischer war als die schweren, kantigen DJ-Koffer.
Cyra strahlte, weil Hal wider Erwarten auf ihrer Party erschienen war, zwischen zwei DJ-Sets und lauter engen Terminen. Hal blieb sehr lange, ebenso wie Dirk und Peter.
Peter fragte mich, ob mein Spitzenrock nicht zu warm sei. Ich erklärte, daß ein kurzer Rock mit Strumpfhose noch viel wärmer sei und daß ich unter einem langen Rock keine Strumpfhose tragen müsse.
"Ah, you don't wear anything under your skirt", interpretierte er, winkte aber gleich ab und wollte das ungehört wissen.
Hal saß meistens an der Theke. Er trank Bier, tippte auf seinem Palm und lobte die Macintosh-Rechner. Diesem Lob konnte ich mich anschließen.
"Du sprichst hervorragend deutsch", lobte ich Hal.
"Alles vom Reden und Zuhören", war er stolz.
"So lernt man es am besten", meinte ich.
Cyra und Maurice umarmten und küßten sich. Cyra betonte, daß sie Maurice als Partner sehr schätzt. Ich vermisse allerdings das Flackern in ihren Augen, wenn sie von ihm redet.
Cielle hatte gute Laune und mußte nicht immer an Ginet denken.
Ein ziemlich betrunkener Herr fragte mich, wo ich meine Handschuhe gekauft hätte. Sie würden ihn an die Boutiquen in B. erinnern. Ich meinte, ich müßte mal wieder in B. einkaufen gehen.
Peter fragte, ob ich am Wochenende beim Sommerfestival in HI. sein würde. Ich verneinte mit dem Hinweis auf die sanitären Anlagen. Peter entgegnete, wenn man bestimmte Leute kenne, habe man die Möglichkeit, die Toiletten im VIP-Bereich zu nutzen. Ich erwiderte, ich würde viele Leute kennen, doch hätte ich bisher nicht versucht, sogenannte "Beziehungen" zu nutzen, um Vorteile zu erwerben, auch in bezug auf Gästelisten:
"I don't like begging."
Peter nickte verständnisvoll.
Ich erzählte Peter und Dirk von meiner Skepsis gegenüber der neuen "Maschinenraum"-Location. Es gehe mir vor allem um den Zustand der Toiletten, welche im Bunker in AC. eine Katastrophe seien. Dirk sagte dazu, vorher wisse es eh keiner, ich solle einfach hingehen. Er trete mit dem Projekt Sonar auf und werde alle neuen Sachen spielen.
"I'm a slave to the rhythm", erzählte ich.
Wenn ich bestimmte Rhythmen höre, müsse ich einfach tanzen.
Bei Cyras Party gab es sehr tanzbare Musik, unter anderem "Mass Effect" von Alphascan, "Der Sheriff" von DAF in der Abmischung von Hal, "Strap me down" von Leæther Strip, "Mein Schweiß" von Sven Väth und "Gassenhauer" von Chris Liebing.
Als "Beloved" von VNV Nation kam, sang Hal an der Bar den Text in seine Bierflasche - als wäre sie ein Mikrophon - und deutete ein paar Bewegungen an, die er bei Konzerten verwendet. Die Routine war ihm anzumerken und gleichzeitig die Freude am Musizieren und Auftreten.
Dirk und Hal waren gleichermaßen in gelöster Stimmung, und ich hatte den Eindruck, daß das eine oder andere Bier dabei eine wesentliche Rolle spielte. Sie sind im nüchternen Zustand weniger zutraulich und selbstsicher. Von Peter hatte ich den Eindruck, daß er um scherzhafte Sprüchlein nie verlegen ist, auch nicht, wenn er nüchtern ist. Ich hatte außer einem halben Schnapsgläschen Götterspeise "mit Schuß" nur Cola und Saft mit Wasser und konnte mich von der Laune der anderen anstecken lassen, steckte sie auch selbst an. Als "Cowgirl" von Underworld lief, steckten sich alle gegenseitig an, so daß ich oben neben dem DJ-Pult tanzen mußte, weil unten kein Platz war. Dirk packte Peter, schüttelte ihn, sank auf die Knie und betete ihn an. Die beiden vollführten eine Art Pogo.
Hal ist begeistert von der Band Underworld. Sie sollen sehr nett sein, "ganz normale Menschen". Hal mag es nicht, wenn Musiker nur ihrem Ego huldigen und glauben, sie seien etwas Besseres. Dem konnte ich lebhaft zustimmen.
Die Ballade "Forever" von Brüderschaft begann, ein Projekt, bei dem Hal mitwirkt. Hal meinte, hierzu müsse ich unbedingt tanzen. Ich ging auf die Tanzfläche. Mir gefällt das Stück wirklich sehr.
Ich erzählte Dirk von meinem Beruf und fragte ihn, was für einen Beruf er hat, abgesehen von seiner musikalischen Arbeit. Etwas verlegen antwortete er:
"Musician."
Da fragte ich nicht weiter nach.
Als ich Dirk erzählte, daß ich ihn schon 1989 mit Mark V. als "Klinik" live gesehen habe, verriet er, daß es eine Reunion für ein Festival in Antwerpen geben werde, da müsse ich unbedingt hin.
"Antwerpen - it's so far away", wandte ich ein.
Er entgegnete, ich solle eben einfach hinfahren. Mark und er würden all die Clubhits von früher spielen.
"'Cold as ice'", erinnerte ich mich.
Dirk zählte noch mehr Stücke auf.
"I know them all, nearly all, and I have nearly all of them on CD", berichtete ich, "but I cannot remember all the titles. It's such a long time."
Ich erzählte Dirk, daß ich seit zwanzig Jahren regelmäßig in Discotheken gehe.
"How old are you?" erkundigte er sich.
"Thirty-seven."
"You look younger."
"Just like you", meinte ich. "You look much younger than you are."
"I'm fourty-five."
"I know, Cyra told me."
Ich beschrieb meine "Frischhalterezepte":
"I sleep every night in a deep-freezer. - No, I don't sleep every night in a deep-freezer. But no cigarettes, no alcohol, no drugs ... I mean - you are smoking, but you look young anyway ... "
Als ich Cyra erzählte, daß Dirk I. und Mark V. wieder als Klinik auftreten wollen, war sie fassungslos vor Begeisterung. Dirk mußte es ihr gleich noch einmal bestätigen.
Weil es so heiß war, fächelte ich mir und den Umstehenden mit meinem Fächer Luft zu.
"You have very quick movements", staunte Peter.
Timon befühlte meine bloßen Arme, um festzustellen, wie sie funktionieren.
"This is electronic music", meinte Hal.
Man könne solche Bewegungen nicht von Hand machen, wenn man Stahlwerkzeuge verwendete, aber "a woman with a fan" könne offensichtlich, was ihm unmöglich erschienen sei.
"Amazing", fand er und ließ sich befächeln.
Timon betrachtete die Szene und sagte:
"Männer sind einfach."
Als ich mich verabschiedete, verlangte Dirk noch einmal:
"And you must come to the festival."
"We wish you to come", sagte Peter.
Von den Herren gab es Bussis.
"Jedenfalls habe ich mich hier wirklich amüsiert", dachte ich.
Cyra war mit ihrer Party sehr zufrieden. Es seien so wichtige Leute dabeigewesen.
"Ja - Maurice, deine Schwester, deine Eltern ...", meinte ich.
"Dirk! Hal!" kam es von Cyra.
Am Samstag gab es ein Salatkränzchen bei Bertine und Hakon. Sie sind zusammengezogen. Ihre Wohnung liegt in einer beschaulichen Gegend. Hinterm Haus gibt es einen großen Garten, den sie mitbenutzen können. Dort saßen wir an einem langen Holztisch. Weil es ein Damenkränzchen war, hielt Hakon sich abseits. Weiter hinten im Garten machte er es sich auf einem Liegestuhl bequem und las. Ich fragte Bertine, ob sie Hakon bei Ebay ersteigert habe.
"Ich habe ihn aus dem Depeche Mode-Fan-Forum", erzählte Bertine. "Wir haben uns im Forum so gut unterhalten, daß wir uns näher kennenlernen wollten."
Sie findet Hakon praktisch, zuverlässig und fürsorglich. Ihr abgelegter Freund C.A.D. fahre ein Angeber-Auto und mache Angeber-Urlaub, das sei doch völlig hohl, den wolle sie bestimmt nicht mehr.
Bertine will nun doch etwas eher Kinder haben als ursprünglich geplant. Deshalb wollen sie und Hakon nicht, wie eigentlich besprochen, im Sommer 2004 heiraten, sondern bereits dieses Jahr im September. Und sie wollen nun doch nicht nur Verwandte an der Feier teilnehmen lassen, sondern auch Freunde.
Layana erzählte, daß sie eine abgeschlossene Ausbildung als Landschaftsgärtnerin hat. Sie studiert Landschaftsgestaltung, um an anspruchsvollere Aufgaben heranzukommen. Kinder wollen sie und ihr Freund Levin nicht haben. Layana hat Kinder gern, kann sich aber die Mutterrolle nicht für sich vorstellen.
Am Montag schrieb mir Sándor eine SMS. Er sei in H.; ob wir uns treffen wollten? Abends trafen wir uns am CITICEN und aßen im "Rondell" zu Abend. Ich betrachtete ein Wandbild, einen Großdruck der "Geburt der Venus" von Botticelli.
"Da stimmen die Proportionen nicht", stellte ich fest. "Aber darauf scheint es in der Kunst nicht so anzukommen."
Sándor erzählte, er sei froh, daß der Hochzeitsrummel vorbei sei. Er habe keinen Wert auf eine große Feier gelegt, in den Familien von Marena und ihm sei das jedoch so üblich und daher unvermeidlich gewesen. Marena ist auch Lehrerin, wie er; beide verdienen recht gut.
Ich erzählte, Rafa idealisiere die fünfziger Jahre; er halte sie für ein "vollkommenes Jahrzehnt".
"Ich bin froh, daß ich da nicht gelebt habe", meinte Sándor. "In Ungarn mußtest du damals nur falsch gucken, schon warst du tot."
Im "Cinnamon" schauten Sándor und ich uns "Terminator 3" an. "Terminator"-Darsteller "Arnie" parodiert sich selbst, indem er statt der coolen Spiegelbrille zunächst eine Sternchenbrille aufprobiert. Weil sie ihm nicht gefällt, macht er sie kaputt; so einfach ist das. In dem Film muß er gegen eine Terminatrix kämpfen, die ich hinreißend finde. Mit rosa Kroko-Kostüm und geflochtenem Dutt rennt sie wie eine aufgezogene Spielzeugfigur hinter ihren Opfern her und fährt riesige Baufahrzeuge zu Schrott. Es wirkt wie eine Materialschlacht im Kinderzimmer. Am schönsten finde ich die Szene, in der sich Terminator und Terminatrix mit Toilettenbecken verprügeln.
Sándor bedauerte, daß er am Freitag nicht ins "Verlies" kommen konnte, wo Cyra auflegte, denn er mußte vorher zurück nach Ungarn. Er bat mich, Cyra, Seraf und Morgan von ihm zu grüßen.
Am Mittwoch fragte mich Nancy im "Zone", ob ich mir vorstellen könnte, mit einem anderen Mann als Rafa zusammenzusein.
"Mein Leben hat nur durch Rafa Farbe und Struktur erhalten", erklärte ich, "und je seltener ich zu ihm Kontakt habe, desto farbloser und trister ist mein Leben. Durch Rafa komme ich mir selbst näher. An ihn denke ich seit Februar 1993 vierundzwanzig Stunden am Tag. Daran kann ich doch erkennen, welche Bedeutung er für mich hat. Über niemanden mache ich mir so viele Gedanken, um niemanden sorge ich mich so, mit Ausnahme vielleicht von Delia. Delia ist klein und hilflos und die Zukunft. Daß Rafa raucht, macht mich innerlich rasend. Daß Rafa mit anderen Frauen geht, ist für mich eine Katastrophe, mir wird übel davon."
Wenn andere Männer Freundinnen haben, berührt mich das nicht. Wenn andere Männer rauchen, berührt mich das weit weniger als bei Rafa.
Am Freitag war ich im "Verlies" und grüßte Cyra von Sándor. Cyra erzählte, daß sie auf dem Sommerfestival in HI. Girlie-Shirts verkauft hat und daß sie viel Arbeit hatte und wenig Pausen.
Als ich zu Maurice sagte, mit Hal würde ich mich gern mal länger unterhalten, weil man mit ihm gut reden könne, meinte Maurice, er sehe das nicht so. Er habe nicht den Wunsch, sich mit Hal zu unterhalten. Er habe auch noch nie mit ihm geredet.
"Eifersucht", dachte ich. "Die Beziehung von Cyra und Maurice hält nicht."
Lilith erzählte, sie sei verliebt in Ginet, wisse aber nicht, ob sie Chancen bei ihm habe. Ich erzählte von Rafa; der wolle nicht mit mir zusammen sein und habe schon oft gesagt, er habe Angst vor mir.
"Kann das sein, daß er Beziehungsangst hat?" fragte Lilith.
"Er nimmt immer Reißaus, wenn Nähe entsteht", meinte ich, "ein Näherkommen."
Lilith meinte, sie könne sich nicht vorstellen, daß vor mir jemand Angst habe. Ich erzählte von meiner Vermutung, daß Rafa vor Gefühlen davonlaufen will.
"Vielleicht", meinte Lilith, "er lebt ja auch in seinen eigenen Welt, das merkt man an der Band. Deshalb mögen den ja auch viele nicht. Das ist ein Kasperltheater ... alle müssen ihm nach dem Mund reden."
Am Samstag war ich im "Lost Sounds". Dolf war mit seiner blonden Freundin da, von der man sich erzählt, man wisse nicht, ob sie wirklich mit ihm zusammen sei. Berenice war mit Kitty da; die beiden hielten sich weit entfernt von Dolf an der hinteren Bar auf. Berenice hatte die Haare lose aufgesteckt und trug ein schlichtes langes Kleid. Kitty trug eine freizügige Corsage, Glamour-Makeup und einen verzierten Zopf. Berenice tanzte selten, Kitty sah ich häufig auf der Tanzfläche, wo sie sich in Pose warf, auch unabhängig vom Rhythmus. Sie reckte die Arme hoch wie eine Skulptur. Seraf war mit Chantal im "Lost Sounds". Chantal erzählte mir, sie habe Seraf noch nicht gefragt, ob er zur Zeit eine Freundin hat. Ich grüßte Seraf und Morgan von Sándor, und sie baten mich, Sándor herzlich zurückzugrüßen. Ich erzählte ihnen, Sándor sei in Ungarn glücklich verheiratet, habe eine Beamtenstelle und vermisse die Menschen und die Parties in H.
Als Chantal fort war, sah ich, wie Berenice Seraf vor der Theke anlächelte und sie sich umarmten. Mit Jas sah ich Berenice auch; sie unterhielten sich.
Shirley meinte, irgendetwas müsse Rafa und Berenice verbinden, sonst wären sie nicht schon so lange zusammen.
"Abhängigkeit ist ein starkes Band", meinte ich. "Jeder füttert das Ego des anderen. Sie fühlt sich durch ihn wichtig, und er verwendet sie, um sich darzustellen."
Rafa stellt Berenice in der Öffentlichkeit meistens als seine Freundin zur Schau, in anderen Zusammenhängen jedoch erwähnt er sie nicht oder verleugnet sie gar. Mir ist aufgefallen, wie häufig Berenice auf ihrer Homepage "Rafa und ich" schreibt; das tut Rafa auf seiner Homepage nie. Nirgends ist dort zu erkennen, daß Berenice und er ein Paar sind.
Janet trug ein schlauchförmiges Lackkleid mit Armstulpen. Sie knutschte mit einem "Headbanger", einem Rocker mit Wuschelhaaren, ihrem jetzigen Freund. Sie erzählte, in der "Metaller-Szene" seien die Leute offener und unbefangener, das gefalle ihr. In der Szene der Schwarzgekleideten seien ihr die Leute zu arrogant.
"Meistens sind sie nur unsicher", wandte ich ein.
"Oh, hab' vielleicht auch Vorurteile", meinte Janet.
Ihr "Headbanger" wollte mir einen seiner Freunde "verkaufen", der gerade allein sei.
"Ohh, nicht den, der säuft!" rief Janet. "Nee, der nicht!"
Mit Beatrice war ich in der kommenden Woche wieder essen beim Griechen. Wir unterhielten uns über Vertrauen.
"Auch wenn man durchweg ehrlich ist, kann es sein, daß einem nicht vertraut wird", teilte ich meine Erfahrung mit. "Rafa habe ich immer meine Zuwendung gezeigt, und er hat sie mir doch nie geglaubt."
"Na, wenn jemand sich für nicht liebenswert hält, wie soll er dann glauben können, daß ihn jemand liebt?" gab Beatrice zu bedenken.
In Rafas Forum fragte ein Fan namens Giacinta nach Autogrammen. Rafa antwortete als "w.e":

Guten Tag Frau Giacinta,
das wird wohl das kleinste Problem.
Da wir ja nicht unbedingt zu denen gehören, welche sich permanent in diversen Hinterderbühneräumen verstecken, werden Sie uns spätestens nach dem Konzert an unserem Messestand antreffen bzw. einen der Moderatoren einfach ansprechen.
Bis dahin und hochachtungsvoll
w.e

"Der hat gut reden", dachte ich, als ich das las. "Auch Cyra ist schon aufgefallen, daß Rafa sich gerne im Backstage verkriecht."
Wave gibt Giacinta im Forum weitere Tips:

Um an Autogramme von W.E zu kommen, machst du einfach folgendes:
1. Präge dir die Gesichter der Moderatoren / Moderatorinnen des Senders ein
2. Schaue auf der Aftershow-Party oder am Merchandising-Stand, ob du die Gesichter wiederfindest (in der Regel 30 - 60 Minuten nach dem Konzert)
Oder fahr auf ein HCT... meinen handsignierten C64 und das Poster bekommste allerdings net *g* der C64 is hinter ner Glasvitrine und das Poster hat einen schönen Platz an der Wand ... ;-)

Angeldust jubelt:

ich hab ein autooogramm ... rumhüpf
ich bin soo megastolz auf mich ... und im oktober bin ich wieder aufm konzi dabei ... froi

Überheblich und entwertend zeigt sich Rafa in seiner C64-Rubrik:

Alle Diskrepanzen zwischen COMMODORE und ATARI gehören ja längst der Vergangenheit an. Wenn man bedenkt, daß Shiraz Shivji, der Vater unseres C64, nach seinem Verlassen von CBM zu ATARI ging und dort den ATARI 1040ST entwickelte, so sind heute alle Atarianer und alle Commodore-Freaks, zur Elite der Menscheit gehörend, schon immer eine Familie gewesen.

Weshalb jemand, der einen bestimmten Computer besitzt, zur "Elite der Menschheit" gehören soll, erklärte Rafa nicht. In Rafas Forum schrieb ich als "until-dawn.de" unter dem Thema "Elite":

Du schreibst in deiner C64-Rubrik:
"Wenn man bedenkt, daß Shiraz Shivji, der Vater unseres C64, nach seinem Verlassen von CBM zu ATARI ging und dort den ATARI 1040ST entwickelte, so sind heute alle Atarianer und alle Commodore-Freaks, zur Elite der Menscheit gehörend, schon immer eine Familie gewesen."
Weshalb gehören Menschen, die bestimmte Computer verwenden, zur "Elite der Menschheit"?

Rafa antwortete nicht. Einige Stunden nach dem Eintrag - es war Mittag - klingelte einmal das Telefon. Als ich den Hörer abnahm, war die Verbindung schon unterbrochen. Jedoch bezweifelte ich, daß Rafa noch immer bei mir Telefonstreiche machte.
Darien hat mir CD's mit Reden vom Dalai Lama geschickt. Ich mailte:

Danke für die Dalai-Lama-CD's!
Interessant und mir zum Teil schon vertraut, da ich mich schon mal bißchen über Buddhismus informiert habe.
Die Ansichten tragen sicher zur Verständigung zwischen den Menschen und den Völkern bei ("wir sind alle eine Familie").
Der Dalai Lama ist vor allem Mönch und Politiker, und das ist seinen Worten auch zu entnehmen. Daß ihm Erfahrungen fehlen mit Sinnlichkeit und privater Liebe als Träger von Glück, ist insofern erkennbar, als er darauf kaum eingeht. Er polarisiert zwischen materiell definierten Glück und geistig definiertem Glück. Daß Glück auch dadurch entstehen kann, daß man in enger Verbundenheit mit seinen Vertrauten lebt und mit ihnen ein sehr privates Stück Welt aufbaut, jenseits von Materialismus oder geistiger bzw. geistlicher Sinnerfüllung, scheint er sich gar nicht vorstellen zu können, bzw. gar nicht zu wissen. Daß Glück nicht notwendigerweise heißt, allem Leiden zu entgehen und ausschließlich Freuden zu genießen, weiß wahrscheinlich nur der, der privat und persönlich liebt.
Bei Khalil Gibran (wer das auch immer ist, jedenfalls ist der Spruch ziemlich bekannt) heißt es:
"Aber wenn du in deiner Angst nur die Ruhe und die Lust der Liebe suchst,
Dann ist es besser fuer dich, deine Nacktheit zu bedecken
und vom Dreschboden der Liebe zu gehen
In die Welt ohne Jahreszeiten,
wo du lachen wirst, aber nicht dein ganzes Lachen,
und weinen, aber nicht alle deine Tränen."
Glück heißt für mich nicht Freiheit von Leiden, sondern es besteht für mich im Kontakt zu einem ganz bestimmten Menschen, den ich liebe (Rafa). Was sich aus diesem Kontakt entwickelt, ist mein bzw. unser Werk bzw. zeigt die Zukunft.
Im Grunde suche ich also nicht nach einem Glücksbegriff, sondern nach einem Menschen, eben Rafa.
Was das Materielle betrifft, so stimme ich dem Dalai Lama insofern zu, als materielle Dinge allein gewiß nicht sinnerfüllend sein können. Den Umkehrschluß, daß materielle Dinge der inneren Erfüllung im Wege stehen, halte ich jedoch nicht für zutreffend. Materielle Dinge können Symbole sein, Träger von Erinnerungen und Zeichen von Verbundenheit, Ausdruck des eigenen Wesens, Botschaften an die Umwelt. Sie sind mir deshalb überaus wichtig, allerdings nur insofern, als ich ihnen eine Bedeutung zumesse, die über das reine "Habenwollen" weit hinausgeht. Für mich geht es nicht ums Sammeln und Raffen, sondern darum, mich über mein selbst gestaltetes Umfeld zu definieren, ebenso wie sich meine zwischenmenschlichen Beziehungen zum Teil auch in materiellen Dingen (Geschenken) ausdrücken.
Ich glaube, der Dalai Lama kann sich nicht zugestehen, an seiner Einstellung ("Nur Armut und Demut führen zum Himmel!") zu zweifeln, weil er sonst sein Selbstbild und sein Weltbild in Frage stellen müßte. Also versucht er (kompensatorisch?), die Menschen zu Mönchen und Nonnen zu erziehen, die ihre Sehnsucht nach Sinnlichkeit und Sinnenfreude ebenso verleugnen, wie er es tut.
Ich bin der Meinung, daß der Mensch ein Individuum ist und daß das, was für den einen gut ist, für den anderen noch lange nicht passen muß.
Der Dalai Lama polarisiert auch Egoismus und Altruismus. Wer für sich sorgt, sorgt nicht für andere und umgekehrt - glaubt er zumindest. Daß Fürsorge für andere und für sich selber jedoch Hand in Hand gehen - denn warum soll die eigene Person weniger wert sein als andere, wenn doch alle Menschen gleich viel wert sind? - finde ich in der christlichen Lehre wieder ("Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!"), mit der ich mich nicht zuletzt deswegen wesentlich besser identifizieren kann.
Menschen, die immer nur "gut" sein wollen bzw. es immer nur allen recht machen wollen und sich selbst nichts gönnen, tun dies zumeist aus einem gestörten Selbstwertgefühl heraus. Einige glauben, nur akzeptiert zu werden, wenn sie ausschließlich für andere da sind; andere wiederum setzen sich den caritativen Heiligenschein auf, um sich durch demonstrative Demut herauszustreichen (wie der Dalai Lama).
Beides führt zu unterschwelligen Aggressionen, die sich gegen die eigene Person oder gegen die mitmenschliche Umwelt richten. Davon hat keiner was, finde ich.
Der Dalai Lama wirbt für Frieden und Mitgefühl, für mich durchaus überzeugend. Was mich an ihm weniger überzeugt, ist sein unverkennbarer Missionierungsdrang und sein Dogmatismus. Er predigt, er selbst gehe den einzig seligmachenden Weg. Er hinterfragt nicht seine Lebenseinstellung und bringt diese Einstellung nicht mit seiner persönlichen Biografie in Verbindung. Er verkauft sich als unfehlbar und als eigentlich schon fast überirdisch unschuldig und rein.
Ich denke nicht, daß es in der menschlichen Natur liegt, sich selbst zu verleugnen.
Ein althergebrachtes Frauenideal z. B. verlangt von jeder Frau die totale Selbstlosigkeit.
"Ich war immer nur für meine Familie da!" sagt so manche ausgebrannte Hausfrau, die den Mitmenschen beständig ihre eigene Wertlosigkeit vermittelt hat und nun nicht versteht, weshalb ihre Kinder sie nur ausnutzen. Sie hat sie durch ihre Selbstaufgabe zu rücksichtslosen Egoisten erzogen. Damit hat sie der Menschheit gewiß keinen Dienst erwiesen.
"Wer für andere sorgen will, sollte auch für sich selbst sorgen können", das ist meine Meinung, "denn wenn alle gleich viel wert sind, ist man selber doch nicht weniger wert als die anderen."
Es ist paradox, zu predigen, daß jeder Mensch gleich viel wert ist, nur man selber ist weniger wert. Das hieße doch, daß alle anderen Menschen sind, nur man selbst nicht.
Wenn mich übrigens jemand nach dem Sinn des Lebens fragt:
Er besteht für mich darin, eine Familie zu haben. Das heißt für mich aber nicht, daß ich meine Bindungen an Verwandte und Freunde in einem solchen Falle verleugnen würde, im Gegenteil; sie sind alle viel wert, für jede Beziehung habe ich Verantwortung, und wenn ich mich nur um Partner und Kinder kümmern würde, würde ich mich und andere isolieren und damit die Familie eventuell zerstören.
Oft begegnen mir auf der Arbeit Menschen, die es versäumt haben, sich außerhalb von Partnern und Kindern ein soziales Gefüge aufzubauen und zu pflegen. Wenn deren Kinder aus dem Haus sind und dann noch der Partner stirbt oder sich trennt, sind sie einsam. Und ihre Freunde, um die sie sich nicht mehr gekümmert haben, sind ebenfalls einsam.
Zwischenmenschliche Bindungen sind also für mich das eigentlich Tragende und Erfüllende, mit all ihren Lichtblicken und Abgründen. Ins Nirvana will ich nicht, keine Zeit, keine Lust. Habe im Hier und Jetzt genug zu tun.

Constri und ich haben für Bertine zum Geburtstag einen Mini-IKEA-Katalog gebastelt, aus einem Stück von einem Notizblockwürfel und einem alten IKEA-Katalog. Wir gaben den Artikeln vertraut klingende Namen - Papierkorb ÅBGRUND, Sessel UNBEKVEM, Couchtisch ZERBREKLIK, Computer APSTURZ, Tischleuchte STRØMÅUSFÅLL, Dekostoff HÆSLIK, Knoblauchzehe STINKT. Außer Möbeln boten wir auch Personen an, etwa den munter in der Küche abspülenden Hausmann LASSE für 29,- € pro Stunde. Das Highlight waren die "Hausfreunde im Sechserpack", sechs ansehnliche Männer in einer Wohnstube für 2995,- € pro Stunde.
Die Reihe merkwürdiger Namen für Einrichtungs- und Haushaltsgegenstände läßt sich beliebig erweitern, wenn mal einmal damit angefangen hat, sich welche auszudenken (BLAMÅGE, TATSÆCHLIK, ÅBSURD, SKONTO, INKÅSSO, UNFÅLL ...)
Während wir bastelten, aß Denise Teile des alten Katalogs und trug auch durch eigene Ausrisse zu unserer Kataloggestaltung bei. Constri zog Denise ein zu großes Stück Papier aus dem Mund, damit sie sich nicht verschluckte. Am nächsten Tag fand Constri in Denises Windel Katalogfetzen.
Um Derek gab es wieder einmal Aufregung. Nachdem seine befristete Stelle bei einer Aluminiumfirma endete, begann er eine Umschulung zum Altenpfleger. Ray berichtete, man habe Derek sofort in die "Zombieabteilung" gesteckt, die Station für schwer Pflegebedürftige. Derek fühlte sich überfordert mit so viel Elend und wollte alles hinwerfen. Inzwischen hat Derek an einem Eignungstest für Altenpflege teilgenommen und als einer von wenigen bestanden, obwohl er diesbezüglich keine Vorbildung besitzt. Er wurde dringend gebeten, es sich noch einmal zu überlegen; man sehe ein, es sei nicht richtig gewesen, ihn gleich zu Anfang auf die Pflegestation zu schicken.
Als Derek jetzt ein neues Praktikum beginnen wollte, bekam er aufgrund einer Mißverständnisses zunächst die Auskunft, er sei gar nicht für einen Praktikumsplatz registriert. Derek tat wieder einmal das, was Constri und ich als "Unsinn machen" bezeichnen. Er kann mit Streß äußerst schlecht umgehen und bevorzugt destruktive Verarbeitungsformen: Alkohol trinken, Herumtreiben, Fahren ohne Führerschein, Drohen mit dem Scheidungsanwalt. Constri nimmt diese Anwandlungen inzwischen recht gelassen. Sie sagte zu Derek, das Gerede mit dem Scheidungsanwalt könne er sich schenken, das sei eh Quatsch. Den Autoschlüssel hat sie mittlerweile versteckt, und Derek, der schon Einiges getrunken hatte, versuchte mit einem Trick, ihn ihr abzuluchsen. Er behauptete, irgendwer habe aus den Autoreifen die Luft herausgelassen, und er müsse nun zur Tankstelle fahren, um dort nachzufragen, ob nur die Ventile geöffnet oder die Reifen zerstochen worden seien. Er kam vermutlich nicht auf den Gedanken, daß man mit Reifen ohne Luft nicht Auto fahren kann.
Constri hat meine Mutter um Rat gefragt, die ihr riet, einfach wegzugehen und Derek sich selbst zu überlassen.
"Das ist klar", meinte ich, als Constri mich um Rat fragte. "Mama rät dir immer, abzuhauen. Damit löst man Probleme aber nicht, man verschiebt sie nur. Derek hat eine Streßverarbeitungsstörung, und das kann man gezielt angehen. Derek glaubt immer, wenn ihm ein Stein im Weg liegt, geht gleich die ganze Welt unter."
"So habe ich auch mal gedacht", meinte Constri, "aber durch Derek bin ich schon viel gelassener geworden. Der ist viel schlimmer als ich. Ich habe ihm immer wieder gesagt, Frustrationen gibt es in jedem Leben, damit muß man umgehen können."
Inzwischen hat sich das Mißverständnis geklärt, und Derek konnte sein Praktikum endlich beginnen. Constri berichtete, eine Predigt habe er sich von ihr schon gefallen lassen müssen.
Darien mailte für seinen Sohn Ciaran:

... ja, ich bin Sonntag, den 03.08.03, 5 nach 1 angekommen, die Reise war problemlos, habe aber auch fleissig mitgeholfen, damit Mama es nicht noch schwerer hat, überhaupt bin ich mit der neuen Umwelt sehr zufrieden, bei Hunger hänge ich mich einfach an Mamas Brüste, gibt lecker Essen und bei Müdigkeit einfach schlafen, wenn mich nicht gerade Papa rüttelt und schüttelt, also alles prima; die Tage wird es wohl nach Hause gehen, endlich wech von den Schnatterweibern im Krankenhaus, jetzt aber erstmal Ende hier, habe Hunger, melde mich wieder ...

Euer Ciaran

Darien nannte eine URL, wo die ersten Fotos von seinem neugeborenen Kind online stehen.
Ich mailte:

Herzlichen Glückwunsch an die stolzen Eltern und an Ciaran und natürlich Cicely!
Endlich seid ihr "komplett"!

Bis bald
Hetty

Deras Tochter Cicely ist nun große Schwester.
Dieses Mal nahm ich Derek mit zu "Stahlwerk". Dort traf ich Donar, der für das aktuelle Outfit von Industrial-Jüngern eine seiner blumigen Umschreibungen zum Besten gab:
"Androgyne Technopunker."
Darien erzählte, daß er mit seinem Therapeuten uneins ist, weil dieser ihm vorhält, seine Neigung zum Philosophieren sei nur eine Flucht vor der Wirklichkeit.
"Dabei suchst du doch in der Philosophie nach einem Weg, die Wirklichkeit auf einer abstrakten Ebene zu ordnen", meinte ich. "Du willst durch die Philosophie nicht weg von der Wirklichkeit, sondern zu ihr hin. Und das begreift dieser Therapeut nicht, dafür denkt der zu sehr in Schablonen. Der glaubt, daß alle, die was mit Philosophie zu tun haben, abgehoben in einem Elfenbeinturm leben, nur weil das ein Klischee ist."
Darien entdeckt immer wieder neue philosophische Texte für sich und betonte, keinen Schwerpunkt auf die Texte zu legen, die von Männern geschrieben wurden.
"Das weiß ich", meinte ich, "es stimmt ja, daß fast nur Männer sowas veröffentlichen. Aber wenn die Männer ihre Gedanken veröffentlichen, was machen dann die Frauen mit ihren Gedanken?"
"Ich glaube, die sind pragmatischer und direkter. Die setzen das mehr kommunikativ um."
"Stimmt, die sind kreativer in der Gestaltung von Beziehungen. Und sie führen eher nachdenkliche Gespräche, als nachdenkliche Texte zu schreiben."
Darien freut sich sehr über die Geburt seines Sohnes Ciaran. Ich schlug ihm vor, ihn und seine Familie in HST. zu besuchen. Diese Idee gefiel ihm sehr, auch der Vorschlag, hinauf nach Peenemünde zu fahren und auf dem ehemaligen Wehrmachtsgelände zu filmen und zu fotografieren.
"Was mich interessiert, ist, was Dirk I. nun wirklich arbeitet", meinte Darien, als ich ihm von Dirks ausweichender Antwort auf meine Frage nach seinem Beruf erzählte. "Ich habe nur mal gehört, er würde im Hafen arbeiten. Aber das kann auch nur ein Job gewesen sein, den man mal so nebenbei macht. Jedenfalls sollen seine Synthesizer im Wohnzimmer stehen. Und seine Frau hat ihm eine Vesperdose mitgegeben, weil er keine Kohle hatte, um sich was zu kaufen."
"Vielleicht geht die arbeiten und verdient das Geld", vermutete ich. "Vielleicht sorgt sie für Stabilität, und er ist der ewige Kindskopf, der 'rumfetzt und Party macht."
"Hast du seine Frau mal gesehen?"
"Nein, nur von Les gehört, daß sie nicht so hübsch sein soll wie Dirk, aber sehr nett."
"Eben. Ich habe mich schon gefragt, wie sowas paßt. Aber irgendwie muß es ja wohl passen."
Was Rafa betrifft, so glaubt Darien, daß es in seiner Lebenshaltung durchaus eines Tages einen Wandel geben könnte:
"Du streust ihm schon so lange Sand ins Getriebe ... Alles, was man tut, wirkt sich irgendwo und irgendwann aus."
"Das hoffe ich", meinte ich, "daß das, was ich tue, nicht völlig ohne Wirkung ist. Manchmal kommt es mir vor, als könnte ich in Rafa rein gar nichts bewegen, aber vielleicht irre ich mich da."
Dieses Mal waren wir bis zum Schluß bei "Stahlwerk", und am Ende ertönte Glockengeläut. Das ist der regelmäßge Abschluß der "Stahlwerk"-Parties.
An Donar - den ich dieses Mal bei "Stahlwerk" nicht getroffen hatte - mailte ich:

Im "Barcode" liegt übrigens das Durchschnittsalter noch höher als bei "Stahlwerk". Das hat man bei dem Festival im "Barcode" Ende Dezember 2002 gesehen. Die waren fast alle über 30.
Was ich anziehe, ist eher ein Image als eine Uniform. Es ist ein sehr persönliches Image. Elemente von Ballettkostümen, Sissi-Look, 50er-Look, Techno-Girlie finden sich darin, werden aber sehr individuell kombiniert.
Im hinteren Teil des "Restricted Area" in BS. hat meine Freundin Cyra am 07.08. ihren 30. gefeiert. Dirk I. hat mich überredet, zu "Maschinenraum" zu fahren. Ich hatte nur ein halbes Schnapsgläschen Götterspeise "mit Schuß" gegessen, er jedoch hatte irgendwie einige Biere intus und hat mit seinem Kumpel eine Art Pogo vollführt, als Hal "Cowgirl" von Underworld aufgelegt hat und wir alle wie verrückt dazu getanzt haben, nur Hal hat zugeguckt. Dirk hat sich vor seinem Kumpel auf den Boden geschmissen und dessen Knie umklammert. Keine Spur von degenerativen Gelenkveränderungen oder anderen Gebrechen.
Dirk hat dann noch erzählt, daß er im Dezember in Antwerpen ausnahmsweise mit Mark als Klinik auftritt und die alten Clubhits spielt. Da hätte ich unbedingt zu erscheinen. Ehrlich gesagt, hörts sich wirklich interessant an. Mal mit Cyra nach Antwerpen fahren, wo ich noch nie war, Tapetenwechsel, neue Eindrücke.
Es ist schon seltsam ... als Rafa am 02.10.02 im "Restricted Area" seinen Auftritt beendet hatte, sprang seine Freundin sogleich nach vorne von der Bühne herunter und direkt Jas in die Arme, einem Kumpel, Gefängniswärter im "Hotel zur Kugel". Jas steht auf Rafas Freundin. Trotzdem kam ich bei dieser Szene kein Stück auf den Gedanken, Rafa könnte irgendwelche Eifersuchtsgefühle entwickeln. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Rafa gekränkt ist, wenn seine Freundin mit anderen Männern schäkert und herumalbert. Wenn ich mir allerdings vorstelle, Rafa wäre bei Cyras Geburtstagsparty dabeigewesen, wo ich mit ein paar knusprigen Kerlen geplaudert habe und Bussis und Komplimente ausgetauscht habe, dann hätte ich wohl mit Racheaktionen von Rafas Seite zu rechnen gehabt. Ich habe solche Racheakte schon erlebt. Als Rafa z. B. auf meiner Geburtstagsparty 1996 ein bißchen an den Rand geriet - ich tanzte, und er schrie nach mir, ich sollte Rätselfragen beantworten -, schnappte er sich meine Freundin Clarice und versuchte, sie in einem dunklen Zimmer nach Strich und Faden zu verführen. Und es gab noch mehr ähnliche Ereignisse. Er ist meinetwegen eifersüchtig und will mich nicht, und seine Freundin will er und ist ihretwegen nicht eifersüchtig. Seltsam.

In einem Traum umarmte ich Rafa von hinten und kuschelte mich an ihn.

Rafa wirbt auf seiner Homepage für die Band "Das P.", sein Projekt mit Darius. Er bezeichnet es als "50 % W.E". Auf der Homepage von "Das P." sucht Darius weibliche Statisten für ein Video.
In BS. heiratete Schwester Debbie, die in Kingston auf derselben Station arbeitet wie ich. Die Hochzeit wurde in einem großen Gasthof gefeiert, ein historisches Fachwerkgebäude. Debbie erwartet eine Tochter. Es gibt immer mehr Paare, die heiraten, während schon Nachwuchs unterwegs ist. Die Hersteller von Brautmoden haben sich darauf eingerichtet. Debbies Brautkleid war so geschickt geschnitten, daß es ihrer Figur schmeichelte und ein wenig ihre Schwangerschaft verhüllte.
Auf der Feier gefiel mir besonders die Darbietung von fünf jungen, etwas untersetzten Kerlen, die in weißen Overalls auf die Tanzfläche stürmten und in einer sorgsam einstudierten Choreografie die Boygroup Westlife imitierten. Sie wirkten auf mich wie weiße Teddybären.
Bertine und Hakon schrieben in ihrer Hochzeitseinladung, sie würden nicht wegen der Steuer heiraten und auch nicht, weil sie Nachwuchs erwarten, sondern:
"Wir lieben uns einfach!"
Im Internet gibt es eine Homepage, über die man eine aufblasbare Kirche bestellen kann, um zu heiraten, wo immer man will; sie heißt "Inflatable Church" und ist lustig bunt.

Ende August habe ich geträumt, ich würde Rafa einen Stapel Papier reichen, Aufzeichnungen und Auflistungen.
"Nein, ich will das nicht lesen", wehrte er ab und legte den Stapel beiseite.
"Du mußt es auch nicht lesen", meinte ich und ging mit dem Stapel weg.
Kurz darauf kam Rafa mir hinterher und interessierte sich nun doch für den Stapel:
"Du hattest da doch eben diese Papiere ..."

Vielleicht geht es Rafa eines Tages so mit der Geschichte "Im Netz".
Sanina mailte:

Weiß nicht, wie sehr mich Robin noch schockt. Glaube eigentlich nicht so sehr, aber genau wissen kann ichs erst, wenn ich ihn sehe. Denke eher, dass es mir einfach unangenehm wäre. Gerade Robin und Rina im Doppelpack würden mich wohl etwas verunsichern.
Na ja, was solls ...
Hatte übrigens Cyra beim Festival in HI. getroffen. War total nett!!

Als Constri und Denise mich zum Kaffee besuchten, erzählte Constri:
"Wenn in einem Film ein Kind stirbt, kann ich das nicht mehr ertragen. Früher habe ich das nicht so im Vordergrund gesehen. Ich glaube, wenn man ein Kind verliert, das ist das Schlimmste, was es gibt."
"Nein, das ist nicht das Schlimmste", erwiderte ich. "Folter und Verletzungen der Menschenwürde sind schlimmer. Verluste und Schicksalsschläge, die in jedem Leben passieren, lassen den Menschen als Individuum noch heile. Folter hingegen zerstört die Integrität des Individuums."
Lisa hat am Telefon erzählt, daß Friederikes Schwester Margarethe - die Patentante meines Vaters - am 26. August verstorben ist, im Alter von fast sechsundneunzig Jahren. Am Abend vor ihrem Tod war Lisa mit ihrer Familie bei Friederike und Margarethe in der Stube, und Friederike spielte Orgel. Es wurde auch gesungen. Vielleicht hat Margarethe, die wegen des Morbus Parkinson seit Jahren nicht mehr gehen und sprechen konnte, das wie ein Abschiedskonzert empfunden. Am nächsten Morgen wachte sie nicht mehr auf. Friederike ist nun ganz allein, nach sechzig Jahren mit Margarethe. Nachdem 1943 Friederikes Mann bei einem Bombenangriff gefallen war - wenige Tage nach seiner Ankunft in Peenemünde -, schliefen Friederike und Margarethe eine Zeitlang im selben Bett und hielten sich an den Händen.
In der Sonne des Spätsommers saß ich mit meinem Kollegen Gillian auf der Terrasse des Klinik-Cafés in Kingston. Wir unterhielten uns über den Selbstmordversuch unseres Kollegen Alain vor drei Jahren. Gillian erzählte, ihm werde immer noch ganz anders, wenn er daran denke. Alain hat mir gegenüber angedeutet, daß er zu dem Zeitpunkt, als er sterben wollte, gedanklich auf pessimistische Inhalte eingeengt war. Gillian und ich sind uns sicher, daß Alain den Selbstmordversuch nur unternehmen konnte wegen dieser "suizidalen Einengung" - eben weil er sich keine anderen Lösungen mehr vorstellen konnte.
"Er fühlte sich nicht nur wertlos", vermutete ich, "er glaubte sogar, daß er seinen Angehörigen einen Gefallen tun würde, wenn er nicht mehr da war. Er glaubte, seinen Angehörigen durch seine Anwesenheit zu schaden."
Als ich Gillian von Maldas Selbstmord im vergangenen Jahr erzählte, erinnerte er sich, damals die Geschichte in der Zeitung gelesen zu haben.
"Solche Schlagzeilen wie 'Frau sprang mit Katze in den Tod', die bleiben bei mir hängen, die vergesse ich nicht", sagte Gillian.
In der Kantine kam das Gespräch auf die Enthüllung einer Gedenkstätte für die Opfer von Krankenmorden im Dritten Reich. Wir fragten uns, wer bei der Feierlichkeit zugegen sein dürfe.
"Die einen sind hier, um zu arbeiten, die anderen, um sich zu profilieren", sagte Kollege Hennig - ein gestandener Psychiater, der die meisten seiner Dienstjahre schon hinter sich hat - mit einem Seitenhieb auf Kollegin von Landau.
Wilrun von Landau macht Führungen durchs Krankenhaus im Rahmen der Psychiatrietage und scheint sich auch sonst für repräsentative Aufgaben zu interessieren. Aus meiner Erfahrung weiß ich, wie verstört sie reagiert, wenn etwas auf sie zukommt, das mit Arbeit am Patienten zu tun hat. Sie kann in diesem Falle außerordentlich aggressiv werden.
Anfang September fuhr ich freitags nach Ht. und aß mit Ted in der Gaststätte zu Abend, die sich unten in seinem Wohnblock befindet. Währenddessen tagte dort ein Ballonfahrer-Club, der uns halb amüsierte, halb auf die Nerven ging. Der "Guru" des Clubs "taufte" drei Neu-Mitglieder mit Feuerzeug, Champagner und Erde ("Feuer, das uns nach oben trägt, Champagner, den wir so gerne trinken, und die Erde, auf die wir hoffentlich immer heile zurückkehren werden") und ließ sie dazu ein bizarres Gelöbnis ablegen, das an Initiationsriten von Pfadfindern erinnerte ("Im Korb bin ich nichts. Nur was mein Pilot sagt, zählt."). Danach wurden sie "in den Adelsstand erhoben" und erhielten Scherznamen.
"Siehst du, das ist der Grund, warum ich nie, niemals in einen Ballonfahrer-Club eintreten werde", sagte Ted mit einem Seitenblick.
"Das ist so peinlich", setzte ich hinzu. "Das ist was für Leute, die sich nicht über sich selbst definieren können, sondern nur über so einen Club."
Von Marvin berichtete Ted, die Chemotherapie schlage bei ihm gut an. Allerdings habe sich Marvin, als Ted ihn Ende Juli anrief, äußerst abweisend und feindselig verhalten. Eine nachvollziehbare Ursache fand sich nicht. Ted hält sich seitdem zurück und unternimmt nichts mehr.
"Es liegt nicht an dir", versicherte ich. "Du hast nichts falsch gemacht. Marvin ist so aggressiv wegen eines inneren Konflikts, anders kann ich es mir nicht erklären. Du erinnerst ihn wahrscheinlich an etwas, das er verdrängen will, vielleicht an sein fehlendes Coming out. Das macht ihn unsicher und ängstigt ihn, und er wehrt es ab und wird dabei dir gegenüber aggressiv und entwertend. Diese Deutung ergibt noch am ehesten einen Sinn. Ich kenne so ein Verhalten auch von Rafa. Wann immer wir uns nahekommen, gleich anschließend sucht er auf aggressive, entwertende Weise Abstand von mir. Ich wecke etwas in Rafa auf, das ihn verunsichert und das er loswerden will, das aber gleichzeitig Teil seiner selbst ist. Sein Haß gegen mich ist in Wahrheit Selbsthaß."
Nachts waren wir mit Lev im "Pulsar" in DO. Ein Junge namens Norton sprach mich an, der mich vom Sehen aus H. kennt, wo er von 1997 bis 1998 gelebt hat. Er nimmt an Rafas Fanclubtreffen teil, kennt Rafa jedoch nicht persönlich. Ich erzählte ihm, daß ich Rafa schon sehr lange kenne und ihn in seinem Chatroom gebeten habe, mit dem Rauchen aufzuhören, weil er damit sein Leben verkürzt.
"Damit wird der nie aufhören, so nervös, wie der ist", meinte Norton.
Ich erzählte, daß Rafa sein festes Publikum hat, aber nicht von der Musik leben kann.
"Das ist kein Wunder", meinte Norton. "Das ist doch eine absolute Nischenmusik. Ich finde es geil, daß es diese Musik gibt, aber sie erreicht kein breites Publikum."
Norton glaubt, daß die Kreativität erstickt wird, wenn ein Künstler einer festen Arbeit nachgeht. Er vermutet, es könnte für Rafa eine befriedigende Lösung sein, eine Frau zu heiraten, die genügend Geld verdient, so daß er nicht zu arbeiten braucht. Berenice wird als Diplombiologin ein entsprechendes Einkommen erreichen können, allerdings wird sie vielleicht weiter wegziehen müssen. Es ist die Frage, ob Rafa ihr dann folgt.
Die Main Hall des "Pulsar" ist eine hohe, recht große ehemalige Fabrikhalle. Die Tanzfläche in der Mitte ist klein, glatt und erhöht, ohne Geländer, mit Absturzgefahr. Sie ist zum Tanzen ungeeignet. Allenfalls kann man von einem Fuß auf den anderen steigen. Um die Tanzfläche herum war es so überfüllt, daß das Tanzen auch dort nicht möglich war. Der DJ empfahl mir, zu einem Gitterrost hinaufzuklettern, der über eine Leiter erreichbar ist und sich in etwa zehn Metern Höhe befindet. Da tanzen sonst die Gogos, aber heute waren alle Roste, auch die kleineren, weiter unten gelegenen, für jedermann nutzbar. Ich fand die Roste wenig geeignet, und der Platz reichte mir dort auch nicht.
Die Musik im "Pulsar" gefiel mir, und gerade das war frustrierend, angesichts der Unmöglichkeit, das Tanzen wirklich zu genießen.
Die DJ's berichteten, man habe immer wieder versucht, Shnarph! zu überreden, "Ihr redet und atmet" offiziell herauszubringen, doch Shnarph! entwerte seinen Clubhit, weil er das Stück nur als Nebenprodukt betrachte, wie die Rumkugeln beim Bäcker. Dabei sind die DJ's und das Publikum einhellig der Meinung, daß "Ihr redet und atmet" besser ist als fast alles, was Shnarph! in anderen musikalischen Projekten hergestellt hat.
Im "Pulsar" gab es eine zweite Location mit etwas größerer Tanzfläche, dort lief jedoch nur Musik aus den Achtzigern, die ich bei Weitem nicht so tanzbar fand wie das Electro-Industrial-Programm in der Main Hall.
Weil die Electro- und Wave-Parties im "Pulsar" ihr Dreijähriges feierten, gab es ein selbstgemachtes kostenloses Kuchenbuffet mit fein angerichteten Leckereien "wie bei Muttern". Da hatte ich ein schönes Nachtessen. Den Kaffee und mehrere Cola light bekam ich von Ted ausgegeben, weil ich fuhr. Als ich morgens früh um vier endlich gehen wollte, weil ich seit vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen hatte, wurde Ted unleidlich und maulte, sonst sei man immer bis fast zum Schluß hier, und ich hätte sowieso nichts zu melden. Lev klopfte dem reichlich angetrunkenen Ted auf die Schulter. Während wir zum Auto gingen, schimpfte Ted, ich hätte mich ausschließlich nach ihm zu richten, denn ich sei hier nur zu Gast. Ich wandte ein, immerhin hätte ich noch bis vier Uhr gewartet, weil er auf keinen Fall vor vier wegwollte.
"Du hast hier gar nichts zu melden", kam es von Ted.
"Und du kannst nicht alles allein entscheiden", gab ich zurück.
"Und du hast nichts, gar nichts zu melden hast du."
"Und du kannst nicht alles entscheiden."
So ging das weiter, bis alle im Auto saßen, dann gab Ted Ruhe.
Am Samstagmittag holten Ted und ich Blanca ab und fuhren mit ihr nach E. Ted erzählte Blanca, daß Levs ehemalige Freundin Katha vor Kurzem geheiratet hat.
"Kirchlich?" fragte Blanca. "Oder nur standesamtlich?"
"Türmlich", antwortete Ted. "Auf dem Fernsehturm von DO. Und Agnes hat doch Höhenangst ... und dann hat sich das Restaurant gedreht, und da ist ihr ganz anders geworden ..."
Katha hat sich nicht davon abschrecken lassen, daß kurz vor ihrer Hochzeit ein Bungeespringer zu Tode gekommen ist, als er von ebenjenem Fernsehturm sprang und das Seil riß.
In E. erwarteten uns Victoire und Shara in dem Schwesternwohnheim, wo Victoire vorübergehend lebt, ehe sie vor Ort eine Wohnung gefunden hat. Ich überzeugte Ted, daß es möglich ist, zu fünft in seinem Honda Prelude Platz zu finden, und wir fuhren zur Zeche Zollverein. In dem industriell dekorierten Zollverein-Restaurant gibt es zwar Seerosen in Wassergläsern als Tischdekoration, jedoch ist das Bestaunen eigentlich alles, was man sich dort leisten kann. Wir futterten im Zollverein-Freilichtimbiß. Dann nahmen wir an einer Führung durch das weitläufige Industriedenkmal teil. Ich machte etwa siebzig Fotos von den tiefroten Backsteinbauten und ihrem Innenleben, den staubigen Treppchen, halbblinden Fensterwänden, Stahlträgern, Förderbändern ... und wir fotografierten uns gegenseitig in dieser Kulisse. Der Eingangsbereich der Zeche ist repräsentativ angelegt. Man blickt über eine Rasenfläche auf Schacht 12, ein gewaltiges Stahlgestell mit vier Winden, über die Transportseile laufen. Darum herum sieht man die zugehörigen Backsteingebäude, alle so angelegt, daß man von draußen nicht ahnt, wieviele Menschen hier beschäftigt waren, bis zu 6500. Wenn hoher Besuch kam, sollen die Menschen sogar gezielt versteckt worden sein, damit der Eindruck entstand, diese Zeche würde ohne menschliches Zutun arbeiten. Der Technik huldigte man, Menschen galten als "Verschleißmaterial", Arbeitssicherheit soll bis in die Nachkriegszeit ein Fremdwort gewesen sein. Die Arbeiter betraten die Zeche durch den Hintereingang, ein schmales Türlein, das über einen langen Steg erreichbar war, der sich etwa fünf Meter über dem Boden befindet und "Seufzerbrücke" genannt wurde. Mehrere solcher Stege führen über das Gelände, weil es aufgrund der unten herumfahrenden Arbeitsmaschinen gefährlich war, auf dem Erdboden zu laufen. Die Natur hat sich inzwischen auf dem seit 1986 stillgelegten Gelände ausgebreitet. Mauern, Schienenstränge, überirdische Fördertunnel sind umwachsen und umrankt.
Ein Abbauhammer ist so schwer, daß ich ihn kaum hochheben kann. Die Arbeiter mußten zum Teil überkopf und im Liegen Kohle abbauen, wenn die Flöze niedrig waren. Sie wurden nach der Menge der abgebauten Kohle bezahlt, und das Sichern des Strebs durch Holzgerüste wurde deshalb gerne vernachlässigt, so daß schwere Grubenunglücke begünstigt wurden. Elektrische Geräte gab es wegen der Explosionsgefahr fast gar nicht unter Tage, sogar die Lampen wurden mit Druckluft betrieben. Grubenpferde verbrachten ihr Leben unter Tage, ihnen folgten die Ratten, und zu deren Bekämpfung brachten die Bergleute Katzen mit. Kanarienvögel wurden als Gasindikator gehalten. Wenn sie von der Stange fielen, tat rasche Flucht not.
12000 t Kohle förderte Schacht 12 täglich. Inzwischen ist die Kohle abgebaut; es gibt nur noch wenige Zechen, die in Betrieb sind. Eine gegen Schacht 12 unscheinbar wirkende, aber wesentlich modernere Zeche fördert etwa 39000 t Kohle pro Tag. Kohle wird auch mehr und mehr importiert.
Beim Abendbrot erzählte mir Ted von seinen Vorfahren. Teds Großvater hatte einen Stollen im Garten, und Teds Vater mußte ihm helfen, dort Kohle abzubauen. Der Großvater starb an einer Bergarbeiter-Berufskrankheit, der Staublunge. Sie entsteht nicht durch Kohlestaub, sondern durch den Staub des umgebenden Gesteins.
Teds anderer Großvater - der Vater seiner Mutter - war im Dritten Reich ein "hohes Tier" bei der Polizei und lehnte die Nazis immer ab. Eines Tages wurde seiner Frau mitgeteilt, er habe einen Herzinfarkt erlitten und sei verstorben, sie dürfe ihn jedoch auf keinen Fall sehen. Wenn sie ihn hätte sehen dürfen, hätte sie wahrscheinlich die Spuren eines Mordes gesehen. Man bereitete ihm ein Staatsbegräbnis, eine elegante Art, jemanden verschwinden zu lassen und einen Mordverdacht von sich abzulenken.
Teds Eltern sollen sich innig lieben. Nichtsdestotrotz soll Teds Vater sich mit Teds Mutter immer wieder gern einen Schabernack erlauben, etwa indem er über sie Skandälchen herumerzählt, die nicht der Wirklichkeit entsprechen.
In Teds Zimmer stand ein Fernrohr, mit dem er nachts den Mars beobachtet, der der Erde zur Zeit besonders nahe ist. Ich schlug Ted vor, zu spannen. Er entdeckte auf dem benachbarten Sportplatz eine Gruppe von Menschen und konnte das Nummernschild ihres Autos entziffern und sehen, was sie in den Händen hielten, ohne daß sie ahnten, daß sie beobachtet wurden.
Abends fuhr ich nach HB. zu Folter, der seinen Geburtstag nachfeierte. Constri, Denise und Giulietta lagen quer auf Folters Bett und schliefen. Als Folter mir Kaffee servierte, wachte Constri auf und sagte:
"Siehst du, ich habe gemeint, vor elf kommst du nicht, und jetzt bist du wirklich um elf da."
Rufus und Geneviève standen auf dem Balkon und genossen die letzte Wärme des Tages. Drees kam erst gegen Mitternacht vorbei. Ich legte mich neben Denise und schlief dort bis zum Morgen, da waren alle Gäste weg, und Constri ging mit Denise ins Nebenzimmer. Folter machte mir Frühstück und erzählte von seiner Arbeit und daß er sich gerne beruflich verändern würde, nach über zehn Jahren Altenpflege.
Folters Großmutter, die unten im Hause wohnte, ist vor einem halben Jahr verstorben, die Wohnung steht leer. So alt wie sie seien viele Verwandte nicht geworden, erzählte Folter. Viele würden an Lungenkrebs sterben, ohne zu rauchen, das sei auch der Grund, warum er rauche - um nicht an Lungenkrebs zu sterben. Die Schwester seiner Mutter, in deren Wohnung Folter heute lebt, starb im Alter von nur neunundvierzig Jahren, sie hatte Morbus Alzheimer. Früher war sie Diakonisse und lebte in einem Diakonissen-Mutterhaus in einer spärlich eingerichteten Klosterzelle.
Folter erkundigte sich, was ich so mache und wie es mir geht, und ich meinte, auf das Wichtigste könne ich ihm gegenüber leider nicht zu sprechen kommen, da er von Rafa nichts hören wolle.
"Oh nein, bleib' mir bloß weg mit Rafa", verlangte er.
Folter wünscht sich Kinder, Giulietta will ihn aber nur als guten Freund, nicht als Mann. Sie hat seit Jahren eine Bettbeziehung mit einem Opernsänger. Telefongespräche beginnt der Opernsänger oft mit zweideutigen Sprüchen ("Weißt du, was ich gerade in der Hand habe?"), und er macht keinen Hehl daraus, wofür er Giulietta will. Giulietta möchte an unseren Damenkränzchen nicht mehr teilnehmen, da seien ihr zu viele glücklich verbandelte Frauen, da werde sie zu sehr an das Fehlen einer "richtigen" Partnerschaft erinnert.
Giulietta nimmt immer ihre "Flossies" mit zu Folter, ihre Plüschfische, die liegen dann auf seinem Bett.
Folter hat von Drees eine Klappkarte bekommen, auf der in goldenen Lettern gedruckt steht:
"Zum 75. Geburtstag die herzlichsten Glückwünsche."
Im Innenteil der Karte hat Drees lauter Nonsens geschrieben:
"Die Imulationsstrategie und der Vatalimperialismus haben bestimmt, daß du Geburtstag hast. Also füge dich in dein Schicksal und zersäge Leuchtdioden."
"Der hätte noch weitergeschrieben, wenn ich ihm nicht gesagt hätte, er soll endlich aufhören", merkte Folter an.
Am Dienstag waren Constri, Denise und ich abends bei Carl zum Mitternachts-Geburtstagstisch. Damit Denise nicht zu spät ins Bett kam, zogen wir die Feier etwas vor. Carl erzählte, daß er seit Kurzem im Briefzentrum arbeitet. Er hat sich dort beworben, weil er vom Amt sonst kein Geld mehr bekommt. Eigentlich hat er zum Arbeiten nach wie vor keine Lust. Daß er dem Steuerzahler mit dieser Einstellung auf der Tasche liegt, ändert daran nicht viel.
Carl vermutet, er würde für Saverio durchaus wieder tiefere Gefühle entwickeln, wenn er ihm begegnen würde. Er legt es allerdings nicht darauf an. In der Gay-Lesbian-Szene sieht Carl häufig Saverios ehemalige Freundin Edna, die nach wie vor einen zufriedenen Eindruck machen soll und wesentlich kontaktfreudiger sein soll als früher im "Elizium", wo sie meistens nur mißgelaunt herumsaß.
Carl hat kürzlich in einer Gay-Kneipe einen Jungen namens Vampire wiedergetroffen, den er früher im "Base" angeschwärmt hat. Ihm gefiel Vampire vor allem wegen seines Aussehens, mit viel Schminke und im Stil des New Romantic. Jetzt endlich bekam Carl die Gelegenheit, mit Vampire etwas zu haben - und:
"Es war schlecht. Das war echt eine irre Erfahrung - da hat man so jemanden früher immerzu angeschmachtet, und wenn man ihn dann endlich kriegen kann, stellt man fest, da ist gar nichts dahinter."
Am Mittwoch war ich im "Zone". Nancy war in Gesellschaft eines Pärchens; der Mann erzählte, er sei achtunddreißig Jahre alt und schon lange in der Wave-Electro-Szene. Wir tauschten uns aus und stellten fest, daß wir ungefähr dieselben Sachen zur selben Zeit gehört haben. Dazu gehört auch Gavin Friday, der für Dave Ball "In strict tempo" gesungen hat. Eben hatte ich dieses Stück erwähnt, da kam es auch schon, und ich ging auf die Tanzfläche. Les spielte noch mehr Nostalgisches, darunter das charmante Retro-Pop-Stück "Straßen" von ascii.disko. "Monoton und minimal" von Rafa lief auch.
Ich erkundigte mich bei Darius, ob er davon gehört habe, daß Sten wieder als "ES" Musik macht. Er wußte nichts davon. ES wird aber auf Rafas Website im Lineup eines Elektrofestivals geführt, bei dem auch Darius als Mitglied von Das P. auftreten soll.
Darius nickte, als ich meinte, Musikmachen sei ein schönes Hobby, vor allem, wenn man dann noch durch Beifall belohnt wird. Er macht schon länger Musik und ist mit dem Auftritt, den er im Frühjahr im "Zone" hatte, zufrieden.
Auf meine Frage, was für einen Stil er hat, antwortete er:
"Dark Electro."
"Das hört sich gut an", fand ich. "Das müßte auch Les gefallen. Hast du es ihn schon mal spielen lassen?"
"Er hat die Sachen, aber er spielt sie nicht so gerne."
"Sind die eher statisch oder eher rhythmisch?"
"Rhythmisch."
Am Samstag feierte Carl seinen Geburtstag nach. Auch Elaine war da. Sie beschäftigte sich viel mit Denise und erzählte von dem Schwimmunterricht und dem Fahrradunterricht, den sie in der Grundschule hat. Draußen hatte eine Straßenlaterne einen Wackelkontakt, und Elaine vollführte den Sprung, mit dem Jugendliche Laternen austreten, in der Hoffnung, hier vielleicht das Gegenteil zu erreichen. Sie meinte, wenn sie Laternen austreten könnte - was bei ihrem geringen Gewicht kaum möglich sein dürfte -, dann würde die Laterne ihr vielleicht hinterhergelaufen kommen und sich rächen wollen.
Ted, Blanca und Sylvain kamen später, als Constri und Denise schon fort waren, auch noch zu Carl. Ted und Carl hatten nach längerer Zeit wieder Gelegenheit zu einem Erfahrungsaustausch. Merle legte im Nebenzimmer einen Retro-Sampler ein und tanzte eine gute Stunde mit anderen Partygästen. Ich besprach mit ihr und Carl, daß sie Elaine abends zu Carl geben könnte, wenn sie mal wieder in eine richtige Discothek gehen will. Sie scheint das aber nicht zu wollen.
Nachts waren Ted, Blanca, Sylvain und ich im "Radiostern". Meine Kollegin Patrice begrüßte mich. Sie trug eine Lackhose, die Dyans Freund gehört. Dyan ist Krankenschwester in der Gerontopsychiatrie und Stammgast im "Radiostern". Sie hatte Patrice heute mitgenommen. Patrice kannte die Electro- und Wave-Szene bisher kaum und war sehr angetan. Sie betonte, daß sie unkonventionelle Leute mag und für reaktionäre Kleingeister nichts übrig hat. Sie erzählte, daß sie sich mal einen angedeuteten Irokesenschnitt hat machen lassen und sogleich Ärger auf der Arbeit bekam. Patrice und ich sind, was dieses Kapitel betrifft, einer Meinung.
Patrice meinte, eigentlich müßte ich doch hier, wo es so viele gutaussehende Herren gibt, einen Ersatz für Rafa finden können:
"Wenn ich auf Männer stehen würde, wäre ich hier bald fündig."
"Worauf stehst du denn?"
"Auf Frauen."
"Hast du denn schon die Frau deines Lebens gefunden?"
"Na ja ... eigentlich schon ...", überlegte Patrice, "aber ich weiß nicht so recht ..."
"Lebst du mir ihr denn zusammen?"
"Ja, aber das war vielleicht falsch", vermutete Patrice. "Wir sind so verschieden. Ich bin sehr unordentlich ..."
"Und sie ist sehr ordentlich."
"So etwa."
"Hier gibt es wirklich viele gutaussehende Männer", meinte ich. "Sie können Rafa aber nicht ersetzen."
"Vielleicht lernst du nur wegen Rafa gar keine anderen Männer kennen."
"Doch, seit ich Rafa kenne, lerne ich ganz besonders viele Männer kennen. Die werden dann Kumpels von mir. Viele von den Männern hier kenne ich, auch viele von den Gutaussehenden."
"Das ist kein Wunder", meinte Patrice. "Du tanzt gut, dein Outfit ist ein echter Hingucker ..."
"Das ist schön, wenn ich durch eine wildfremde Disco gehe, und gleich habe ich nette Kerle an der Angel. Und wirklich kein Unkraut, sondern Leute, mit denen man sich ganz normal unterhalten kann. Ich bin nirgends lange alleine. Und das ist so schön, daß es eben nicht diese Typen sind, die nur das Eine wollen. Es gibt ja auch Frauen, die nur an sowas geraten, an Typen, die nur ins Bett wollen."
"Ich will ja nicht gemein sein, aber ich glaube, die provozieren das auch."
"Da ist was dran", bestätigte ich. "Wenn ich da an unsere arme Frau Talbeit denke ... die tut mir irgendwie leid. Die begreift es einfach nicht. Dabei ist die eigentlich nett und intelligent."
"Die beste Schreibkraft im Hause."
"Das habe ich auch schon gemerkt. Die ist doch unterfordert in ihrem Job. Die sollte vielleicht umsteigen und sich selbständig machen."
"Darüber habe ich mich mit ihr auch schon unterhalten. Die hat sich schon überlegt, sich beruflich zu verändern."
Frau Talbeit hat eine schlanke Figur und lange Beine, und sie bevorzugt sehr ausgeschnittene Kleidung und sehr kurze Röcke. Auf ihrem Auto klebt der Schriftzug:
"Ich bin gut drauf. Wer ist gut drunter?"
Durch ihre provokant-aufreizende Erscheinung gerät sie immer wieder ins Kreuzfeuer der Lästereien weiblicher Geschöpfe, deren Äußeres weniger die Blicke auf sich zieht und deren Figur nicht - oder nicht mehr - so schlank ist. Daß sie den Neidern trotzt, halte ich für ein Zeichen von Stärke, daß sie ihre Reize über ein gesellschaftliches Umfeld ausgießt, dem dieses nicht zusteht, halte ich für ein Zeichen von Unsicherheit. Frau Talbeit scheint zu befürchten, daß ihr die Echtheit und die Glaubwürdigkeit verlorengehen, wenn sie sich mehr verhüllt.
Merlon fing mich im Foyer ab und gab mir Kaffee aus. Er riet mir, "einfach 'ranzugehen" bei Rafa.
"Wie sollte ich das denn machen?" fragte ich nach.
"Einfach Klartext mit ihm reden", empfahl Merlon. "Ihm einfach sagen, mach' mit deiner Freundin Schluß und laß' uns zusammen sein."
"Rafa weiß bescheid", entgegnete ich. "Mit dem habe ich längst Klartext geredet."
Cyra und Maurice wollen in BS. zusammenziehen. Ich bezweifle, daß ihre Wünsche und Voraussetzungen ähnlich genug sind, um die Beziehung auf Dauer zu erhalten.
Als das letzte Stück kam, das "Rausschmeißerlied", lobte Ted Cyra und machte ihr Komplimente:
"Wir sind nur wegen dem 'Radiostern' aus dem Ruhrgebiet hierher gekommen."
Ted, Blanca und Sylvain schliefen am Sonntagvormittag im Hotel, und mittags trafen wir uns alle bei Constri, Derek und Denise. Ted hob Denise auf einer Hand in die Höhe und ließ sie schweben. Sie war begeistert und lachte und erzählte allerlei Unverständliches.
Ted berichtete, daß er schon längere Zeit keinen Kontakt mehr zu Cyan hat. Er ist immer noch wütend auf Cyan, weil dieser letztes Jahr behauptet hat, Ted habe Marvin in Verruf gebracht. Cyan beteuerte damals im "Verlies" mir gegenüber, er sei ebenso heterosexuell wie Marvin, und wenn er sich von einem Mann "einen 'runterholen" lasse, dann habe das doch mit Sex nichts zu tun.
"Vor allem, weil er's mit mir gemacht hat", kicherte Ted, "und das ging nicht von mir aus, das wollte er!"
"Ach, der hat öfter mit dir, nicht?" fragte ich nach.
"Jedesmal!" erzählte Ted. "Jedesmal, wenn er da war!"
"Der steht auf dich. Treibt's mit dir, und das hat mit Sex nichts zu tun ..."
"Der hat ein Problem mit sich selber", meinte Constri, "deshalb verhält der sich so."
"Cyan ist auch eifersüchtig wegen Marvin, glaub' ich", vermutete Ted.
"Der ist bestimmt eifersüchtig", meinte ich.
Carl hat Cyan übrigens erst vor wenigen Wochen wieder in einer "Gay Location" gesehen.
Blanca erzählte von ihrer Katze, die aus einem Müllcontainer gerettet wurde und zu einem kriegerischen Tier geworden ist. Blanca erzählte auch von den Motorrädern, die ihr Freund Andres und sie fahren. Andres hatte die schnellste Maschine, die je für den allgemeinen Straßenverkehr gebaut wurde, 308 km/h schnell. Er verlor sie durch den Unfall, den Blanca und er im vergangenen Jahr erlitten. Ich meinte, daß es wohl ungünstig wäre, wenn man mit Höchstgeschwindigkeit einen Unfall hätte.
"Das merkst du dann nicht mehr", war Blanca sicher.
Als die drei Gäste wieder auf der Heimreise waren, kam meine Mutter mit ihrem zweiundachtzigjährigen, inzwischen recht verwirrten Mann Wilf, und wir machten einen Ausflug ins Wisentgehege. Constri fotografierte mich zwischen den Schnüren eines Kettenvorhangs, der in eine Voliere führt. Kettenschnüre bildeten den Hintergrund, und die Schatten der Schnüre vor mir zeichneten im Sonnenschein ihr Muster auf mein Gesicht. Leider war der Film so schnell voll.
Odette erzählte am Telefon, daß sie Mitte August ihren Quentin geheiratet hat, standesamtlich und kirchlich. Ihr Hochzeitskleid ist altrosa, damit sie es auch später noch als Abendkleid tragen kann. Es gefällt ihr sehr, sie findet sich selbst aber nicht schön genug.
Odette ist nach vielen Versuchen endlich schwanger. Damit geht einer ihrer allergrößten Wünsche in Erfüllung. Ihren Zigarettenkonsum hat sie schon erheblich vermindert, von mindestens zwanzig auf etwa sechs am Tag. Sie möchte versuchen, ganz mit dem Rauchen aufzuhören.



Am Mittwoch war ich im "Zone". Nancy war mit Barnet und dessen Frau Heloise da. Barnet erinnerte sich an Frank Tovey, der im vergangenen Jahr an einem Herzleiden starb. Zwei Wochen vorher hatte Barnet ihn noch live gesehen, als er nach langen Jahren erstmals wieder als Fad Gadget tourte. Er soll mit seinen 43 Jahren noch sehr lebendig und jung gewirkt haben und auf der Bühne ausgelassen herumgehüpft und -geklettert sein.
Als ich Darius erzählte, daß Zenza nach B. gezogen ist, bat er mich, sie zu grüßen und ihr zu schreiben, sie solle ihm per SMS ihre Adresse mitteilen, er wolle ihr gerne eine CD schicken.
Cal und Claire waren beide im "Zone". Claire wollte nicht mit Les sprechen; dort halte sich immer gern ihre ehemalige Mitbewohnerin Ivy auf, die lasse sich von Miron am DJ-Pult "abstellen".
Als ich Les begrüßte, meinte er, jetzt könne er ja loslegen. Kurz darauf liefen "Ihr redet und atmet" von Shnarph!, "Tanz mit Laibach" von Laibach und "Straßen" von ascii.disko. Als ich von der Tanzfläche kam und wieder oben bei meinen Sachen stand, am Geländer ganz außen rechts neben der Theke an der hinteren Wand, sah ich einen Herrn mit sorgsam über den Ohren rasierten und hochgestellten Haaren vorbeigehen, der sich nach mir umdrehte und mich mit einem seltsamen Blick musterte.
"Rafa kann's nicht sein", dachte ich mit einem Seufzen, "der rasiert sich doch gar nicht mehr über den Ohren. Aber er scheint auf irgendetwas zu warten ... auf irgendetwas zu hoffen."
Er trug eine Uniformjacke mit Silberknöpfen und eine schwarze Leggins mit vielen Kreuzen darauf. Er war ansonsten nicht sorgfältig rasiert und trug keine Sonnenbrille, ließ sich aber Ponysträhnen ins Gesicht hängen.
Etwas später kam dieser Herr in Begleitung eines zierlichen Kameraden im beigefarbenen Sakko sehr dicht an mir vorbei, als ich mit Nancy und Barnet vor der hinteren Theke im Gang stand. Ich drehte mich zur Theke um und blickte geradewegs in ein wohlbekanntes Gesicht mit seltsam traurigen Augen.
"Ach, du bist ja da!" staunte ich und strahlte Rafa an und hatte gleich eine Hand auf seiner Schulter und die andere auf seinem linken Arm.
Rafa strebte hastig von dannen. Ich hielt sein linkes Handgelenk in meinen Händen und suchte nach der Uhr, an der ich ihn eindeutig zu erkennen hoffte, weil ich mir wegen meines schlechten Gesichtergedächtnisses unsicher war und hier auf keinen Fall einen Fehler machen wollte. Rafa entwand sich mir eilig und setzte seine Flucht fort. Der beigefarbene Kamerad folgte ihm.
"War er's nun oder war er's nicht?" fragte ich Barnet.
"Er war's", meinte Barnet, "ganz sicher, er war's. Diese Hose mit den Kreuzen drauf kenne ich, die hatte der schon öfter hier an, der ist hier nämlich oft."
"Der Rafa."
"Ja."
"Ich wollte nachgucken, ob er seine Uhr umhat, an der erkenne ich ihn auf jeden Fall, weil ich die Uhr kenne."
"So genau weiß ich über Rafa nicht bescheid."
"Ich kenne ihn ja schon seit über zehn Jahren."
"Ist heute bißchen kurz angebunden", bemerkte Barnet.
"Der kann ich anders", meinte ich. "Dem habe ich verboten, mit mir zu reden, weil er eine Freundin hat. Außerdem hat der Angst vor mir ... zumindest hat er das über Jahre hinweg immer wieder gesagt."
"Ich mag den nicht, der ist mir zu arrogant."
"Ja, der ist wirklich furchtbar arrogant. Aber bei mir hat der nicht viel zu lachen."
"Huch, ich rück' auch lieber ein Stück weg."
Les spielte "Starfighter F-104G" von Rafa.
"Na siehste", sagte Barnet.
Rafa tanzte zu diesem Stück nicht, aber als Les danach "Disco-Walküren" von den Disco-Walküren spielte, ging er auf die Tanzfläche.
"Ja, wenn ich jetzt seine Bewegungen sehe, dann kann's wirklich nur Rafa sein", stellte ich fest. "Ich kenne ihn so gut ..."
"Der muß doch mit seinem Kumpel hier Flyer verteilen", wußte Barnet.
Wer dieser beigefarbene Kumpel war, bekam ich nicht heraus. Mein Gesichtergedächtnis ließ mich hoffnungslos im Stich.
Barnet hat Rafa und Dolf vor einiger Zeit auf einer Veranstaltung gesehen, wahrscheinlich ein Mittelalter-Fest. Da sollen zwei Leute Rafa und Dolf um Autogramme gebeten haben. Rafa musterte das Mädchen, das ihn fragte; es war ein fülliges Mädchen; und er blickte es von oben herab an und meinte:
"Du kriegst von mir kein Autogramm."
Dieses herablassende, entwertende Verhalten ist einer der Gründe, warum Barnet mit Rafa nicht näher zu tun haben will. Ich kann Barnet verstehen.
Nach "Disco-Walküren" spielte Les "One eyed man" von This morn omina, und ich lief auf die Tanzfläche. Rafa tanzte hierzu nicht; es hätte mich auch gewundert. Mir fiel Darius auf, der hinter mir allein am Rand der Tanzfläche stand und mich zu beobachten schien.
"Answers for you" von Blackhouse lief anschließend.
Als "Michelle" von Pink turns blue kam, tanzte Rafa wieder, und ich kam auch auf die Tanzfläche, hielt jedoch einen gewissen Abstand ein. Ich möchte nicht so offensichtlich auf ihn zugehen.
"You" von Boytronic kam danach, wir tanzten dazu auch noch.
Die meiste Zeit war Rafa mit seinen Bekannten gegenüber vor der Bar auf der anderen Seite der Tanzfläche. Fast immer sah ich ihn mit glühender Zigarette. Eine Weile turtelte er mit einem fremden Mädchen mit langen blonden Haaren herum. Sie wirkte geschmeichelt. Berenice war nicht da.
Schließlich hielt Rafa sich wieder mehr an seine Kumpane. Mit dem Beigefarbenen bewegte sich Rafa in wilden, dramatischen Sprüngen in Richtung der Toiletten. Dort verschwanden die beiden für eine Weile, kamen dann wieder zum Vorschein, verabschiedeten sich in der Nähe des Ausgangs von Darius und dessen Freundin und gingen mit dem fremden langhaarigen blonden Mädchen weg.
Zu Les soll Rafa nicht viel gesagt haben außer Musikwünschen und "technischem Kram"; Rafa sei "mit seinen Kumpels am Abfeiern" gewesen.
Beim DJ-Pult traf ich Scilla, die mit ihrem Freund Jeremy da war. Ich bewunderte Scillas prachtvolle Mähne aus schwarzen und pinkfarbenen Wollhaaren. Dieses Mal kann es sich um echte Schurwolle gehandelt haben.
Les lobte meine straßverzierten Zöpfchen. Er bat mich, Zenza zu grüßen; er möchte sich wieder bei ihr melden. Er spielte noch das sagenhaft rhythmische "Animal Cannibal" von Tumor, dann war es höchste Zeit für mich, nach Hause zu fahren.
Carl hat sich die Haare von einem schwulen Avantgarde-Friseur flott schneiden und färben lassen und legt sich immer wieder neue trendige Garderobe zu, die nicht viel kosten muß und dennoch raffiniert wirkt. Bislang scheint die Krankheit sich nicht wieder zu melden; alle Kontrollen waren unauffällig.
Auch Teds Bruder Dan scheint davongekommen zu sein, wenigstens bis jetzt. Als Einziger von Fünfen, die damals zur gleichen Zeit in der Universitätsklinik von E. transplantiert wurden, ist er noch am Leben.

.
.