Netvel: "Im Netz" - 32. Kapitel































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In der "Neuen Sachlichkeit" hatte Puppen-Theo seine beiden Schaufensterpuppen rechts und links von der Bühne an Gittersäulen gefesselt. Auf einer Großleinwand liefen Pornofilme, immerhin ohne Ton. Vor den hohen Fenstern des Saales hingen Folien, die beklebt waren mit den schwarzen Umrissen spätgotischer Kirchenfenster. Die Ähnlichkeit zwischen Fabrikhallen und Kathedralen scheint Puppen-Theo ebenso zu beschäftigen wie Constri und mich.
Puppen-Theos weiß gestrichener, mit feinen Schnörkeln bemalter Sarg stand dieses Mal oben auf der Bühne, halb geöffnet, mit Hölzern aufgestemmt, und hatte innen eine feste Platte bekommen, auf der das DJ-Pult installiert war.
Puppen-Theo begrüßte mich auf der Empore und kündigte an, heute um vier Uhr früh werde es noch mehr Brötchen geben als sonst, weil zu Silvester so schnell alles alle gewesen sei.
Was den Sarg betreffe, so habe er nicht geplant, sich darin beerdigen zu lassen. Wo er liege, wenn er tot sei und der Verwesung anheimfalle, sei ihm egal.
Auf der Empore traf ich auch Luie. Er arbeitet in HH. für ein Medienunternehmen. Solche Jobs seien in der Regel befristet, und man könne damit keine sichere Existenz aufbauen.
Luie kalberte mit Brandon herum, einem von Bertines Verflossenen. Brandon hat vor Kurzem seinen Vater verloren, der war starker Raucher und starb an Lungenkrebs. Acht Jahre lang soll er mit der Krankheit noch gelebt haben.
Brandon erzählte, wie er an dem Bett seines Vaters saß, als dieser im Sterben lag. Einmal habe er seinen Vater reanimiert, weil er keine Luft mehr bekam. Als sein Vater ein zweites Mal zu atmen aufhörte, habe er ihn in Frieden einschlafen lassen.
Brandon fragte mich, ob ich den Eindruck hätte, daß er ein Selbstwertproblem habe. Ich bejahte dies. Ich meinte, ich würde ihn nicht zwingend für untreu halten, könnte mir aber vorstellen, daß er auch in einer festen Beziehung öfters den Wunsch verspüre, allein durch Discotheken zu streunen, sich ungebunden zu geben und seinen Marktwert zu testen. Diese Freiheit würde er sich niemals nehmen lassen und könne deshalb auch nicht in einer Beziehung leben, wo von ihm verlangt werde, uneingeschränkt der "perfekte Ehemann" zu sein.
Brandon erzählte, vom Sehen kenne er mich schon lange, als "Elo-Betty" oder "Elektro-Betty". Man sage mir das Image nach:
"Unnahbar, distanziert, macht ihr eigenes Ding."
Daß ich mein eigenes Ding mache, glaube er wohl.
"Doch unnahbar? Nein", setzte er hinzu. "Und distanziert? Nein."
Er sei froh, daß er im Gespräch mit mir diese beiden letzteren Eigenschaften ausschließen könne.
Weil Gesa schweigend in der Nähe stand, erkundigte sich Brandon, was es mit ihr auf sich habe. Ich erwiderte, er könne gerne versuchen, mit ihr ein Gespräch zu beginnen; es sei eine echte Herausforderung, an der er wahrscheinlich scheitern werde. Unten tanzte ich zu "Wütendes Glas" von Grauzone, "Joy" von VNV Nation und "Weg ins Dunkel" von Knorkator. Oben auf der Empore teilte Brandon mir anschließend mit:
"Die sagt wirklich nichts."
Gesa kenne ich seit über dreißig Jahren, und schon damals, in unserer Kinderzeit, fiel sie durch ihre magere Figur, ihre leise Stimme und ihre Schweigsamkeit auf. Im Grunde fällt Gesa dadurch auf, daß sie so wirkt, als wolle sie nicht auffallen. Wir haben nie herausbekommen, wodurch sie so zurückhaltend geworden ist. Es scheint, als sei sie von Anfang an so gewesen.
Wendelin Rotauge schwärmte mir von Goa-Trance-Parties vor. Ansonsten sei seine Stimmung nicht sehr gut. Kürzlich habe ihm ein Obdachloser alle wertvollen Sachen gestohlen, weil er diesen bei sich habe übernachten lassen.
"Warum hast du den auch bei dir übernachten lassen?" seufzte ich.
Wendelin entgegnete, er sei selbst schon obdachlos gewesen und wisse, wie das sei.
"Wer obdachlos ist, ist in aller Regel auf irgendeine Art psychisch krank", meinte ich. "Entweder ist er suchtkrank oder persönlichkeitsgestört, oder er leidet an einer Psychose - oder alles auf einmal. Was ist es denn bei dir?"
Wie sich herausstellte, leidet Wendelin wahrscheinlich an einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung. Er bejahte Selbstverletzungen und Selbstmordgedanken. Er betrachtet sich als gering belastbar und weitgehend erwerbsunfähig; bereits eine Halbtagsbeschäftigung fordere ihn bis an seine äußersten Grenzen. Seine Mutter sei auch schon obdachlos gewesen; sie leide an einer Psychose. Der Vater sei unbekannt.
Gart hat am Telefon erzählt, seine ehemalige Verlobte Ismene habe sich von ihrem Mann getrennt, der sich weder für sie noch für ihr Kind sonderlich interessiert habe. Inzwischen sei Ismene zu Gart nach OS. gezogen, und man sei mehr oder weniger wieder zusammen. Von seiner Frau Chiara habe er sich nach vielen Streitereien getrennt.
Clarice betrachtet Garts neue Liaison mit Ismene skeptisch. Sie findet Ismene gekünstelt, ichbezogen und bestimmerisch. Sie glaubt nicht, daß Gart mit ihr glücklich ist.
Clarice erzählte, daß sie schon bei der ersten Begegnung mit einem Menschen ein "Bauchgefühl" habe, das sich im Laufe der Zeit meistens bestätige. Ich hätte auf sie von Anfang an freundlich und herzlich gewirkt, Rafa habe auf sie wie ein liebenswerter Spinner gewirkt.
"Ist der niedlich!" habe sie gedacht, als sie ihn zum ersten Mal sah.
Als ich Victoire in einer E-Mail erzählte, daß ich Rafa in diesem Jahr schon wieder nicht zum Geburtstag gratulieren konnte, fragte sie:

Wieso konntest Du Rafa nicht gratulieren? Hättest Du ihn nicht einfach anrufen können oder eine Mail schreiben können? Ich weiss, das ist nicht so einfach bei euch ...

Ich antwortete:

Dem Rafa konnte ich deshalb nicht zum Geburtstag gratulieren, weil er nicht mit mir reden darf, solange er eine Freundin hat. Das hab ich ihm nämlich verboten. Ich will keine Dreiecksbeziehung, und weil es zwischen Rafa und mir immer knistert, gibt es zwischen uns niemals "harmlose", "sachliche" Gespräche. Außerdem will ich nicht so tun, als wäre seine Liaison mit einer anderen Frau für mich harmlos. Er muß auf mich verzichten, solange er anderweitig gebunden ist.

Im Nachtdienst unterhielten eine Schwester, ein Pfleger und ich uns zu punkig angehauchten Klängen aus dem CD-Player über die reinigende, klärende Wirkung rauhtöniger Musik und über die einseifende, gedankenblockierende Wirkung kitschiger Mainstream-Schlager. Die einhellige Meinung lautete: Jaulende R'n'B-Stimmen wie die von Christina Aguilera, Vanessa Amorosi, Vanessa Carlton oder Jennifer Lopez, die jeden Luftalarm ersetzen können, wirken aufdringlich und gleichzeitig hohl und stopfen das Gehirn mit Polystyrolschaum zu. Ebenso geht es mit betont dümmlichem "Ich würde so gern singen und kann es nicht"-Gehauche à la Britney Spears oder den immer gleich klingenden "Mutantenstadl"-Volksmusik-Imitaten.
"Die Leute, die sowas hören, brauchen das wohl auch", vermutete ich. "Die wollen nicht denken. So eine Musik ist wie Talkshows, dabei gewöhnt man sich das Denken ab."
Eines Nachts wurde in Kingston vom Sozialpsychiatrischen Dienst ein Alkoholiker zur Aufnahme angemeldet, mit Begleitschreiben, in dem geschildert wurde, wie man ihn vorgefunden hatte. Er habe erst nach mehrmaligem Klingeln geöffnet, sei kaum noch geh- oder stehfähig gewesen und sei in seiner verwahrlosten Wohnung gleich bei der Begrüßung gegen seinen Schuhschrank gefallen, der daraufhin selbst zusammengefallen sei.
Mich erinnerte das an ein alkoholkrankes Pärchen, das von einem Richter in der gemeinsamen Wohnung aufgesucht wurde. Der Richter dokumentierte, viele Möbel seien zerschlagen gewesen, "der Schreibtisch hängt auf Halbmast".
In Kingston entschuldigte sich die Frau für das Chaos:
"Man streitet sich halt mal, und da kann halt auch mal was zu Bruch gehen. Aber wir haben uns schon wieder vertragen, und der Schreiner ist auch bestellt."
In Kingston soll sich auf der Aufnahmestation für Suchtkranke ein Alkoholiker im Delir stundenlang mit der Toilettentür unterhalten haben. Er soll der Überzeugung gewesen sein, im Papierkorb befänden sich "seine Millionen".
In der Hochschule habe ich früher einmal Nachtwache bei zwei Alkoholikern gehalten, die sich im Delir befanden. Geschäftig torkelten sie durchs Wachzimmer, und immer wieder mußte ich sie auffordern, ins Bett zu gehen. Einer von ihnen, der gerade in Moltex-Unterlagen herumwühlte, entgegnete:
"Aber ich muß doch noch die Akten sortieren."
Die Sozialarbeiterin der Station, wo ich arbeite, hat erzählt, sie habe von mir geträumt. Ich sei durch eine belebte Gegend gegangen und hätte einen Patienten am Arm mit mir geführt.
Ende Januar berichtete mir Les am Telefon, daß am vergangenen Samstag das gesamte Personal des "Zone" gekündigt habe - außer ihm selbst; er habe sich lediglich krank gemeldet. Schuld an dieser Entwicklung sei der neue Geschäftsführer. Das "Zone" hat vorerst geschlossen. Die Zukunft ist ungewiß. Claire, Cal, Barnet, Heloise, Nancy, Gart, Evelyn, ich und viele andere Stammgäste des "Zone" hoffen auf bessere Neuigkeiten.
In Rafas W.E-Forum habe ich verschiedene Reaktionen auf meine Fotoseite "Linien" unter dem Thema "Passend zur Jahreszeit" gefunden, die ich an Rafas Geburtstag unter Nennung der URL "www.wasteland-illusions.de/linien.html" online gestellt habe. Von "linien.html" aus geht es nicht weiter, aber "www.wasteland-illusions.de" führt direkt auf meine Domain.
Wave hatte noch am selben Tag kommentiert:

Wow ... Linien

Forummitglied BeeBee schrieb:

Hä, wat is dat denn.
Worum geht es hier?

Es folgte Alphalpha mit:

Hmmm ...
hätte ich es nicht gesehen, ich hätte es unter Garantie nicht geglaubt!!!
WAAAAHHHNNNNNSIINNNNNNNNNNN!!!!!!

Als Nächstes schrieb Catcar:

Soll das künstlerisch wertvoll sein oder einfach nur Blödsinn?? (is nich so ganz klar find ich)

Dann meinte Binary:

nun ja, über Geschmack lässt sich streiten, über den Sinn dieses Threads auch, aber jedem das Seine ...

RotWild gab einen Tip:

Zitat:
Original von Catcar
soll das künstlerisch wertvoll sein oder einfach nur Blödsinn?? (is nich so ganz klar find ich)

Macht Euch doch mal die Mühe und pflückt mal die URL auseinander, ehe hier solche Sprüche kommen ...
Es gibt viel zu entdecken!
Der Rest bleibt nun mal individuelle Geschmackssache ...
Nichtsdestotrotz wären ein paar mehr Infos zu den Bildern IMO sicher schon schön gewesen!

Als "fractal" schrieb ich dazu:

Es sind frostig-kühle Impressionen aus dem Gasometer in OB. und dem Betonwerk in Hv. Eben passend zur Jahreszeit ...

Forummitglied Poker kommentierte:

Zitat:
Eben passend zur Jahreszeit ...

da fehlt aber der Schnee!

Ich antwortete:

Wenn man genau hinsieht, kann man auf dem Betonzaun und dem Gehweg feinen Schnee erkennen. Es hat da auch gerade geschneit.

Kollege Dero erzählte am Telefon, er sei nach mehreren Trennungen und neuen Versuchen wieder von seiner langjährigen Freundin Nanette getrennt. Er lebt wenige Gehminuten von ihrer Wohnung entfernt und bekommt häufig Besuch von seinem Sohn Connian. Er hatte erst befürchtet, daß Connian sich ihm durch seinen Auszug entfremden könnte, doch hat er inzwischen den Eindruck, daß Connian eine starke Bindung an ihn als Vater entwickelt hat.
Dero berichtete, inzwischen habe er die Psychotherapie erlernt. Sein "Mentor" und Oberarzt gehe nun leider in den Ruhestand. Einiges habe sich in der Psychiatrie in HI. personell verändert. Er wünsche sich mich als Kollegin zurück. Er liebe mich dafür, daß ich mich gut in andere hineinversetzen könne, daß ich immer für andere ein offenes Ohr habe und daß vieles, was er mir damals erzählt habe, für mich noch heute abrufbar und präsent sei.
Ebenso wie für mich war für Dero die Kinderbibel in der Kindheit sein Lieblingsbuch, und ebenso wie ich war er von der Gestalt des Jesus besonders beeindruckt. Das habe daran gelegen, daß Jesus sich anders verhalten habe, als es den situationsbedingten Erwartungen entsprochen habe. Jesus habe Aggressionen nicht geschürt, sondern aufgelöst.
Dero meinte, in gewisser Weise betrachte er mich als "weiblichen Jesus". Ich sei sehr auf das Wohl anderer bezogen und hätte eine sehr anziehende und für ihn auch - das sage er ehrlich, wie er es in seiner Psychotherapieausbildung gelernt habe - erotische Ausstrahlung. Er sei deshalb schon damals ein bißchen in mich verliebt gewesen.
"Das geht vielen so", meinte ich. "Die Leute liegen einem zu Füßen, und dann gibt es eben auch immer die Neider. Das sind zwar nur wenige, aber sie können einem doch sehr zu schaffen machen."
Zu meinem Geburtstag bekam ich viele Gratulations-E-Mails, auch von meiner Tante Britta und ihrem Mann Wilko, die daran erinnerten, daß bei meiner Geburt 1966 in S. schon die Veilchen blühten - am 31. Januar. In diesem Jahr hingegen seien noch nicht einmal die Schneeglöckchen zu sehen.
Ted erschien zu meiner Geburtstagsfeier in bereits angeheiterter Verfassung. Er setzte sich auf die hohe Lehne am Fußende meines Jugendstil-Bettes, um zu "balancieren". Dabei kippte er rückwärts aufs Bett. Beim zweiten Versuch stieß Elaine mit Schwung gegen sein Knie, so daß er abermals aufs Bett kippte. Er schlug gleich noch eine Rolle rückwärts hinterher.
Onno und Endera schenkten mir ein liebevoll gestaltetes Album, in das sie Fotos und Erinnerungen geklebt hatten, darunter auch Fotos vom Pfingstfestival in L. und von einem Waldspaziergang im vergangenen Herbst.
Constri erschien mit Familie. Odette bekam einen Nervenzusammenbruch, als sie Denise weinen hörte. Sie mußte an ihr eigenes Kind denken, das wegen schwerer Fehlbildungen nicht lebend zur Welt kommen konnte; die Schwangerschaft wurde abgebrochen. Odette wurde von ihrem Mann nach Hause gebracht. Ich hoffe, sie findet den Mut zu einer neuen Schwangerschaft.
Layana erzählte, wie sie mit ihrem Freund Levin zusammengekommen ist. Sie wollte in einer Band spielen, aber ohne mit einem der Musiker etwas anzufangen. Dann verliebte sie sich in ihren Bandkollegen Levin. Daß sie gegen ihren Vorsatz gehandelt hat und nun schon seit Jahren mit Levin zusammen ist, bereut sie nicht.
Merle hatte Elaine rechts und links hoch angesetzte Zöpfchen abgeteilt und sie zu Knoten aufgedreht. Elaines übrige, schon recht lange Haare hatte Merle locker auftoupiert und mit Spray gefestigt. Dieser futuristische Look wurde auf unfreiwillige Art unterstrichen durch eine leuchtend blaue Chemie-Brause mit angeblichem Blaubeeraroma, die Elaines Mäulchen samt Umgebung blau färbte.
Vorübergehend nahm Elaine auf Merles Schoß Platz. Brinkus predigte ihr Lobeshymnen vor und sagte im betrunkenen Zustand andauernd dasselbe. Elaine schaute mich dabei mit vielsagendem Blick an.
Brinkus hat uns früher schon auf Parties mit seinen Reden erheitert, etwa als er zur Gitarre einen Vortrag darüber hielt, wie gut mir angeblich eine Levi's 501 stehen würde.
Henk kam zu meiner Geburtstagsfeier mit blondierten Haaren und Makeup. Er schenkte mir den Gummifisch, der auf Knopfdruck Liedchen singt und mit quietschender Flosse den Takt schlägt. Dieser Fisch hat mich schon immer in helle Begeisterung versetzt. Er hing bisher in Henks Bad, und ich schaltete ihn so oft an, daß Henk befürchtete, Ärger mit den Nachbarn zu bekommen. Vielleicht war das auch einer der Gründe, warum er mir den Fisch schenkte.
Auf der Party machte Henk lockere Sprüche. Er bezeichnete kopfwehträchtige zuckerhaltige Wodka-Mischgetränke als "Chateau Migraine" und sagte über eine Dauerwelle, die er einer Kundin wegschnitt, weil sie ihr überhaupt nicht stand:
"Was häßlich ist, hält lange."
Henk betonte mehrfach, daß ihm die Frechheiten leidtun, die er mir vor über siebzehn Jahren angetan hat. Ihm stehen diese Ereignisse noch immer klar vor Augen; er kam sogar von sich aus darauf zu sprechen. Damals hatte meine Mutter mich aus dem Haus geworfen, weil ihr neuer Mann mich nicht leiden konnte, und ich war in Henks mit illustren Grenzgängern und haltlosen jungen Leuten bevölkerter Anderthalb-Zimmer-WG in BS. untergekommen. Als ich eines Abends zu Bett gehen wollte, hatten Henk und seine WG-Genossen meine Bettstelle auseinandergenommen und Klappstühle daraufgelegt. Ich bekam einen Nervenzusammenbruch und weinte so lange, bis Henk mir beim Aufräumen behilflich war.
Zwei Wochen, bevor ich in die WG einzog, hatte ich eine Verabredung mit Henk vor Ort, und wer nicht da war, war Henk. Der war nämlich in H. bei seiner Mutter und hatte, wie er am Telefon erklärte, die Verabredung vergessen. Zu meinem Glück war Henks Mitbewohnerin Netty anwesend. Wir tranken miteinander Kaffee und besuchten Pillen-Oskar, der mir die bunte Sammlung lose herumliegender Pillen in seinem Wohnzimmerschrank zeigte:
"Manchmal nehme ich nur die Roten, manchmal nur die Gelben. Manchmal mache ich eine Kapsel auf und sortiere die kleinen Pillen, die da drin sind, nach Farben."
Nachts gingen wir mit mehreren Leuten im "Puzzle" tanzen. In diesem Rudel sozialer Randfiguren fühlte ich mich weit besser aufgehoben und weit besser behandelt als in meinem bisherigen Zuhause.
In Henks WG war Henk der Einzige, der eine abgeschlossene Ausbildung hatte und einer geregelten Arbeit nachging. Und ich - damals im zweiten Studienjahr - war die Einzige, die keine Drogen nahm.
Als ich Clarice erzählte, daß Rafa meine Internetseite auf seiner Geburtstagsfeier der Partygesellschaft vorgeführt hat, meinte sie, das sei wahrscheinlich eine der wenigen Möglichkeiten für ihn, seine Verbundenheit mit mir kundzutun. Er könne seine Gefühle für mich niemals unmittelbar eingestehen.
Merle erzählte, daß sie Erdnußkopf am Neujahrsmorgen nach der Silvesterfeier bei mir mit nach Hause genommen hat. In den Wochen zuvor hatte er Merles Schwester Eliana eifrig den Hof gemacht, doch Eliana scheint allmählich das Interesse an Erdnußkopf zu verlieren, unter anderem weil sie die lateinischen Trinksprüche nicht versteht, die er als SMS zu versenden pflegt. Eliana scheint mit dem, was sich ihr nicht beim ersten Hinsehen erschließt, weder etwas anfangen zu können noch etwas anfangen zu wollen. Auch ihrer Tochter Griseldis gegenüber zeigt sie wenig Motivation, sich in das hineinzudenken, was sie ihr mitteilt oder mitzuteilen versucht.
Erdnußkopf schrieb in mein Party-Gästebuch einen lateinischen Trinkspruch:

Ergo bibamus!

Henk schrieb:

Du bist 'ne treue Seele, und die Party, die ist toll.
Wenn ich dich auch mal verfehle (Sorry BS.).
Heute sind se alle voll.
Mit Aspirin und frohem Mut
geht's uns auch in 60 Jahren noch gut.

Leander schrieb ein Verslein über Teds Balanceakt auf der Bettlehne:

Das Bett stand still im Zimmerlein,
da fiel ein Teddy jäh hinein
und schrie: "Verrat!
Das Bett ist hart,
als wäre es aus Pflasterstein!"

Über Elaines Blaubeerbrause schrieb Leander:

Es steht hier eine Brause zart,
die eine blaue Färbung hat.
Man wird ganz bunt
rund um den Mund,
da tragen selbst die Mädels Bart.

Am Sonntagnachmittag trafen Ted, Blanca, Sylvain und ich uns bei Constri, Denise und Derek. Teds Handy klingelte wie ein uraltes Bakelit-Telefon, dabei ist es eines der jetzt angesagten Multifunktionshandies.
Sylvain und Derek beschäftigten sich in Dereks "Studio" mit Geräten und Musik. Derek hat ein neues Power-Elektro-Stück gemacht, "Nightmarekiller", und das stellte ich als Hörprobe auf Dereks Internetseite, weil es mir so gut gefällt.
Rufus und Geneviève mailten, sie seien von der Promo zu Dereks nächstem Album "Sonar Killer" begeistert und freuten sich, dieses Album veröffentlichen zu können.
In einer E-Mail berichtete Dera von den Verwandtenbesuchen, die Darien und sie mit dem kleinen Ciaran zum Jahreswechsel bei Dariens Familie absolviert haben, eine "Begutachtungsrunde". Nur über das Kind kommt zwischen Darien und seiner Familie wieder ein Kontakt zustande, wenn auch auf eher förmliche Weise.
Am 03. Februar feierten wir Denises ersten Geburtstag. Constri hatte ihr einen Body mit einer aufgedruckten "1" angezogen. Meine Mutter hatte für sie eine Johannisbeertorte gebacken mit einer "1" darauf. Constri dekorierte einen Tisch mit einer Jahreskerze auf dem hölzernen Kerzenkränzchen und einem Lebenslicht. An die Decke hängte sie Luftballons, an die Wand kam eine Bildgirlande, wie bei einer "richtigen" Kinderparty. Denise war noch nicht alt genug, um Tortenstücke und Süßigkeiten essen zu können. Sie schien es aber sehr zu genießen, im Mittelpunkt zu stehen. Sie hämmerte auf dem Xylofon herum, das sie zum Geburtstag bekommen hat.
Constri will zu jedem Geburtstag von Denise so viele Kinder einladen, wie sie an Jahren alt wird. In diesem Jahr war es ein Kind - Elaine.

In der Nacht träumte ich, ein teuflisch böser Mann sei zu Gast in dem Haus einer Familie, deren drei Töchter von Unbekannten entführt worden waren. Der Mann musterte eine Vase und bemerkte:
"Da standen doch drei Rosen. Was ist aus ihnen geworden? Hat man ihnen etwa die Köpfe abgeknickt?"
Es schien, als wollte der Mann den Eltern der Entführten drohende Andeutungen über die Töchter machen.

In einer E-Mail erzählte Lana von ihren Erlebnissen in Indien, wo sie eine Ayurveda-Weiterbildung macht:

goa hippie urlaub war cool und erschreckend, eine mutter von einem 4jaehrigen kind hat sich erhaengt hier hinter dem internetcafe, und mein cousin ist von einem bus totgefahren worden mit seiner frau auf dem scooter, haben zwei kinder, um die sich jetzt meine eltern mitkuemmern, habe einen kleinen schock, das paradies hat auch schatten, hatte eine woche 40 fieber, kolibakterien, hippieland ist dreckig, bei meinen eltern dagegen alles sauber, bin froh, auch in deutschland zu leben, jules hat neuen job, war auch hier, vermisse ihn ganz doll, raya spielt mit vielen kindern, deswegen mein aufenthalt in hippiegoa, am 10. gehts zurueck in die ayurvedaklinik, weiterlernen, habe dann 500 stunden ayurveda gelernt, immerhin eine basis

Ich sprach Lana mein Beileid zu den Todesfällen aus und berichtete von den Neuigkeiten, die ich über ihre ehemalige Chefin gehört habe:

Die Gutachter hatten endlich genügend Material, um sie ins Gefängnis zu bringen, wo sie sich jetzt aufhält. Und das war erst der Anfang. Bei 8 Toten haben sie festgestellt, daß deine Ex-Chefin nicht lege artis behandelt hat, wegen Totschlags ging sie hinter Gitter. Und die anderen knapp 70 Fälle untersuchen sie noch ...!

Lana freute sich, bald wieder daheim zu sein. In Indien gebe es interessante Krankheiten zu sehen, ihr schmecke auch das Essen, doch sie vertrage es nicht sonderlich gut.
Shara mailte, womit er sich in seinem Studium gerade befaßte: Friedhofspathologie, "Tbc und Knochen" laute das Thema.
Bei Cyra gab es ein Kaffeekränzchen, wo ich Dina-Laura und Cielle wiedertraf. Cielle erzählte von ihrem Praktikum in einer Schule, das sie im Rahmen ihres Studiums absolvieren muß. Sie hat die Aufgabe, sich um verhaltensauffällige Jugendliche zu kümmern. Sie scheint souverän mit dieser schwierigen und durchaus gewaltbereiten Klientel umzugehen. Cyra und Dina-Laura meinten, sie würden angesichts einer solchen Herausforderung wahrscheinlich schnell das Handtuch werfen. Ich vermutete, daß Cielle bei dieser Aufgabe ihre Stärken entdeckt hat.
Dina-Laura hat eine Stelle als Kosmetikerin in dem Wellness-Center eines Hotels bekommen. Ihre Pläne, sich selbständig zu machen, hat sie zurückgestellt.
Wir unterhielten uns über Farbtypen in der Kosmetik. Dina-Laura ist ein "Wintertyp". Ihr steht es, sich ausschließlich in Schwarz zu kleiden; sie wirkt dadurch nicht blaß, sondern strahlend und lebendig. Grüntöne hingegen lassen sie leichenblaß erscheinen. Dina-Laura erzählte, wie ihr so manche Kosmetikerin schon, passend zu ihren grünen Augen, grünen Lidschatten angeboten habe, ohne zu erkennen, daß das dem Herbsttyp wohl steht, Dina-Laura als Wintertyp aber nicht; sie benötigt kalte, klare Farben. Entscheidend für die Typeinteilung ist nicht die Augenfarbe, sondern der Hautunterton - ob man einen kalten oder wamen Hautunterton hat. Den eigenen Typ bekommt man heraus, indem man vergleicht, ob einem Goldfolie oder Silberfolie besser steht. Silber spricht für den "kalten" Winter- oder Sommertyp, Gold für den "warmen" Frühlings- oder Herbsttyp. Der Sommertyp braucht hellere, weichere Farben als der Wintertyp. Der Frühlingstyp braucht hellere, leuchtendere Farben als der Herbsttyp. Cielle ist am ehesten ein Wintertyp, ich bin ein Sommertyp. Rafa ist ein Wintertyp, Constri ist ein Herbsttyp. Was Cyra für ein Typ ist, wissen wir noch nicht.
Cielle erzählte von ihrem jetzigen Freund Keno. Er ist bei der Marine und im hohen Norden stationiert. Cielle hofft, daß er bald auf Dauer in die Region um BS. zurückkehren kann.
Dina-Laura erzählte von ihrem Freund Arian, mit dem sie seit Jahren zusammenlebt. Er neige dazu, vor sich selbst davonzulaufen und nicht über Probleme zu sprechen, sondern sie totzuschweigen. So sei es zu mancherlei Konflikten gekommen. Schließlich habe Dina-Laura sich von ihm trennen wollen, weil sie ihn seelisch nicht habe erreichen können. Das habe wohl den Ausschlag gegeben; Arian bemühe sich jetzt um mehr Offenheit, auch sich selbst gegenüber. Die Beziehung habe sich entspannt.
Als ich von meinen Erlebnissen mit Rafa erzählte, bemerkte Cyra, das höre sich an wie in einem Film. Dina-Laura meinte, daß ich Rafa nach wie vor treu bin, könne entweder das Resultat einer Verkennung der Wirklichkeit sein oder eine Art von verrückter Romantik. Cyra meinte, eher treffe das Letztere zu.
Mitte Februar besuchte ich meinen Kollegen Dero. Er legte Orakel mit Runen. Für mich sahen die Runen viel Streß voraus, für Rafa hatten sie den Rat, mich bloß nicht gehen zu lassen. Als Dero für Rafa und mich gemeinsam die Runen sprechen ließ, sagten sie, eine reine Vernunftbeziehung sei nicht sinnvoll.
Dero hat immer mehr Spaß daran, Musik zu machen. Er bevorzugt Musik aus dem Jazz-Bereich. Für ihn ist beim Musizieren der Spaß wichtiger als die Möglichkeit, bekannt zu werden.
Dero zeigte mir Holzwaffen, die er angefertigt hat.
"Ich habe die gesamte Familie bewaffnet", erzählte er.
Eigentlich waren die Waffen nur als Spielzeug für Connian gedacht, letztlich bekam aber jedes Familienmitglied eine eigene Waffe. Für Nanette machte Dero einen Dolch.
Dero hat in seiner Wohnung ein Zimmer für Connian, damit er sich nicht nur bei Nanette, sondern auch bei Dero zu Hause fühlt.
Dero hatte den Weihnachtsbaum immer noch nicht abgeschmückt. Der nadelnde, vertrocknete Baum scheint Deros Trauer um das fehlende Familienidyll zu versinnbildlichen.
Über eine Kollegin in HI., die mich nicht leiden konnte und sich mir gegenüber abweisend und unfreundlich verhielt, berichtete Dero, daß sie schon seit Jahren unter Depressionen leidet, daß sie ins Ruhrgebiet gezogen ist und daß sie schon einen Selbstmordversuch unternommen hat. Dero gegenüber, der sich jahrelang um sie gekümmert und den Kontakt zu ihr aufrechterhalten hat, soll sie sich inzwischen fast ebenso feindselig und abweisend verhalten wie mir gegenüber. Sie soll vereinsamt sein und nicht zuletzt durch ihr übellauniges, unfreundliches Wesen verhindern, daß sich daran etwas ändert.
In der Samstagnacht erzählte mir Reesli im "Radiostern", daß die Sechzehnjährige, mit der er vor Kurzem zusammengekommen ist, sich schon wieder von ihm getrennt hat. Ich meinte, man hätte voraussehen können, daß ein Mädchen in diesem Alter sich noch nicht längerfristig bindet.
Reesli sagte, er hätte gerne Kinder mit mir. Ich entgegnete, daß ich nur mit Rafa Kinder haben will, daß der mich aber nicht will.
Am Dienstagabend war ich bei Henk zu Besuch. Er hatte ein Stimmungstief und nichts zu essen außer zwei frischen Krapfen, die er mir zum Kaffee anbot. Er hat Sorgen auf der Arbeit, weil ihm vorgeworfen wird, zu langsam zu sein. In dem Frisiersalon, wo er beschäftigt ist, geht es weniger um Qualität als um Geschwindigkeit, weil der Salon keine Termine vergibt, sondern ausschließlich Laufkundschaft bedient.
Rafa nahm in seinem Forum endlich wieder Bezug auf seinen vernachlässigten Chatroom. Er schrieb:

Guten Tag,
da sich momentan in Sachen "chatroom" nicht Genaues herauskristallisiert, denke ich, es ist am besten, die Hörer entscheiden zu lassen, ob und inwiefern ein "chatroom" vonnöten ist und wie dieser dann im Endeffekt angenommen wird oder auch nicht.
Zu den Alternativen kann ich momentan auch gar nichts sagen, aber hier ist noch einmal der Link zu dem "alten" Raum ...
Da auch von der "alten" Seite hier wenig bis keine Gäste vorhanden sind, ist ein wenig Werbung ja auch vonnöten.
Also hier geht es zum w.e-"chatroom" ...

Rafa nannte einen Link und fügte hinzu:

... ich selbst werde hier auch wieder öfter unter "Honey" oder "Funkhaus" sein.
Hochachtungsvoll
Honey / w.e / Funkhaus / Das P. / Leichenhalle

Rasch meldeten sich mehrere Forummitglieder und meinten, der Chatroom sei durchaus von Interesse. Einige hatten freilich Probleme mit Java oder chatteten nicht gerne in IRC-Chats.
Zu dem Thema schrieb ich:

Das ist fein, daß der Chatroom wieder ins Blickfeld gerät.
@Honey: Bin gespannt, wann du da mal wieder auftauchst. Kündigst du's vorher an? Ich meine, wie sonst, mit Datum und Uhrzeit und so.

Rafa antwortete darauf nicht. Stattdessen unterhielten sich die anderen Forummitglieder weiter über Java und IRC.
Sofern es im Forum um technische Details oder andere Sachthemen geht, meldet Rafa sich meistens schnell und antwortet bereitwillig und ausführlich auf die gestellten Fragen. Geht es aber um ihn selbst, auch im Zusammenhang mit dem Forum - wie etwa im Hinblick auf seine Anwesenheit im Chatroom -, stellt er sich meistens taub. Das konnte ich wieder beobachten, als Fans nach dem Wortlaut von einem Songtext fragten und nach dem Equipment von W.E. Rafa stellte den gewünschten Songtext sogleich ins Forum, außerdem eine angeblich geheime Liste, wo ein Teil seiner Ausrüstung nachzulesen war. Am Ende entschuldigte er sich:

Wenn ich mich hier so umschaue, glaube ich, daß eine detailierte Aufzählung der gesamten Elektronique hier diesen Rahmen mitsamt "server"-Platz sprengen würde.

Rafa scheint sich darin zugefallen, Wörter französisch zu verbrämen. Daß dann aber das "k" fehl am Platz ist, scheint ihm ebensowenig bewußt zu sein wie die Tatsache, daß das dem Französischen entliehene "detailliert" mit zwei "l" geschrieben wird.
Die hier genannten Rechtschreibfehler sind keineswegs die einzigen in Rafas Postings. Im Gegenteil, nahezu keines seiner Postings ist fehlerfrei. Um der besseren Lesbarkeit willen habe ich jedoch die restlichen Fehler korrigiert.
Berenice hat immer noch keine Beiträge im W.E-Forum hinterlassen, ebensowenig Dolf. Auf ihrer eigenen Homepage hat Berenice vermerkt, daß sie nach sehr gut bestandenem Diplom ab März 2004 in Süddeutschland eine Doktorandenstelle für drei Jahre antreten wird.
"Wenn sie so weit wegzieht, sieht sie Rafa nur noch selten", folgerte ich. "Es ist die Frage, ob die Beziehung dem standhält. Die Beziehung von Shara und Victoire ist in die Brüche gegangen, nachdem Victoire nach E. gezogen ist."
Clara erzählte am Telefon, daß sie sich von ihrem Freund Quirin getrennt hat, weil er sich immer weniger um sie gekümmert habe und ihr wichtige Dinge über sein Berufsleben verschwiegen habe. Dadurch sei das Vertrauensverhältnis kaputtgegangen.
Als sie sich gerade kennengelernt hatten, habe Quirin sie auf Händen getragen, ihr das Blaue vom Himmel versprochen, mit ihr teuren Urlaub gemacht und ihr teuren Schmuck und teure Kleider geschenkt.
"Siehst du, da wäre ich schon mißtrauisch geworden", meinte ich. "Wer so anfängt, ist meistens nicht echt. Der hat wohl gedacht, er kann dich kaufen ..."
Quirin soll in Wahrheit berufliche Kontakte zu zwielichtigen Unternehmen haben und sein Geld, wenn überhaupt, dann auf zweifelhafte Weise verdient haben. Eine windige Geldquelle soll neulich versiegt sein, so daß er Schwierigkeiten bekam und sich bei Clara immer häufiger entschuldigte. Sie sah ihn kaum noch.
"Jetzt hat es mir gereicht, und ich habe Schluß gemacht", berichtete sie. "Seitdem fühle ich mich befreit. Ich fange mein Studium nochmal von vorne an und werde mich nie mehr von einem Mann finanziell abhängig machen."
Zu Terry hat Clara den Kontakt während ihrer Beziehung aufrechterhalten, die übrigen Freunde und Bekannten sieht sie selten. Ariadne soll nach S. gezogen sein. Daphne soll in H. Arbeit haben.
Mit ihrer langjährigen Freundin Tharya hat Clara gebrochen, da Tharya hinter Claras Rücken schlecht über sie rede. Ohnehin habe sie Tharya nie wirklich vertrauen können.
Im "Read Only Memory" unterhielt ich mich mit Gavin über Drogen. Ich erzählte von dem Kunden, der mich vor einiger Zeit im Nachtdienst anrief und bat, ihm ein Rezept für eine Flasche Ritalin zu faxen. Als Begründung nannte er, er habe Buddha versprochen, zwei Wochen ohne Schlaf auszukommen. Eine Woche habe er geschafft, und für die zweite brauche er das Ritalin.
Gavin erzählte von seinen Jugenderfahrungen mit Drogen:
"Mit sechzehn, siebzehn wollte ich unbedingt Halluzinationen haben, aber ich habe mich nicht getraut, LSD zu nehmen, ich habe nur gekifft. Da habe ich einfach tagelang nicht geschlafen und ganz viel Kaffee getrunken. Und da ging es los!"
"Was hast du denn gesehen?"
"Alles! Ich bin durch die Stadt gegangen, und die Stadt ist hinter mir zusammengefallen."
Ich erzählte von den Sachen, die ich schon im Halbschlaf auf der Autobahn gesehen habe, von dem vertrockneten Tannenbaum bis zu den neongrünen Hydranten.
Gavin erzählte, daß er schon einen echten, also nicht halluzinierten Auspuff plötzlich vor sich auf der Fahrbahn gesehen habe:
"Es war glatt, ich bin mit hundert Sachen drübergefahren. Eine Seite von meinem Auto war ziemlich kaputt. Doch normalerweise fahre ich da mit zweihundertfünfzehn lang ... wer weiß, was dann in so einem Fall passiert wäre."
Eine Weile saß ich neben Siro auf einer Fensterbank. Während wir uns unterhielten, torkelte ein Betrunkener lallend herum und suchte in fremden Sachen nach seinen eigenen. Dana meinte, heute seien hier alle betrunken. Siro meinte, am besten sei es, wenn man einem betrunkenen Störenfried noch einen ausgebe, dann schlafe er nämlich ein und störe keinen mehr. Der Störenfried trank aber von alleine noch mehr und schlief auf einer Bank ein.
Ende Februar berichtete ein Forummitglied, Rafa sei "schon wieder" im W.E-Chatroom gewesen.
Rafa bewegt sich augenscheinlich wieder öfter in seinem Chatroom, jedoch ohne Ankündigung, zu unvorhersehbaren Zeiten. So werde ich ihn dort wohl nicht antreffen, zumal ich nicht langstreckig im Chatroom sein kann, habe ich doch noch vieles andere zu tun.
In einem Traum erlebte ich Folgendes:

Ohne Anmeldung kam Rafa eines Abends zu mir zu Besuch. Meine Wohnung war teilweise ein Hotel.
"Mir geht es nicht so gut", erzählte Rafa, "ich bin ganz schön gestreßt, nun ja ... wo Berenice ist, weiß ich eigentlich gar nicht. Die habe ich schon eine ganze Weile nicht gesehen."
Ich hatte den Eindruck, daß er von ihr getrennt war, wenigstens vorübergehend.
Rafa und ich legten uns in mein Bett und zogen die Decke über uns. Rafa zog seine Kleidung weitgehend aus. Ich hatte meine Hausgarderobe noch an, wollte die aber auch ausziehen. Über einem engen T-Shirt trug ich das rote Seidennachthemd, das ich kürzlich gekauft habe. Längere Zeit lagen Rafa und ich ineinander verschlungen im Bett, völlig still, ohne uns zu bewegen. Wir spürten nur die Nähe des anderen. Eine Weile legte ich meine Lippen an seine Stirn oder er seine an mein Decolleté oder beides gleichzeitig. Meine Hand lag auf seinem Rücken. Wir schwitzten, so wie damals, als Rafa vor zehn Jahren bei mir war und wir in meinem Bett lagen. Rafa erzählte, daß er sich eigentlich nur ausruhen wollte, deshalb habe er auch unten im Hotel einen Zettel unterschrieben, auf dem stand, daß er enthaltsam bleiben werde. Er schien aber sehr nach mir zu verlangen. Ich strich immer wieder über Rafas Körper und zog ihn zu mir heran, um mich zu vergewissern, daß er wirklich da war. Ich konnte es kaum fassen, daß ich ihn nach so langer Zeit wieder in den Armen halten konnte.
Schließlich sagte Rafa, er habe Hunger, und ging in die Küche. Ich ging in das hintere Zimmer und legte alle Kleider ab außer dem roten Seidennachthemd. Währenddessen wachte ich auf.

Daß Rafa mir in diesem Traum so nahe war, kann damit zusammenhängen, daß ich das schräge Stück "Schneemann" häufig im Auto höre, das Rafa im Februar 1993 für mich gemacht hat. In dem Stück redet eine Computerstimme in eigentümlich gebrochenem Deutsch. Unter anderem sagt der Robotermann:

Ist er tot? Nein. Ist er tot? Nein!

... und noch mehr kultverdächtigen Nonsens wie:

Wir bauen einen Schneemann,
und die Sonne scheint dazu.

Das gebrochene Deutsch kommt daher, daß Computerstimmen ursprünglich nur für den angloamerikanischen Sprachraum entwickelt wurden.
In "Schneemann" kommen Rhythmen vor, die sich auch im Industrial- und Power-Elektro-Bereich finden. Rafa könnte also, wenn er wollte, solche Musik durchaus machen.
Der Text von "Schneemann" hat mich inspiriert, eine Fotoserie online zu stellen, die ich 1990 gemacht habe. Damals habe ich in der Märzsonne einen Schneemann gebaut.
Am Freitag gab es im "Verlies" eine reine Industrial-Veranstaltung. Am DJ-Pult standen Abraxas, sein DJ-Kollege Jeff und ein Computerfachmann mit eigener Firma, Opaque. Der hatte von einem Fräser eine selbstgemachte, bislang unveröffentlichte Doppel-CD erhalten. In seiner Freizeit macht der Fräser Musik im Industrie-Stil und nennt sich nach der Stahlsorte, die er als Fräser bearbeitet, "Stainless 4571". Von ihm spielte Opaque etwas, das mir sehr gefiel und das gut zwischen die übrigen Stücke paßte.
Ich kam erst kurz nach zwei Uhr ins Verlies, weil es dann nicht mehr so voll war und ich mehr Platz zum Tanzen hatte. Magnar, ein Devotee (was "Fan von Depeche Mode" bedeutet), der auch Industrial mag, bat mich, unbedingt nächstes Mal wiederzukommen. Meinetwegen sei es heute so geil.
"Und du meinst nicht, das liegt an der geilen Musik?" fragte ich.
"Nein, das liegt an dir", war Magnar sicher. "Immer wenn du da bist, wird die Musik geil."
DJ Jeff erzählte, am früheren Abend, als ich noch nicht da war, habe er schon gedacht:
"Wie kann das sein, so eine geile Party, und die ist nicht da?"
Ein Partygast namens Dustin sprach mich an. Er betrachtet sich als "ganz normal" und findet mich "völlig verrückt", zumindest meinen Tanzstil. Gewiß, er finde mich voll geil, aber sowas sei doch nicht normal. Ich meinte, ich würde mich halt in meinem Tanzstil nicht nach den anderen richten, sondern nach dem Rhythmus der Musik. Dustin findet, daß Industrial keine Musik ist. Ich meinte, das sei Ansichtssache. Meine Kleidung sei im übrigen auch nicht "in", das Jäckchen sogar aus der Spielwarenabteilung. Da staunte Dustin; das hätte er nicht erwartet, daß LEGO schwarze Cocktailjäckchen herstellt. Es ist aber nun einmal so.
Dustin berichtete, er kenne mich vom Sehen schon aus der "Halle"; man rede allerlei über mich, und er wolle es nun genau wissen. Er fragte mich nach meinem Beruf und meinem Alter, und er meinte, so alt, wie ich sei, würde ich nicht aussehen, und das sei keine Schmeichelei, sondern eine Tatsache. Als er mich fragte, wie mein Freund meine musikalischen Vorlieben findet, erwiderte ich, einen Freund hätte ich nicht. Da meinte er, man sage doch, daß da etwas sei oder gewesen sei mit W.E.
"Ja, Rafa ist meine große Liebe", erzählte ich.
Dustin konnte nicht nachvollziehen, wie ich einem Mann treu sein kann, der sich schon vor Jahren für eine andere entschieden hat. Ich würde doch nur meine Zeit vergeuden, wenn ich auf so einen Mann warte. Ob ich denn gar keine körperliche Sehnsucht hätte?
"Doch", antwortete ich, "natürlich habe ich Sehnsucht nach Rafa, aber er will mich ja nicht, und das kann ich auch nicht ändern."
Dustin meinte, das sei doch krankhaft; normalerweise suche man nach Erfüllung der Sehnsucht bei anderen Männern, wenn man den Auserwählten nicht haben könne.
"Nach anderen Männern habe ich keine Sehnsucht", erwiderte ich. "Und mit anderen Männern will ich auch keine Kinder."
"Dann bleibst du doch immer alleine."
"Ja."
Dustin blieb dabei, das sei krankhaft, und ich solle ihm bloß nicht sagen, das sei Liebe.
"Doch, das ist Liebe", entgegnete ich.
Dustin war vor Jahren für zwei Wochen im Jugendarrest in Kingston, als es dort noch den Jugendvollzug gab. Kurz darauf mußte er für drei Jahre in Haft wegen Körperverletzung. Zur Zeit läuft für ihn noch die Bewährung.
"Hast du Anti-Aggressions-Training gemacht, oder kannst du dich inzwischen selbst bremsen?" erkundigte ich mich.
"Ich gehe auf einem Kreuzfahrtschiff arbeiten", erzählte Dustin, "schön weit weg von Deutschland und überhaupt schön weit weg, da raste ich nicht so leicht aus. Und ich bleibe vielleicht danach für immer im Ausland, da bin ich nicht vorbestraft."
Dustin schimpfte ausgiebig über die Politik in Deutschland. Die Dominikanische Republik gefalle ihm besser. Da herrsche eine Diktatur, und es gebe keine Krankenversicherung. Das finde er allerdings auch wieder nicht unbedingt gut. Eine nachvollziehbare Alternative zu sozialen Ungerechtigkeiten in Deutschland konnte Dustin nicht benennen, stattdessen erging er sich in Klagen und Schimpfen über die hiesigen Verhältnisse. Daß er sich in Wahrheit durch seine persönlichen Lebensverhältnisse als Vorbestrafter belastet fühlt und daß er dafür letztlich selbst verantwortlich ist, mochte er sich wohl nicht eingestehen; er zog es vor, davonzulaufen. Nun nimmt ein jeder sich selbst und seine Probleme mit, wohin er auch geht. Das wird Dustin noch zu spüren bekommen, und vielleicht in recht unsanfter Form, wenn man an die explosiven Verhältnisse in Haiti denkt.
Als ich mit Constri und Denise beim Einkaufen war, ging ich um die Hausecke und sah Henk mit seiner Mutter aus dem Friseurladen kommen. Henk hatte etwas eher Feierabend als sonst, und seine Mutter holte ihn ab. Ich gab Henk das versprochene Fluctin. Als er seiner Mutter erklärte, das sei gegen Depressionen, meinte sie, so etwas habe sie nie gebraucht, sie helfe sich immer mit ihrem Humor. So ganz stimmt das nicht. Sie nimmt seit vielen Jahren Valium, ein Suchtmittel, ebenso wie Henk kifft und Alkohol trinkt. Und beide rauchen viel. Als Antidepressivum sind aber weder Valium noch Alkohol, Haschisch oder Nikotin geeignet.
Die Mutter meinte, ich sei immer so weiß.
"Das ist von Natur aus", erklärte ich.
"Na ja, ich habe natürlich auch eine andere Haut."
Für ihre dreiundsiebzig Jahre wirkt Henks Mutter auf mich sehr frisch, lebendig, ansehnlich und junggeblieben. Ihre langen Haare hat sie sorgsam gefärbt, und sie hat ein sehr gepflegtes Makeup.
Henk war nicht sicher, ob ihm das Fluctin helfen könnte. Er hoffte, ohne das Medikament auszukommen.
"Mir geht es schon besser", freute er sich. "Wenn die Sonne scheint, geht es mir immer besser."
Vor Kurzem ist Dereks Großmutter gestorben. Wie sehr er darunter leidet, hat er zuerst nicht zeigen wollen. Constri fiel aber sein verändertes Verhalten auf, und er vertraute sich ihr an. Derek stürzt in Krisensituationen meistens so steil ab, daß er kein Licht mehr am Horizont sieht. Hierin ähnelt er Henk. Ich schlug ihm vor, es auch einmal mit Fluctin zu probieren.
Am Samstag war ich in der "Neuen Sachlichkeit". Im Eingangsbereich hingen Tarnnetze von den Wänden, pinkfarben angestrahlt. Die Musik gefiel mir nicht sonderlich, doch ich traf so viele Leute, daß es mich kaum störte. Puppen-Theo lief in einem weiten weißen Hemd durch die Menge, fotografierte und half dem Thekenpersonal beim Ausschank.
Ich erzählte Claudius, daß Berenice jetzt in Süddeutschland eine Doktorandenstelle für mindestens drei Jahre hat.
"Na bitte", kommentierte Claudius.
Er glaubt nicht, daß die Beziehung zwischen Rafa und Berenice über diese Entfernung halten wird.
Leander erzählte, er habe vor einiger Zeit Ivo Fechtner damit provoziert, daß er Militärkleidung mit Rüschenhemd und langen Ponysträhnen kombiniert habe. Leander ist fasziniert von martialischen Outfits. Dazu gehören auch Lederhosen mit Knieschonern in Totenschädelform.
Um vier Uhr gab es das kostenlose Frühstück. Nach dem Essen fuhr ich Ferry nach Hause, wie ich es häufig tue. Drei Jungs nahm ich auf dem Weg noch ein Stück mit. Sie waren alle etwas angesäuselt, und der eine lallte, gleich müsse er zur Arbeit, er sei nämlich Bäcker. Ich fragte ihn, ob er dann heute schiefe Wecken herstellen werde. Er meinte, am Sonntagmorgen falle es nicht so auf, wenn die Bäcker angetrunken seien. Darauf achte eigentlich keiner.
Bei Sonnenaufgang machte ich Fotos neben und auf einer Autobahnbrücke in der Nähe von BS. Der Himmel war verhangen, die Sonne blaßrot. Gräser, Zäune und Geländer waren bedeckt von weißem, stacheligem Rauhreif. Die Hänge und Felder waren verschneit. Ich machte Bilder von Leitplanken, Stahlgeländern und Baustellenmarkierungspfählen aus rohem Holz mit neonroten Spitzen. Am Rande einer Landstraße fotografierte ich ein Heer von hohen Schilfgräsern, halb versunken im Morgennebel. Hinter einer Raststättenanlage machte ich Bilder, die Ton ind Ton weiß waren, mit reifbedeckten Zweigen, Bäumen, Drahtzäunen und verschneiten Feldwegen.
Es waren fraktale Landschaften, wie eine nicht irdische Welt, wie am Computer generiert. Und es war ein seltenes Datum, der 29. Februar.
Abends versuchte ich, über den Link, den Rafa im W.E-Forum als Zugang für seinen Chatroom bezeichnet hat, dorthin zu gelangen. Es öffnete sich ein ähnliches Fenster, wie ich es schon vom W.E-Chatroom kenne, doch gelangte ich darüber nicht in den Chatroom. Ich wählte eine URL, über die ich früher in den W.E-Chatroom gekommen bin, und so gelangte ich in den Chatroom. Ich erkundigte mich, ob dies der richtige Chatroom war, und die anderen Chatter bestätigten dies.
Oben auf der Liste der Chatter, die gerade online waren, stand "@we-chat-status". Ich erkundigte mich bei den anderen Chattern, was es mit dem"@we-chat-status" auf sich hatte, und ich erhielt die Auskunft, daß das nur ein "Bot" war, also ein "Roboter", der den abwesenden Rafa vertrat.
In der März-Ausgabe einer Szenezeitschrift gibt es einen Bericht von Rafas Auftritt im vergangenen Oktober in S. Der Autor beschreibt das Konzert mit einer naiven Begeisterung, die für Rafas Fans typisch ist. Die Brocken, die Rafa leutselig ins Publikum wirft, werden von der ergebenen Gemeinde dankbar angenommen, ob es sich um die immergleichen Luftballons mit W.E-Logo handelt oder um Sekt, der bei diesem Konzert von den Bandfrauen in Plastikbechern verteilt wurde.
Amelie hat erzählt, daß Dessie mit Darius Schluß gemacht hat. Er soll nicht in jeder Hinsicht ihren Erwartungen entsprochen haben. Dessies Beziehungen sollen immer flüchtig sein. Amelie und Dessies Schwester Jay-Elle hatten gehofft, daß Dessies Beziehung mit Darius halten würde, weil Darius nicht so labil ist wie die meisten anderen von Dessies Freunden. Darius lasse sich nicht alles bieten, das könne Dessie gut vertragen. Nun ist die Beziehung aber doch in die Brüche gegangen.
Dessie muß schon sehr labile Freunde gehabt haben. Einer soll sich umgebracht haben, indem er mit dem Auto mit hundertvierzig Stundenkilometern gegen eine Mauer fuhr, nachdem Dessie sich von ihm trennte. Dessie soll selbst recht labil sein und recht unreif.
Anfang März äußerte Rafa sich zu einer Umfrage im W.E-Forum mit dem Titel "W.E lieber alt oder neu?", in der es um die Frage ging, ob die Forummitglieder lieber die älteren oder die neueren Stücke von W.E hörten. Rafa schrieb:

Guten Tag,
ich verfolge diese "merkwürdige" Umfrage nun schon seit der Entstehung ...
-   Ab wann ist denn "alt" alt oder bis wann "neu" neu?
-   Und ab wann ist Neues "alt"?
Das hört sich hier manchmal so an, als ob es irgendwann eine Art Wende gegeben hätte. Wann soll denn das genau gewesen sein?
*mich alt fühl* ; )
Honey
p.s.: Ist "alt" nicht das, was man schon immer kennt, an welches man sich klammert wie an den Rocksaum der Mutter ... nur weil man Angst hat?
Angst vor etwas Neuem!

Wenn ich Rafas Verhalten betrachte, stelle ich fest, daß Rafa Angst vor Veränderungen hat und daß er sich, der immer noch in seinem Kinderzimmer lebt, auf gewisse Weise noch immer an den Rocksaum der Mutter klammert ... und es könnte sein, daß er sich dabei ziemlich alt fühlt, wenigstens zu alt, um noch im Elternhaus zu wohnen.
Friseur Mauro hat sich nach vierzehn Jahren von seinem Freund Niklas getrennt. Er sei im Alter von achtzehn Jahren mit Niklas zusammengekommen. Damals sei der um etliche Jahre ältere Niklas für ihn ein großes Vorbild gewesen, zu dem er aufgeblickt habe. Später habe er immer mehr seine eigene Persönlichkeit entwickelt und erkannt, daß Niklas eigentlich als Lebensgefährte nicht zu ihm paßt.
Jay-Elle hat erzählt, daß Dessie und Darius wieder zusammen sind, nach nur einer Woche der Trennung. Sie sollen erkannt haben, daß sie "sich doch mögen".
Dessie und Jay-Elle haben bei Ebay ein Autogramm von Rafa für immerhin 7,50 Euro verkauft. Sie fragten Rafa, ob er ihnen nicht einfach mal hundert Autogramme schreiben wollte, damit sie ein bißchen größer einsteigen konnten. Rafa lehnte das jedoch ab.
Amelie hat von Dessie eine skurrile Szene erzählt bekommen. Dessie war mit Rafa und Darius beim Bäcker, und Rafa wollte unbedingt ein bestimmtes Gebäck kaufen, daß es dort aber nicht gab. Die Verkäuferin soll ihn gefragt haben, ob er vielleicht stattdessen einen Keks haben wollte, aber Rafa bestand auf diesem bestimmten Gebäck. Er soll ein bizarres Theater inszeniert haben, von dem die Verkäuferin ziemlich verdattert gewesen sein soll.
"Das paßt zu ihm", meinte ich. "Als er mal mit mir im Taxi zu mir gefahren ist, hat er mich gefragt, ob es auf der Tanke Pfirsich-Lollis gibt ... Der läßt sich immer sowas einfallen."
Am ersten Samstag im März war ich bei "Stahlwerk" in HH. Dort traf ich auch Darien. Er erzählte, daß er inzwischen Erwerbsunfähigkeitsrente empfängt. Die sei befristet, jedoch sei er nicht sicher, ob es ihm eines Tages wieder gelingen werde, den Belastungen des Erwerbslebens standzuhalten. Ihm ist auch jetzt, nach vier Jahren mit Multipler Sklerose, keine Behinderung anzumerken. Die Behinderung, die ihm zu schaffen macht, ist unsichtbar und besteht in einer verminderten körperlichen und seelischen Belastbarkeit, auch "Fatigue" genannt.
Darien berichtete, Deras Scheidung laufe immer noch, deshalb könne er sie immer noch nicht heiraten. Mich erinnert das an Beatrice, die seit fünf Jahren von ihrem Mann getrennt lebt und darauf wartet, endlich geschieden zu werden.



Für den Samstagabend im "Read Only Memory" zog ich ein Oberteil an, das ich erst am Mittag gekauft hatte. Es ist eng, langärmelig, schwarz, elastisch, teilweise durchsichtig und hat einen halsfernen Rollkragen. Ich zog ein schlichtes schwarzes Bustier unter und legte den Choker mit den dunkelroten und grauen Satinröschen um, den ich in Antwerpen gekauft habe. Ich zog dazu den langen weiten Tüllrock an, den ich in Antwerpen gekauft habe, und lange schwarze Abendhandschuhe.
Im "Read Only Memory" bezahlte ich am Eingang und suchte ein wenig in meiner Tasche herum.
"Findest du dein Geld nicht?" fragte ein fremder Herr mit sehr kurz geschorenen Haaren und schwarzer, designerhaft-schlichter Garderobe, der vor der Theke stand. "Ich helfe dir gerne aus."
"Oh nein, ich hab' schon bezahlt", antwortete ich. "Aber du siehst so aus, als wenn du mir gerade einen ausgeben wolltest."
"Na, dann mach' ich das doch einfach", nickte der Fremde.
Ich bedankte mich artig, nannte meinen Wunsch - Bitter Lemon - und erzählte, daß ich zu Hause keine Zeit mehr gehabt hatte, etwas zu trinken, und daß mir dieses jetzt gerade recht käme. Ich blieb mit dem Fremden vorn an der Ecke der Bar und legte meine Sachen auf einen Hocker.
"Wie heißt du eigentlich?" erkundigte ich mich.
"Ich heiße Cennet."
"Ich bin Hetty. Aber wahrscheinlich kennst du mich schon; mich kennen hier alle. Nur ich kenne nicht alle."
"Vom Sehen kenne ich dich, ja."
Wir tauschten unsere Visitenkarten aus und redeten über dies und das. An der Längskante der Theke sah ich Rafa, einige Meter von mir entfernt und über Eck gut zu beobachten. Ich teilte Cennet meine Vermutung mit, daß Rafa mich bereits gesehen hatte, mir aber noch nicht in die Augen schauen wollte. Kurz darauf wurde ich von Rafa angestrahlt. Er hatte keine Brille auf und einen gemusterten Stoffschal um den Hals. Er kam nicht näher an mich heran, sondern blieb an seinem Platz. Wenig später warf er mir noch einmal ein Lächeln zu. Dann stellte er sich einen Schritt weit vor die Theke und unterhielt sich längere Zeit mit Sanina und auch mit ihrer Schwester Trisha. Er tat dies parallel zu meiner Unterhaltung mit Cennet. Berenice sah ich nicht im "Read Only Memory".
Als Rafa in Richtung der hinteren Area verschwand, kamen Darius und Dessie zur Theke. Ich begrüßte die beiden und fragte nach dem Erscheinungsdatum der MCD von Das P. Sie soll erst Ende April herauskommen, dann aber auch mit dem Bandvideo.
Im Tanzraum der Hauptarea unterhielt ich mich mit Siro. Währenddessen kam Rafa auf die Tanzfläche und hampelte und fuchtelte herum, wie er es sonst in dieser Form nicht zu tun pflegt; er tanzt in den letzten Jahren überhaupt nur sehr selten. Ich erklärte Siro, warum ich nicht bereit bin, mit Rafa zu sprechen, wenn er eine Freundin hat:
"Wenn ich mit Rafa rede, umarme ich ihn immer, darauf verzichte ich nie. Damit hätten wir schon eine Dreiecksbeziehung, und das lehne ich ab. Und wenn ich nur freundschaftlichen Kontakt zu ihm hätte, würde ich damit indirekt seine Beziehung mit Berenice akzeptieren, und das tue ich niemals."
"Das hab ich einmal mitgemacht, daß ich eine sogenannte 'freundschaftliche' Beziehung hatte, nach dem mit einer Frau Schluß war", erzählte Siro. "Sowas mache ich nicht wieder. Weil du nur der 'Kumpel' bist, mußt du immer akzeptieren, daß deine Ex wieder jemand anderen hat - furchtbar."
Rafa tanzte mit dem Rücken zu mir. Er war mir zum Greifen nahe, doch ich wollte nicht zu offensichtlich nach ihm haschen. Das nächste Stück begann, "Hello hello" von Lars Falk. Rafa blieb auf der Tanzfläche, und ich tanzte neben ihm. Weil er so wild herumfuchtelte, waren Berührungen unvermeidlich. Daß ich ihn kraulte und daß er mit mir zusammenstieß, schien Rafa zu ärgern, doch er fuchtelte und hampelte weiter und nahm auch nicht Reißaus. Erst als das Stück zuende war, machte er, daß er fortkam.
"Mehr geht nicht", dachte ich. "Mehr bringt Rafa heute nicht zustande."
Ich fuhr zum "Radiostern", weil ich die sehr tanzbaren Stücke, die Cyra dort gegen Morgen auflegt, nicht verpassen wollte.
Am Sonntag schaute ich mir Cennets Homepage an. Er schildert, wie er zur Informatik gekommen ist. Der Text wird begleitet von symbolhaften Bildern, darunter ein C64 und das "23"-Emblem aus dem gleichnamigen Film. Cennet erzählt, er sei zuerst LEGO-Ingenieur gewesen und habe dann, als er das Gefühl hatte, aus dem Spielzeug herausgewachsen zu sein, die Computer für sich entdeckt. Die Geschichte begann für ihn mit dem Sinclair und setzte sich 1983 mit dem C64 fort. 1984 kaufte er einen Akustikkoppler. Das Hacken wurde damals aktuell und modern, nicht zuletzt durch Filme wie "Wargames". Hierzu schreibt Cennet:

In der Hauptzeit des deutschen Hackertums bis ca. 1987 haben mich auch die persönlichen Kontakte sehr geprägt, und einige Freundschaften von damals existieren auch heute noch. Eine in dieser Zeit gewachsene besondere Freundschaft mit Karl Koch nahm 1989 ein plötzliches Ende, als Karl sich am 23.05.89 vermutlich selbst umbrachte.

Er kannte also den Helden (oder: Anti-Helden) des Films "23".
Im Internet habe ich nach Informationen über Karl Koch gesucht. Nachdem er verwaist war, soll er in Hacker-Kreisen eine Art Ersatz-Familie gefunden haben. Überschattet wurde sein Leben von Drogenabhängigkeit und einer Psychose. Er soll unter anderem in Kingston in Behandlung gewesen sein.
Am Sonntag mailte Cennet:

Ich habe mir weite Teile Deiner Geschichte durchgelesen. Ich verspüre Irritation, so vieles aus Deinem Leben erfahren zu haben, ohne dabei, wie im normalen Gespräch üblich, das eine oder andere Feedback auf der Sachebene oder in Form von Selbstoffenbarung gegeben zu haben.
Daher jetzt auch diese E-Mail als kleines Feedback für Dich.
Meine Gedanken zu Deiner Geschichte pendeln zwischen Anerkennung und Betroffenheit, vor allem aber dem Wunsch, dass es Dir und Bisat richtig gut geht. Und wenn es doch mal nicht so toll sein sollte, denke ich an Aristoteles, der die Auffassung vertreten haben soll, dass die Melancholie das edelste aller Gefühle sei.
Wenn letzterer Hinweis überflüssig war, würde mich das auch freuen!

Ich antwortete:

Schön, daß du die Story interessant findest. Die Herausforderung ist dabei immer für mich, wie man aus wahren Erlebnissen etwas Unterhaltsames macht.
Mein Kater Bisat ist inzwischen fast 17 Jahre alt und immer noch bei recht guter Gesundheit.
Sehr interessant finde ich, was du auf deiner HP über deine Erfahrungen mit Computern und deren Usern in den Achtzigern schreibst. Rafa befaßt sich sehr intensiv mit dieser Zeit und den dazugehörigen Rechnern und verbindet damit emotional sehr viel. Er bekam seinen C64 an dem Tag, als sein Vater beerdigt wurde, Heiligabend 1984. Rafa war damals 13. Den Tod seines Vaters hat er nie verkraftet. Karl Koch wird von Rafa wie eine Ikone verehrt. Es könnte ihn sehr interessieren, daß du ihn persönlich kanntest. Rafa betrachtet seinen Vater als Held seiner Kindheit und idealisiert ihn. Er sucht nach Idolen, von denen er wahrscheinlich Orientierungshilfen erhofft. Er verehrt lauter "tote Helden" wie den mit dem Starfighter abgestürzten von Hassel, Tesla, Wernher von Braun und Jesus Christus, um nur einige zu nennen. Auch Karl Koch reiht er hier ein. Er hat 2001 stolz in seiner Homepage angekündigt, daß er am 23.05. das Grab von Karl Koch besuchen wird.
Wie die Geschichte mit Rafa auch weitergehen mag, inspirierend bleibt sie für mich. Seit ich ihn kenne, vergrößert sich nicht nur mein Bekanntenkreis immer weiter, ich habe auch viel mehr kreative Ideen als früher. Den Roman "Wirklichkeit", der sich auch auf www.netvel.de befindet, konnte ja überhaupt nur fertig werden, weil ich Rafa kennenlernte und damit die Vorlage für eine der Hauptfiguren.

Cennet antwortete:

Danke für Deine Antwort. Ich war mit meinen Bekannten noch etwas länger im "Read Only Memory", und da danach keiner mehr Lust auf einen Kaffee bei mir hatte, habe ich es mir alleine mit Kaffee und Notebook in der Küche gemütlich gemacht und angefangen, Deine Geschichte zu lesen.
Fein zu hören, dass es Deinem Kater trotz seines stolzen Alters gut geht. Noch besser zu hören, dass Du eine so positive Grundhaltung hast.
Ich muss zugeben, dass ich in der letzten Zeit nur noch selten an Karl gedacht habe. So ein Hinweis von extern transportiert mich dann aber in Gedanken doch wieder blitzartig in der Zeit zurück. Mit dem Bild von Karl als Held habe ich aber doch ein paar Probleme.
Wenn Du Dich für die Geschwister Scholl interessierst, könnte Dich vielleicht auch die Geschichte von Kurt Gerstein interessieren. Es gibt eine Verfilmung unter dem Titel "Amen" (F) bzw. "Der Stellvertreter" (D) mit Ulrich Tukur in der Hauptrolle, die mich auch nach wiederholtem Sehen nicht losgelassen hat.

Am Sonntag gab ich ein Frühjahrskränzchen mit sechzehn Damen, darunter auch die Kinder Denise, Elaine und Celina. Cyra freute sich besonders über die Mandel-Waffeln, die ich gemacht hatte; die kamen auch bei den anderen gut an. Cielle erzählte von ihrem Freund Keno, dem Seemann. Zur Zeit soll er sich ihr gegenüber ziemlich abweisend verhalten, aus unbekanntem Grund. Cielle hat den Eindruck, mit Männern immer nur Pech zu haben, und das führt bei ihr zu einer allgemeinen Hoffnungslosigkeit bis hin zur Selbstmordgefahr.
Beim Damenkränzchen war auch meine Kollegin Dodo. Sie arbeitet erst seit Kurzem in Kingston. Studiert hat sie in AC., wo ich erst im vergangenen Herbst wieder gewesen bin, weil in der Nähe das "Maschinenraum"-Festival stattfand. Ich fragte Dodo, ob sie die Streuselbrötchen kennt, die es in AC. gibt und die ich besonders gern mag. Die kennt sie.
Dodo hat mich auf der Arbeit schon öfters angerufen und Rat gesucht. Sie wirkt recht unsicher auf mich. Als sie am Montag ihren Geburtstag feierte, war ich bei ihr in BS. Mir fielen mehrere Seltsamkeiten auf. Dodos hübsche, moderne Wohnung ist ausschließlich mit Möbeln und Dekorationsgegenständen aus dem nahegelegenen IKEA eingerichtet; es scheint nichts zu geben, was Dodo vorher schon besessen hätte. Die Wohnung wirkt nicht wie eine gewachsene persönliche Umgebung mit Erinnerungen aus verschiedenen "Epochen", sondern unpersönlich wie eine Möbelausstellung, eine "Wohnung aus der Retorte". Entweder hat Dodo bei ihrem Einzug alles weggeworfen, was sie von früheren Zeiten besessen hat, oder sie hat nie etwas aufbewahrt. Ähnlich verhielt es sich mit der Partygesellschaft. Es waren ungefähr zwanzig Gäste, und nahezu keiner von ihnen schien aus einem länger bestehenden, gewachsenen Bekanntenkreis von Dodo zu stammen. Im Grunde hatte Dodo nichts anderes getan, als das Personal der Station einzuladen, wo sie erst seit wenigen Wochen arbeitet, als "Gäste aus der Retorte".
Der "alte Hase" Detmer, ein Ausbildungspfleger, erzählte, daß er vor Jahren mit dem Gedanken gespielt hat, im Irrenhaus in Snd. zu arbeiten, wo ich 1999 auch schon gearbeitet habe, in meiner AiP-Zeit. Man warnte ihn jedoch, und er arbeitete dort nicht. Den Inhaber findet er zwielichtig:
"Der betrügt seine Frau und bezahlt untertariflich."
Zum Glück sei er da nicht hingegangen.
"Der Inhaber ist ein vollkommen asozialer Narzißt", konnte ich aus Erfahrung berichten. "Der hat eine geleckte Fassade, und dahinter ist er frei von jedweder Moral."
"Der ist von Beruf Sohn", wußte Detmer. "Ich kannte den Vater, der war vom alten Schlage, traditionsbewußt."
"Vielleicht hat die Mutter den Sohn total verwöhnt und verzogen", überlegte ich. "Der ist ja nicht empathiearm, der ist empathiefrei. Der hat keinerlei Bezug zu seinen Mitmenschen. Die sind für den nur Gegenstände."
Oberschwester Anny war auch auf der Party. Als ich erzählte, daß es mich freut, daß die Szene-Band Oomph! es mit dem Freizeichen-Cover "Augen auf!" in den offiziellen Charts bis auf Platz eins geschafft hat, erzählte Anny:
"Der Schlagzeuger wohnt fast bei uns auf den Klinikgelände - überm Domcafé."
In Kingston erzählte Amelie, sie habe während eines Besuchs bei ihren Eltern kurz meine Website angeschaut. Besondert niedlich fand sie Denise auf den Bildern von der Taufe:
"Was ist denn das für eine süße Kleine?"
Ihr Vater soll selbst Homepages gestalten und die meinige mit Anerkennung betrachtet haben. Zu den Fotos meinte er, die würden zu langsam geladen. Amelie entgegnete, mir sei es wahrscheinlich wichtiger, daß der Betrachter ein hochwertiges Foto zu sehen bekommt, als daß er bequem kurze Ladezeiten hat; wenn jemand sich für die Bilder wirklich interessiere, sei er auch bereit, zu warten. Das konnte ich bestätigen.
Als Amelie vorübergehend in H. gewohnt hat, war sie in verschiedenen Discotheken unterwegs, auch im "Verlies". Sie war ziemlich modemutig; sie zog sogar ein durchsichtiges Oberteil ohne Dessous an. Ich erzählte, in der Wave- und Elektro-Szene sei das nichts Ungewöhnliches. Wer die Szene nicht kennt, verwechselt ein verführerisches Outfit mit einer Aufforderung, was aber damit nicht gemeint ist. In der Szene kann man Haut zeigen, ohne von paarungswilligen Herren belagert zu werden.
Cielle erzählte in einer E-Mail von Keno:

er will mich diese woche mal anrufen, ich schätze ihn so ein, daß er dann vielleicht hoffentlich mal anfängt zu plaudern ... keno ist normalerweise nicht so. sonst ist er ehrlich. er muss grad echt selbst nicht wissen, was in ihm vorgeht ... ich hoffe, daß alles wieder gut wird ... denn ich weiß, sollte ich ihn verlieren, würde es mir das herz zerreißen!!! und ich würde in ein loch fallen, aus dem ich dann keinen ausweg mehr finden MÖCHTE!!! irgendwann ist mal schluß mit lustig!!! irgendwann bekommt man selbstzweifel ... vor allem dann, wenn das ganze leben auf vielen negativen ereignissen basiert ... insbesondere was beziehungen mit männern angeht ... wenn man immer nur gibt ... keno hat mir jetzt schon so viel gegeben ... ich fühle mich bei ihm zu hause ... so, wie es mit ihm ist, wenn er bei mir ist ... sowas kannte ich vorher gar nicht, allein deswegen ist es so etwas besonderes für mich ... und ihm geht es ja genauso ... ich bin seine große liebe, sagt er.
... ich möchte, daß alles wieder gut wird!!!

Berenice kündigte auf ihrer Homepage an, daß sie im April gemeinsam mit Valerien auf einer W.E-Fan-Party in ER. auflegen wird. Hierzu fällt mir ein, daß ER. unweit von R. gelegen ist, der Heimatstadt von Seraf. Vielleicht hat Seraf etwas damit zu tun, daß Berenice nach Süddeutschland gezogen ist.
In einer E-Mail schrieb ich an Cennet:

Für die Geschwister Scholl interessiere ich mich tatsächlich. Wo gibt es denn den Film zu sehen, von dem du erzählt hast?
Inwiefern hat sich eigentlich der wirkliche Karl Koch von dem in der Verfilmung unterschieden?

Cennet antwortete:

"Die Weisse Rose" habe ich als Jugendlicher zum ersten Mal gesehen, und der Film ist mir durch die Geschichte und das Gesicht von Lena Stolze in der Rolle der Sophie bis heute haften geblieben. In den letzten Jahren habe ich vermehrt Buecher ueber den Nationalsozialismus gelesen, um eine Vorstellung zu entwickeln, wie es dazu kommen konnte. Als mein Grossvater noch lebte, hat mich das Thema zu wenig interessiert, um mit ihm darueber zu diskutieren. Heute haette ich Unmengen von Fragen an ihn.
Den Film "Der Stellvertreter" sollte man eigentlich als Video oder DVD ausleihen koennen. Ich habe ihn auf dem Computer und koennte ihn Dir auf zwei CDs oder eine DVD kopieren. Ich koennte auch mal wieder einen Videoabend organisieren, und Du kommst dazu. Zweimal habe ich ihn schon vorgefuehrt, und es ergaben sich immer sehr interessante Diskussionen im Anschluss. Infos zu Kurt Gerstein (und dem Film) kannst Du unter http://www.kurt-gerstein.de finden.
Karl Koch war im echten Leben kein Superhacker. Er konnte z.B. nicht programmieren, was seine Moeglichkeiten im Umgang mit den Maschinen schon arg reduzierte. Er war meistens von Gleichgesinnten abhaengig, um die wirklich interessanten Sachen zu machen. Er war auch vor dem KGB-Hack schon an Drogen interessiert und ein Gewohnheitskiffer vor dem Herrn. Der KGB-Hack hat ihn nicht in den Strudel gezogen, im Ausloeser dafuer steckte er leider schon vorher. Na ja, dazu kann ich Dir vielleicht bei Gelegenheit nochmal das ein oder andere erzaehlen.

Ich antwortete:

Videoabend wär gute Idee. Der "Weiße Rose"-Film mit Lena Stolze hat mich übrigens auch sehr geprägt.

Am Dienstagabend war ich bei Henk. Er servierte mir Pizza Frutti di Mare und Limettensaft. Vorher vergewisserte ich mich, daß sich auf der Pizza keine ganzen Tintenfische befanden. Früher einmal habe ich während einer Nachtwache in der Hochschule gemeinsam mit einer Nachtschwester Pizza Frutti di Mare bestellt, auf der befanden sich lauter ganze Tintenfischchen, die ihre rosa Beinchen in die Luft reckten. Wir fanden die Pizza widerlich und warfen fast alles weg.
Während ich bei Henk war, schnitt er einer Kundin die Haare. Dazu sang er ein Liedchen, das er einst in B. in Travestie-Shows vorgetragen hat:
"Freut euch des Lebens,
Großmutter wird mit der Sense rasiert,
alles vergebens,
sie war nicht geschmiert.
Zwei Typen saßen auf 'ner Bank,
der eine roch, der and're stank.
Sagte der roch, zu dem, der stank:
'Ich setz' mich gleich auf 'ne and're Bank.'
Freut euch des Lebens ..."
Henk erklärte, das Lied sei uralt, und ich erklärte ihm, daß es in der Tat uralt ist, aber eigentlich ganz anders geht:
"Freut euch des Lebens,
weil noch das Lämpchen glüht,
pflücket die Rose,
eh' sie verblüht."
Das hatte Henk noch nicht gewußt.
Was Rafa betrifft, so wollte Henk nichts über ihn hören. Ich erzählte, daß es zwischen Rafa und ihm durchaus die eine oder andere Gemeinsamkeit gibt, und das, obwohl Henk "vom anderen Ufer" stammt. Beide schminken sich, beide gehen gern auf Flohmärkte, beide haben Mütter, die künstlerisch arbeiten. Beide hängen ihren Müttern ziemlich am Schürzenband. Beide mögen schrille Moden verflossener Jahrzehnte. Beide zeigen sich gern auf Bühnen und singen gern. Beide sind schwer nikotinabhängig und lassen auch das Bier nicht stehen. Beide haben oder hatten wahllose Bettgeschichten. Und wenn man ihren Erzählungen glauben darf, haben beide schon einige depressive Phasen und Selbstmordversuche hinter sich.
Henk versicherte mir einmal mehr, umbringen werde er sich gewiß nicht. Das sei Vergangenheit.
Henk erinnerte sich an den Tod seines Bruders Marek im Jahre 1994. Noch heute macht Henk sich Vorwürfe, weil er den Besuch bei Marek in DO. so lange hinausgeschoben hat:
"Immer hatte ich eine Ausrede."
Schließlich habe eine Mitarbeiterin der AIDS-Hilfe Marek halb tot in der Wohnung liegend aufgefunden. Da endlich, als Marek während seiner letzten Tage im Krankenhaus war, kam Henk mit seiner Mutter zu Besuch.
Henk macht sich Sorgen um den Sohn seiner Stiefbruders. Der Stiefbruder hat Henk als Kind vergewaltigt. Heutzutage erlaubt der Stiefbruder seinem zwölfjährigen Sohn das Rauchen und macht einen so zweifelhaften Eindruck, daß Henk befürchtet, daß er den Sohn auch sexuell belästigt.
Am Donnerstag war ich bei Lana und ihrer Familie zu Besuch. Die inzwischen vierjährige Raya hat ein erhöhtes Bett bekommen, unter dem sie Platz zum Spielen hat. Auf dieses Bett steigt Raya ohne Leiter, obwohl es höher ist als sie selbst.
Lana gab mir Mitbringsel aus Indien. Raya hatte für mich ein farbenfrohes Plastikbild von Jesus und Maria ausgesucht - wie ich finde, nicht einfach Kitsch, sondern einfach Kult. Jesus und Maria sind auf dem Bild im gleichen Alter und wirken mehr wie ein Ehepaar als wie Mutter und Sohn. Lana hatte für mich eine Blechschatulle im indisch-bunten Dekor ausgesucht und ein zeitgeschichtlich interessantes Büchlein mit einer Bildergeschichte, die von Papst Pius XII handelt. Das Büchlein verkauft den Papst als unfehlbares Vorbild für Kinder. Dabei ging gerade er als unrühmliche Figur in die Geschichte ein, weil er sich zur Zeit des Nationalsozialismus weigerte, den Massenmord an den Juden anzuprangern, und weil er nach dem Sturz des NS-Regimes mehreren NS-Verbrechern Zuflucht und Hilfe gewährte. Davon handelt der Film "Der Stellvertreter", den Cennet mir empfohlen hat. Der gläubige SS-Mann Kurt Gerstein versuchte, den Papst dazu zu bewegen, sich öffentlich gegen die Judenverfolgung durch die Nazis zu stellen, jedoch vergeblich.
Lana erzählte von der Armut und der vielerorts mangelnden Hygiene in Indien. Als sie in einem sauberen, gemütlichen Wohnhaus den Klodeckel öffnete, war eine Ratte durch die Kanalisation in die Kloschüssel gekrochen und blickte Lana neugierig an. Als Lana schrie, wirkte die Ratte etwas irritiert. Lana warf den Klodeckel zu, und als sie ihn später wieder öffnete, war die Ratte weggeschwommen.
Lana will so bald wie möglich wieder arbeiten und hat sich auch in B. beworben. Sie will sich dort aber nicht mit ihrem früheren Freund Blixa treffen, der in B. lebt. Seit Rayas Geburt ist Lanas Kontakt zu Blixa weitgehend abgebrochen. Das hat wohl auch damit zu tun, daß die Beziehung zwischen Blixa und Lana unter anderem wegen eines Kindes endete, das Lana von Blixa nicht haben wollte. Kurz nach dem Ende ihrer Beziehung mit Blixa hat Lana Jules geheiratet. Anfang 2000, über acht Jahre später, bekamen Lana und Jules ihre Tochter Raya.
Am Freitagabend war ich bei Dina-Laura, die mehrere Damen zu Gast hatte, unter ihnen Cyra, Cielle, Desirée und Lilly. Dina-Laura bereitete gemeinsam mit den anderen das Essen zu. Die festlich gedeckte Tafel war erleuchtet von Kerzen, die in perlenverzierten Drahtgefäßen brannten. Alles war in Offwhite und Rot gehalten, wie auch die übrige Wohnung. Rote Lampen und Reislampen verbreiteten gedämpftes Licht. Auf den Sofas lagen zwei Katzen.
Für ein stilvolles, entspannendes Ambiente will Dina-Laura auch in dem Wellness-Center sorgen, das Anfang April neu eröffnet wird und wo sie seit Kurzem angestellt ist. Das Wellness-Center befindet sich in einem Hotel, das bereits in offiziellen Verzeichnissen als Wellness-Hotel gelistet ist.
Dina-Laura hat kreative Ideen für ihre ganzheitlichen Konzepte. Für jeden Kunden soll es eine "Zeremonie" geben, passend zur Jahreszeit oder den Kundenwünschen ("Zeremonie der Entspannung", "Frühlingserwachen"). Sie will mit Licht, Farben, Düften, Essenzen und einer teuren Sprudelwanne arbeiten.
"Das kommt an", war ich sicher. "Die Leute wollen sich erholen von der rauhen Wirklichkeit. Und du gibst jedem individuelle Zuwendung."
Cielle berichtete, daß ihr Freund Keno sich ihr gegenüber immer noch abweisend verhält und sich über die Gründe immer noch ausschweigt. Cielle wirkte matt und resigniert, schien sich jedoch von ihrer darniederliegenden Beziehung nicht die Laune verderben lassen zu wollen.
Spätabends waren wir im "Alcantara", um uns eine Travestie-Show anzusehen. Die Getränkepreise waren überteuert, aber drei Getränke leistete ich mir doch, einen Roséwein, einen Sambuca und einen Cappuccino.
Luxury, ein zur Frau umoperierter Transsexueller, führte durch die Show und sorgte mit lockeren Sprüchen für Frohsinn:
"Ein junger Kerl ruft:
'Ich bin so spitz, ich könnte einen Omnibus vergewaltigen!'
Das hört ein Schwuler und ruft:
'Hup! Hup! Hier kommt Linie 20!'"
... oder:
"Als Mädchen werde ich manchmal ziemlich dreist angebaggert. Sagt doch an der Theke so ein Kerl zu mir:
'Es wäre schön, wenn du geil wärst.'
Da habe ich geantwortet:
'Es wäre geil, wenn du schön wärst.'"
Über sich selbst sagte Luxury mit treuem Augenaufschlag, sie sei achtundzwanzig ... "Oder?"
Jedenfalls sei ihre Oberweite auf jeden Fall künstlich und werde deshalb im Alter nicht nach unten rutschen, wie es mit echten Brüsten passiere.
Für Cyra und mich war das Highlight der Show ein fast zwei Meter hoher, äußerst schlanker Travestie-Künstler voll androgynem Charme. Zum Auftakt kam er in einem Kostüm, das bestand aus einem mit unzähligen roten Plastikteilchen bestickten Mieder mit angesetztem Flatterrock, roten Lackschuhen mit Plateausohle und High Heels, einer Perücke mit einem wasserfallartigen Pferdeschwanz aus Unmengen von schwarzen Plastikhaaren, gut anderthalb Meter lang, außerdem roten Teufelshörnern als Kopfzierde, die etwa einen halben Meter in die Höhe ragten, und hinten an der Kehrseite trug er einen geschwungenen, fast bis zum Boden reichenden Teufelsschwanz, der in einer Pfeilspitze endete. Luxury kündigte den Travestie-Künstler als Drag Queen namens Carla an, die im Falsett singen könne. Carla trug ein Mikrophon um den Hals und am Rücken ein schwarzes Kästchen, das für eine Funkverbindung sorgte. Mit hinreißenden schlangenförmigen Bewegungen schritt er rot angeleuchtet im Halbdunkel über die Bühne und sang mit Falsettstimme "L'amour ... l'amour ...", die Arie "La Habanera" aus der Oper "Carmen", unterlegt mit einer Backgroundmusik, die aus originalen Orchesterklängen und einem elektronischen Rhythmus bestand. Der Rhythmus unterstrich das beinahe roboterhafte Outfit. Die in dem Kostüm enthaltene Elektronik zeigte Carla nach und nach während der Show. Zuerst leuchteten die Teufelshörner rot auf, dann erstrahlte die im Kleid eingearbeitete Plastik-Oberweite, dann war der dem Kleid aufgesetzte Plastik-Schambereich an der Reihe, und schließlich leuchtete der Teufelsschwanz, alles in Rot. So, aus vielen Lämpchen funkelnd, bewegte sich Carla am Ende der Arie durch die ihn inzwischen umgebende Dunkelheit zurück in die Garderobe.
Ein anderes Kostüm verwandelte Carla in eine Mischung aus Alien und Krokodil. Am Hintern trug er einen geschwungenen Krokodilsschwanz aus Schaumstoff. Es gab wieder einen gewaltigen Kopfaufbau zu bestaunen und endlos hohe Absätze. Als die Bühne dunkler wurde, schaltete sich ein grüner Laser über Carlas rechtem Auge ein, dann folgte ein grüner Laser an einer Fingerspitze und dann einer am Schambereich.
Das dritte Kostüm war eine Art Beduinenmantel, dazu gab es eine sorgsam geflochtete Turmfrisur, die ungefähr die Form eines überdimensionierten Blütenkelchs hatte. Während einer romantisch dahinschmelzenden Ballade bekam Carla so einen Lachanfall, daß er abwinkte und nicht weitersingen konnte. Der Applaus war umso heftiger.
Beim vierten Auftritt trug Carla eine ausladende, springbrunnenartige Perücke, deren Korkenzieherlocken aus schwarzem Gummi gemacht waren. Die Locken waren mit blauer Glitzerfarbe betupft. Angekleidet war Carla mit einem schwarzen Ganzkörper-Netzbody, einem blau schillernden Bustier und einem winzigen blauschillernden Röckchen. Dazu trug er bis weit über die Knie reichende schwarze Schnallenstiefel mit Plateausohle und High Heels. Als Schmuck trug er silbern schillernde Ohrringe, ein Straßhalsband und blauschillernde Armbänder. Er sang "I turn to you" von Melanie C. und "Toxic" von Britney Spears, wobei "Toxic" meiner Meinung nach erst durch Carlas Gesang zu einem ansprechenden Lied wurde, weil man die röchelnde Stimme von Britney Spears nicht ertragen mußte.
Carla freute sich, als Cyra und ich ihm sagten, wie begeistert wir von seiner Performance waren. Er berichtete, daß er seine Kostüme selbst herstellt. Es muß eine unendlich mühselige Kleinarbeit sein, zu der überdies eine außergewöhnliche Kreativität gehört.
Carla stammt zur einen Hälfte aus Polen und zur anderen Hälfte aus Afrika. Seine Wahlheimat ist HH., wo er öfters in Travestie-Shows zu sehen ist.
Carla gab Cyra und mir Autogrammkarten, auf die er mit silbernem Edding eine Widmung schrieb. Carla ist auf der Karte mit den Korkenzieherlocken aus schwarzem Gummi abgebildet.
Am Samstag war ich in der "Neuen Sachlichkeit". Puppen-Theo hatte sich schon wieder etwas neues Besonderes einfallen lassen. Die Zahl der Schaufensterpuppen hatte sich auf fünf erhöht, "eigentlich sieben", merkte Puppen-Theo an, "wenn man die Gogos mitzählt." Er bekommt die Puppen - aber nicht die Gogos - von einer Bekannten, die eine Boutique hat und gelegentlich Schaufensterpuppen ausrangiert. Vor dem Sarg, der als DJ-Pult dient, hatte Puppen-Theo eine der Schaufensterpuppen hingelegt. Sie war mit einer Heckenschere erdolcht und mit roter Farbe schauerlich bemalt. Zu Häupten und zu Füßen stand je eine flackernde Kerze.
Eine weitere Schaufensterpuppe war an einem vorspringenden Stahlhaken aufgeknüpft worden, eine saß auf der Bühne, eine saß hinter der Bar auf einem Schrank und eine, ein Torso, wurde auf einem anderen Schrank hinter der Bar von einer IKEA-Schreibtischlampe angestrahlt. Auf der Theke verbreiteten vierarmige Leuchter Flackerlicht.
Über dem Eingang des Saales hing ein Drahtkörbchen mit einem Schädel darin. Puppen-Theo erklärte mir, daß das sein Maskottchen sei und bei jeder Party da hänge.
"Inzwischen hat es dir wirklich Glück gebracht", meinte ich, als Puppen-Theo berichtete, daß er mittlerweile an seinen Parties tatsächlich etwas verdient. "Du gibst dir so viel Mühe und steckst so viel Kreativität hinein, da ist es nur recht und billig, wenn du dafür belohnt wirst."
Wie schon beim letzten Mal hingen Folien mit dem Umrissen gotischer Kirchenfenster vor den Hallenfenstern. Auf meine Nachfrage erzählte Puppen-Theo, daß er die gotischen Kirchenfenster aus schwarzer Klebefolie ausgeschnitten und auf die langen Bahnen aus durchsichtiger Folie geklebt hat.
"Viel Geschicklichkeit ist dafür notwendig", dachte ich. "Diese Folien können so leicht Falten werfen, sich verziehen oder reißen."
Ein Mädchen namens Tami fragte mich, ob sie hier wohl im knappen Höschen herumlaufen könne. Ich entgegnete, das könne sie auf jeden Fall, zumal sie auch die Figur dazu habe.
"Aber die Frauen lästern dann", wandte sie ein.
"Die haben selber schuld, wenn sie lästern", meinte ich, "die sind nur neidisch. Das ist deren Problem und braucht dich nicht zu kümmern."
Tami und eine ihrer Freundinnen, die einen sehr knappen BH trug, gesellten sich kurz danach auf der Tanzfläche zu mir und meinten, es sei wirklich so, daß die Frauen lästerten. Und sie würden doch viel lieber oben bei den Gogos tanzen.
"Ihr könnt ja einfach mal fragen, ob ihr auf die Bühne dürft", schlug ich vor, "vielleicht lassen sie euch."
Wenig später erschienen die beiden oben auf der Bühne und umtanzten die Gogos. Tami erzählte mir danach, sie habe schon als Gogo gearbeitet.
Gegen Morgen erschien Tami noch einmal allein auf der Bühne und übergoß sich hingebungsvoll mit Kerzenwachs. Sie verwendete eine der Kerzen, die die erstochene Schaufensterpuppe umrahmten. Nachdem Tami die Kerze wieder an ihren Platz gestellt hatte, führte sie einen "Beinahe-Striptease" vor. Puppen-Theos Mitveranstalter Cyriac fotografierte sie begeistert. Tami warf sich für ihn auf einer Treppe und am Treppengeländer in aufreizende Posen. Sie kann sogar Spagat.
Als die übergewichtige Zerline das sah, zeigte sie auf der Tanzfläche, daß sie ebenfalls Spagat kann. Sie hat früher Kunstturnen gemacht. Weil sie aber inzwischen so schwer ist, kam sie aus dem Spagat nur mit viel Mühe wieder hoch.
Zerline kennt Puppen-Theo privat, weil er ein Bekannter ihres ehemaligen Freundes ist. Sie erzählte, sie wisse nicht, ob sie Puppen-Theo liebe, aber sie sei fasziniert von ihm. Sie telefoniere öfter mit ihm, man gehe auf freundschaftliche Art miteinander um, doch zu mehr sei es bislang nicht gekommen. Ob sie ihm gefalle, habe sie ihn bislang nicht zu fragen gewagt. Sie könne sich nicht so recht vorstellen, daß er sie trotz ihres Übergewichts anziehend findet. Auch wisse sie nicht, ob er als Zweiundvierzigjähriger mit ihr als Sechsundzwanzigjähriger zufrieden sein könnte.
"Für das Alter hat er sich gut gehalten", meinte ich.
"Seehr gut!" schwärmte Zerline.
Immerhin traute sie sich, Puppen-Theo zu fragen, ob sie ihm den Nacken massieren dürfe. Damit war er einverstanden, und sie massierte ihn hingebungsvoll.
Berit erzählte mir ebenfalls, daß sie von Puppen-Theo fasziniert ist:
"Das ist einfach der absolute Typ!"
"So ist das halt", dachte ich, "kaum ist jemand Veranstalter oder Musiker oder DJ sonst irgendetwas Exponiertes, kommen die Mädchen an und interessieren sich für ihn ... und wenn er aus dem Licht der Öffentlichkeit verschwunden ist, vergessen sie ihn."
Am Sonntag hatte ich Besuch von Marie-Julia, Giulietta, Constri und Denise. Marie-Julia malte Windowcolors-Bilder und brachte Constri und Giulietta diese Technik bei. Giulietta malte einen Fisch, Constri eine Schnecke. Ich versuchte mich an meinem ersten Perlentier, einer Fledermaus.
Marie-Julia und Nic kommen mit der Fertigstellung ihres als Rohbau erworbenen Hauses gut voran. Marie-Julia hofft, daß es bald Nachwuchs gibt. Nic und sie wollen noch in diesem Jahr heiraten.
Giulietta will ihre Bettgeschichte mit einem Opernsänger nicht weiterführen, ihn sich aber "für den Notfall" noch warmhalten. Schließlich sei er der einzige ihrer bisherigen Liaisons, von dessen Bett aus man bequem ferngucken könne.
Denise sagt "Mama" und "Papa" durcheinander und betitelt ihre Eltern wechselnd mit dem einen oder anderen Namen. Sie war bei unserem "Bastelkränzchen" für das Chaos zuständig.
Darien und Dera berichteten in einer E-Mail, daß sie im April in HGW. ihre erste Fotoausstellung eröffnen, "Natur in Licht". Weil ich nicht bei der Vernissage dabei sein kann, sendeten Darien und Dera mir einige der Fotos als jpg-Dateien. Es sind verfremdete, verträumte Landschaftsaufnahmen, vor allem Detailfotografien, fast alle sehr hell und mit Nebel-Optik.
Victoire berichtete in einer E-Mail, sie sei endlich aus dem baufälligen Schwesternwohnheim, wo sie bisher untergekommen war, in eine hübsche Wohnung gezogen, doch werde sie nicht viel davon haben. Denn ihr Chef habe ihr das Projekt für ihre Doktorarbeit entzogen und es einer anderen Doktorandin gegeben, die wie er aus China stamme. Auch sonst habe sich der Chef Victoire gegenüber sehr unfreundlich verhalten. Sie sei jetzt auf der Suche nach einer anderen Doktorandenstelle.
Am Dienstag war ich bei Cennet zum Videoabend. Er hatte außer mir drei Kollegen eingeladen. Einer von ihnen - Len - wohnt in RV. und ist in H. gewissermaßen "auf Montage".
Cennet servierte Spezialitäten aus der Kaffeebar und chinesisches Knabbergebäck mit Chili. Cennets Wohnung war sehr aufgeräumt. Sie ist designerhaft sparsam eingerichtet, mit abgeschliffenen Dielenböden und sorgsam freigelegten schwarzweißen Steinböden, Halogenlicht, hohen schwarzen Regalen und anderen zurückhaltend-modernen Möbeln.
Len setzte sich in Cennets Arbeitszimmer und beschäftigte sich online, weil er den Film "Der Stellvertreter" schon kannte, den Cennet mir und den anderen vorführte. In eindruckvollen Bildern und Dialogen werden der Zynismus der verrohten Nazi-Funktionäre und die feige, opportunistische Haltung des Vatikans angesichts des Völkermords an den Juden dargestellt. Der christlichen Idealen verbundene Gerstein versucht, in die SS-Maschinerie einzugreifen, indem er selbst ein Teil von ihr wird. Als ihm das nicht weiterhilft, reist er nach Rom, wird aber nicht vom Papst empfangen. Nach Kriegsende kommt er in Kriegsgefangenschaft und wird kurze Zeit später erhängt in seiner Zelle aufgefunden. Währenddessen verhilft der Vatikan ehemaligen SS-Funktionären zur Flucht nach Südamerika.
"Weshalb werden augenscheinlich völlig normale Menschen zu Massenmördern?" fragte sich Cennet.
"Das hängt mit einer Erziehung zusammen, die das Verleugnen mitmenschlicher Gefühle fordert", vermutete ich. "Besonders Jungen wurde vermittelt, daß Gefühle störend und wertlos sind. Sie wurden zu unhinterfragtem Gehorsam erzogen und zur Unterwerfung unter vorgegebene Strukturen. Sie haben nicht gelernt, soziale Bezüge aus kritischer Distanz zu betrachten. Sie haben nicht gelernt, nach Verhaltensalternativen zu suchen. Sie haben nur gelernt, daß Deserteure erschossen werden. Deshalb haben sie sich lieber dem Gruppendruck gebeugt und ihre Gefühle verdrängt, nicht zuletzt auch mit Hilfe von Alkohol."
Hinter Verdrängungsmechanismen stecke häufig ein beeinträchtigtes Selbstwertgefühl - ein Gefühl der eigenen Wertlosigkeit und der Wertlosigkeit eigener Gefühle.
"Es gibt viele Arten der Verdrängung", meinte ich. "Auch wenn man sich in eine Scheinwelt hineinphantasiert und in der wirklichen Welt nicht mehr zu Hause ist ..."
So sei es mit Karl Koch gewesen, erzählte Cennet. Er habe ihn in einem Bistro in der Nähe seiner jetzigen Wohnung kennengelernt, wo Karl sich regelmäßig mit seinen Freunden getroffen habe. Damals sei Karl gerade erst zum zweiten oder dritten Male dort gewesen. Als Cennet sich erkundigte, was er beruflich mache, erklärte Karl, er brauche nicht zu arbeiten. Er habe zwei Autos und lebe von dem Vermögen seiner Eltern.
"So hat er das Vermögen nach und nach durchgebracht", erinnerte sich Cennet. "Er wollte mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun haben, am liebsten nur im Computer leben. Er hatte großartige Pläne - er wollte ein Buch schreiben und solche Sachen -, aber er hatte nie eine konkrete Planung, wie man solche Vorhaben in die Tat umsetzt."
"War Karl in Wirklichkeit so ein ähnlicher Mensch wie die Filmfigur?"
"Oh ja, das kommt gut hin."
"Auf mich wirkte er im Film wie ein hilfloser kleiner Junge, um den sich nach dem Tod des Vaters niemand mehr kümmert. Dabei war er schon erwachsen, als der Vater gestorben ist. Und trotzdem kam er mit den Anforderungen des Alltags überhaupt nicht klar."
"Das war auch in Wirklichkeit so. Der hatte keine Ahnung von den Erfordernissen des täglichen Lebens. Der hat nur in seiner Scheinwelt gelebt."
Der Regisseur von "23" habe für seine Verfilmung des Schicksals von Karl Koch bereits kurz nach dessen Tod ausführliche Interviews mit mehreren engen Freunden des Verstorbenen geführt und verfüge daher über detailreiche Kenntnisse. Was kaum jemand glaube, was aber wahr sei, sei die Geschichte vom großen Computer, einem nutzlosen Fehlkauf. Karl ist damals auf einen betrügerischen Geschäftemacher hereingefallen.
Irgendwann sei Karl für längere Zeit von der Bildfläche verschwunden; man habe erzählt, er sei sehr krank. Eines Tages sei er aus der Psychiatrie zurückgekehrt, sichtlich wesensverändert. Er sei nicht mehr der Alte gewesen, wenn es um höhergradige Anforderungen an logisches Denken, Aufmerksamkeit, Konzentration und psychische Belastbarkeit gegangen sei. Man habe nicht mehr so wie früher mit ihm am Rechner sitzen können. Ihm hätten die Hände gezittert, und er habe steife Bewegungen gehabt. Cennet führte das auf die Wirkung von Medikamenten zurück. Ich erklärte Cennet, daß Karl außer einer möglicherweise bestehenden Persönlichkeitsstörung und einer Suchtkrankheit sehr wahrscheinlich auch eine schizophrene Psychose entwickelt habe. Die Medikamente, die man damals zur Behandlung von Psychosen verwendet habe, hätten durchaus Nebenwirkungen, doch müsse man bei Karl davon ausgehen, daß die Wesensänderung und die erheblich verringerte Belastbarkeit weit eher Zeichen seiner psychischen Erkrankung gewesen seien als Folgen der medikamentösen Behandlung.
Ich verglich insofern Karl Koch und Rafa, als beide versuchen bzw. versucht haben, der Wirklichkeit zu entfliehen, hinein in eine Phantasiewelt, wobei Computer und Suchtmittel eine wichtige Rolle spielen. Cennet erzählte, er sei durchaus Fan von W.E, wenngleich, so betonte er, kein "Fan" im Sinne von "Jünger" oder "Fanatiker". Er finde die Band einfach nur gut und habe auch Platten von denen, und einige Texte seien ziemlich intelligent.
"Und depressiv", setzte ich hinzu. "Das geht bis hin zu suizidalen Andeutungen."
Ich erzählte ihm, daß ausschließlich Rafa für die Texte und die Musik verantwortlich ist und daß die anderen eine Art Marionettenfunktion übernehmen. Laut eigener Aussage in einem Online-Interview seien Rafa die gesanglichen Fähigkeiten seiner Bandmitglieder viel weniger wichtig als ihre "absolute Loyalität", was bei Rafa - wie ich ihn kenne - gleichbedeutend ist mit Unterwürfigkeit und Kadavergehorsam.
"Daß die Frauen nicht besonders gut singen können, habe ich irgendwie auch schon gemerkt", sagte Cennet.
Ich erzählte, daß ich mich gegen Rafas Fassade wende, weil es mir um den Menschen geht, der sich dahinter versteckt.
"Je strahlender die Fassade, desto tiefer sind meistens die Abgründe dahinter", meinte Cennet.
"Eben, genau" nickte ich. "Es gibt so viele Pärchen, die ja so furchtbar glücklich sind, nur noch auf dem Sofa Händchen halten und sich mit ihren Freunden nicht mehr treffen, und dann, eines Tages, kracht es."
"Oh ja, das gab's in meinem Bekanntenkreis schon mehrfach!"
Auf Nachfrage habe ihm ein verheirateter Bekannter immer nur gesagt, ihm gehe es gut, alles sei gut. Dessen Frau jedoch habe ihm kurze Zeit später erzählt, die Ehe sei zerrüttet, die Scheidung stehe bevor.
Cennet hatte bislang vermutet, Rafa sei mit W.E sehr erfolgreich. Ich erzählte ihm, daß Rafa nach meinem Wissensstand keine großen Umsätze macht und daß er mit seinen dreiunddreißig Jahren immer noch nicht zu Hause ausgezogen ist.
"Irgendwann kommt der Zeitpunkt, da kann man diese Phase der Ablösung nicht mehr aufholen", meinte Cennet. "Rafa scheint in eine Sackgasse zu laufen."
Cennet erkundigte sich, ob ich neulich im "Read Only Memory" mit Rafa noch näheren Kontakt gehabt hätte. Ich erzählte, daß Rafa mittelbar und vielleicht unabsichtlich für Kontakt sorgte, indem er auf der Tanzfläche wie wild herumzappelte und ein regelrechtes Theater aufführte.
"Das habe ich auch noch mitgekriegt", sagte Cennet.
In einem Thread in Rafas Forum geht es um das Aussehen des C64. Viele C64-Freaks haben die historischen Rechner individuell verziert, und sie veröffentlichten die Fotos ihrer "Lieblinge" im Forum. Wave hat seinen C64 in einen Bierkasten eingebaut, Forummitglied Galaxis hat den Rechner im Zebra-Dekor beklebt. Angeldust posiert mit ihrem C64 gemütlich auf dem Bett lümmelnd. Rafa kommentierte dies mit Wohlgefallen:

Frauen und C=64 ist wohl für jeden Commodore-Benutzer etwas ganz Besonderes und muß nach Hegung und Pflegung auch immer positiv erwähnt werden. ; )

Ich nehme an, daß Berenice ihre Vorliebe für den C64 von Rafa abgeguckt hat. Wahrscheinlich suggerierte er ihr, daß sie in seinen Augen im Wert stieg, wenn sie seine Begeisterung für den C64 teilte.



Als ich am Freitag ins "Mute" kam, standen Rafa und Kappa im großen Saal am DJ-Pult. Rafa hatte dieses Mal keine Brille auf. Er trug ein schwarzes Hemd, das auf einer Schulter und an der Knopfleiste mit Schnallen besetzt war. Ich hatte einen engen auberginefarbenen Rollkragenpullover an, sehr dünn und sehr durchsichtig. Darunter trug ich schimmerndes rotes Dessous. Dazu hatte ich den weiten schwarzen Tüllrock an und trug um die Taille zwei Schärpen, eine in Schwarz und eine in schwarzer und heidefarbener Spitze.
Als ich in die Nähe der Bühne kam, wo das DJ-Pult aufgebaut war, sprang Rafa mehrmals in die Höhe, gestikulierte wild herum, tat so, als würde er in die Menge schießen, und machte noch andere Faxen. Er warf immer wieder den Kopf zurück und schleuderte sich den Pony aus der Stirn. Er wirkte sehr aufgedreht und alberte mit Kappa herum und redete auf ihn ein. Nach und nach beruhigte Rafa sich. Er blieb hinterm DJ-Pult, obwohl er sich hätte vertreten lassen können. Er redete immer noch viel, vor allem mit Kappa und später auch mit Edaín, aber er machte nicht mehr so wilde Bewegungen. Wenn er mich anschaute, dann nur verstohlen.
Berenice war nicht im "Mute".
Revil erzählte mir, daß Rafa erst gegen ein Uhr im "Mute" erschienen sei, eine halbe Stunde vor mir, und daß er stracks zum DJ-Pult marschiert sei und sich seitdem nur noch dort aufhalte.
Lucas traf ich auch im "Mute". Sein Praktikum im Copyshop ist beendet. Er macht jetzt eine Ausbildung im Multimedia-Bereich.
Meistens stand ich links vor der Bühne an einem Tisch mit Cennet; auch Claudius gesellte sich zu uns, wenn er nicht gerade tanzte. Von meinem Platz aus konnte ich Rafa gut beobachten. Ivco kam heran und begrüßte mich; ich stellte ihm Cennet vor. Ivco trug eine seiner prachtvollen historischen Uniformjacken und dazu hochgestellte Haare. Auch Cennet fand das sehr schick.
Ivco will mir eine Kassette geben mit Stücken, die Rafa vor über zehn Jahren gemacht hat und die fast keiner kennt. Ich will die Stücke für Ivco und für mich auf CD brennen.
Als Rafa einmal kurz von der Bühne herunterkam, flitzte er geschwinde an mir vorbei. Ich konnte ihm flüchtig über den Arm streicheln. Auf dem Rückweg war Rafa so schnell, daß ich ihn nicht erwischte. Er schwang sich auf die Bühne und zog die Beine hinterher, so daß er sehr kippelig saß und nahe daran war, rückwärts herunterzufallen. Rasch gelang es ihm jedoch, wieder auf die Füße zu kommen ... trotz seines Alkoholpegels. Er hatte wohl schon mehrere Biere hinter sich. Unentwegt rauchte er.
Als Dolf vor die Bühne kam und ihm Zeichen machte, daß man fahren wolle, winkte Rafa ihm zu und stieg wenig später erneut von der Bühne. Er marschierte so dicht an mir vorbei, daß ich ihn an der Schulter kraulen konnte. Einige Schritte von mir entfernt verhandelte er mit Ivco und Dolf und rannte mehrfach zwischen diesen beiden und der in der Nähe befindlichen Theke hin und her, wo ein blondiertes Mädchen saß. Das Mädchen hatte lange dauergewellte Haare und trug burschikose Kleidung.
"Jetzt macht er das Mädchen als Fahrgelegenheit klar", sagte ich zu Cennet. "Vielleicht geht er mit dem Mädchen auch noch ins Bett. Das kann man bei ihm nie sicher voraussagen."
Auf dem Rückweg zur Bühne ging Rafa sehr dicht an mir vorbei, zwischen mir und dem Tisch, an dem ich mit Cennet stand. Ich streichelte ihn etwas langsamer und länger über den Arm.
Nachdem Ivco und Dolf verschwunden waren, legte Rafa weiter mit Kappa auf. Mir gefielen nur wenige Stücke, darunter "Wahre Arbeit, wahrer Lohn" von den Krupps, "Being boiled" von Human League, "Love is a shield" von Camouflage und "Going round" von Clan of Xymox.
Cennet mag "Arbeit adelt!" von Rafa. Ich entgegnete, erstens gefalle mir "Wahre Arbeit, wahrer Lohn" von den Krupps besser, und zweitens gehe Rafa schon seit fast zehn Jahren nicht mehr arbeiten.
"Das ist in der Tat unpassend", meinte Cennet.
Rafa und Kappa hatten mit der Anlage auffallend häufig Schwierigkeiten, so daß es mehrere, wenn auch kurze unfreiwillige Pausen gab. Manche Übergänge waren so holperig, daß Cyra die Haare zu Berge gestanden hätten. Rafa sagte einmal entschuldigend durchs Mikrophon, man spiele gerade von Vinyl, und die Platte sei zerkratzt, so daß man ab und zu "manuell nachhelfen" müsse.
Als er "Love me to the end" von Deine Lakaien spielte, tat Rafa am Mikrophon so, als würde er singen.
Das blondierte Mädchen kam einige Male ans DJ-Pult und schien sich zu erkundigen, wann Rafa aufzubrechen gedenke. Schließlich nickte er, nahm sein schwarzes CD-Täschchen und folgte dem Mädchen. Als Rafa mit seinen eiligen, geschäftigen Schritten an mir vorbeikam, konnte ich ihm noch einmal über den Arm streichen.
Cennet schlug vor, ich sollte vielleicht doch einmal ein klärendes Gespräch mit Rafa führen. Ich entgegnete, das habe keinen Sinn, weil diese Gespräche bereits geführt worden seien. Die Spielregeln seien festgelegt:
"Erst muß Rafa sich von seiner Freundin trennen, dann kann er mit mir reden - nicht umgekehrt."
"Du nimmst ihn ja ganz schön hart 'ran."
"Das muß man bei dem", versicherte ich. "Der findet sonst seine Grenzen nicht."
Cennet und ich waren frühmorgens im "Nachtbarhaus" und hatten Milchkaffee und Tomatensuppe zum Frühstück. Cennet erkundigte sich, ob ich mich noch in keinen anderen Mann so verliebt hätte wie in Rafa.
"Verliebtheit ist es nicht, sondern Liebe", antwortete ich. "Das ist etwas anderes. Verliebt war ich früher mal in meinen Friseur Henk. Das war letztlich aber platonisch und ist später zu einer besonders innigen Freundschaft geworden. Henk ist übrigens schwul."
Ich erzählte von Henks wechselvoller Geschichte.
"Mit Anfang zwanzig hatte er genau dieselbe Aufgeregtheit und Nervosität unter der Oberfläche, die ich heute noch immer bei Rafa beobachte", erinnerte ich mich. "Ich befürchtete damals, daß Henk sich umbringen würde, und ich hatte mit dieser Befürchtung recht. In den kommenden Jahren, als ich zu Henk vorübergehend keinen Kontakt hatte, hat er wirklich mehrere Selbstmordversuche unternommen. Heute betont er mir gegenüber immer wieder, daß er sich ganz bestimmt nicht umbringt. Bei Rafa bin ich mich nicht so sicher. Er ist heute genauso nervös, wie Henk damals war."
Daß Rafa sehr nervös ist, konnte Cennet bestätigen.
"Henk und Rafa haben überhaupt ziemlich viel gemeinsam, nicht nur ihr Selbstwertproblem und ihre Nikotinsucht", setzte ich hinzu. "Sie bevorzugen beide einen schrillen Retro-Stil, mögen Schlagerkitsch, singen gerne lyrisch, sind künstlerisch begabt und haben künstlerisch begabte Mütter. Und das ist immer noch nicht alles. Ein wesentlicher Unterschied ist aber, daß ich Rafa körperlich begehre. Außer Rafa gab und gibt es keinen, nach dem ich körperliches Verlangen habe. Es ist die Chemie zwischen uns. Es ist wie ein Magnetismus. Wir müssen uns nur in die Arme nehmen, schon hängen wir aneinander fest. Das ist bei ihm so wie bei mir."
"Kann das sein, daß ihm das unheimlich ist?"
"Fürchten tut Rafa sich ja schon lange vor mir. Die Gefühle zwischen uns sind etwas, über das er keine Kontrolle hat, und das löst bei ihm Furcht aus. Er will in seinen Beziehungen immer alles unter Kontrolle haben. Das ist sehr wahrscheinlich auch im Bett so. Man kann sich also vorstellen, wie seine Stelldicheins ablaufen."
Cennet meinte, ein Verhalten wie das von Rafa, der lieber Gefühle verdrängt, als sie zuzulassen, sei wohl recht häufig, ein Verhalten wie das meinige hingegen wohl recht selten.
"Das stimmt", bestätigte ich. "Es gibt fast niemanden, der bedingungslos seinen Gefühlen folgt. Das liegt daran, daß es anstrengend ist, aufrichtig zu sein. Man schwimmt gegen den Strom und verzichtet auf ein scheinbares Idyll."
"Deine Haltung macht so lange Sinn, wie du dir nichts vorzuwerfen hast."
"Das Schlimmste, was man sich vorwerfen müßte, wäre die Selbstverleugnung. Und ich verleugne mich nicht. Ich verbiege mich nicht. Ich bin immer ich und mit mir selbst im Reinen. Das ist das Wichtigste für mich."
Cennet wollte wissen, ob ich schon einmal wirklich glücklich gewesen sei.
"Das hatte natürlich mit Rafa zu tun", erzählte ich. "Sowas hat bei mir immer mit Rafa zu tun. Da standen wir uns im 'Elizium' gegenüber, fast zehn Jahre ist es her. Rafa hat mich angestrahlt, das ist nicht zu beschreiben. Es gab gar keinen äußeren Grund dafür, er hat mich einfach nur angestrahlt. Und ich war begeistert und habe ihn auch angestrahlt. Da war er ganz ungehalten und hat mich gefragt, warum ich ihn so anstrahlen würde. Da habe ich geantwortet.
'Weil du mich so lieb anguckst!'
Das hat ihm gar nicht gepaßt. Er hat sofort extra böse geguckt und gerufen:
'Ich gucke dich nicht lieb an!'
Ihm war also anscheinend gar nicht bewußt, mit was für leuchtenden Augen er mich angeguckt hat. Er hat nicht versucht, mich mit seinem liebevollen Blick einzuwickeln. Er hat seinen Blick nicht gezielt eingesetzt. Es kam ganz von innen, ganz unwillkürlich. Die Liebe in seinerm Blick muß demnach echt gewesen sein."
Cennet und ich tauschten unsere Erfahrungen in der Schulzeit aus. Wie ich fühlte Cennet sich damals keiner Clique zugehörig und brauchte eine Weile, um zu erkennen, daß er auf keine Clique angewiesen war. Wie ich interessierte er sich damals für andere Dinge als das, was die Mehrheit der anderen Jugendlichen interessierte. Cennet kann Fußball nicht leiden, und die Jungen in seiner Klasse waren fast alle von Fußball begeistert. Cennet betrinkt sich nicht gerne, und bei den meisten anderen galt es als sportlich, sich "die Kante zu geben". Ich mag kein Haschisch und rauche keine Zigaretten, und beides galt bei den "angesagten" Mädchen in meiner Klasse als unausgesprochene Eintrittsvoraussetzung für die Clique. Ich hatte keine Lust, Jungen auszuprobieren, und die Mädchen in den Cliquen wechselten und tauschten ihre Freunde.
Nach dem Frühstück im "Nachtbarhaus" ging ich nicht schlafen, sondern duschte und zog mich um, denn um neun Uhr kamen Beatrice und Tagor, und wir fuhren nach Thüringen. Ich konnte mich ausruhen, den Tagor saß am Steuer. Unterwegs gab es ein zweites Frühstück bei "McGlutamat". Das Wetter war zuerst dumpf und regnerisch, klarte aber auf, als wir an der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora ankamen. Das Gelände liegt am Fuß des Berges Kohnstein. Der Appellplatz ist zum großen Teil mit Schotter bedeckt, weiter hinten befinden sich Fundamentreste, und das restliche Lagergelände hangaufwärts ist vom Wald überwachsen. Es gibt nur eine erhaltene Barracke, in der befindet sich das Lagermuseum. Ich kaufte dort eine Ausstellungs-Broschüre, ein dokumentarisches Video und ein Stück polierten Stein, wie er in dem berüchtigten Stollen zu finden ist. Im Rahmen einer Führung konnten wir uns das Innere des Stollens anschauen. Der Stollen diente nie dem Bergbau, sondern ausschließlich der Rüstungsindustrie. Nachdem Peenemünde zerbombt war, wurde die Produktion der "Wunderwaffe" V2 unterirdisch im Kohnstein weitergeführt. Viele Häftlinge kamen beim Bau des insgesamt fast zwei Kilometer langen Stollensystems ums Leben. Sie verhungerten, erfroren, starben an Krankheiten oder wurden auf perfide Art ermordet. Nur die Facharbeiter, die auch die Raketen zusammenbauen mußten, wurden aufgrund ihrer technischen Kenntnisse teilweise geschont. Die Rakete V2 war in ihrer Entwicklung nicht ausgereift, die Produktion war strategisch betrachtet sinnlos. Nach dem Krieg demontierten erst die Amerikaner und dann die Russen alle Anlagen, die Amerikaner nahmen die Wissenschaftler mit. Das Ergebnis war, daß sowohl Amerikaner als auch Russen schon bald ins Weltall starten konnten. Die SS-Leute, die die Häftlinge jahrelang gequält und ermordet hatten, wurden kaum bestraft, die überlebenden Häftlinge kaum entschädigt.
Als die Russen mit der Demontage fertig waren, sprengten sie das Stollensystem zum großen Teil. In einen Abschnitt, der nicht gesprengt wurde, führt seit Kurzem ein Besuchertunnel. Durch diesen kamen wir hinein in den Stollen, wo die Luft kalt und feucht war und überall Gerümpel herumlag, da bei den Sprengungen Zwischendecken und Gerätschaften zusammengestürzt und zerstört worden waren. Bretterwege führten über das Gerümpel hinweg und daran vorbei. Hinter einer Kurve endete der begehbare Bereich; das Grundwasser hatte fast die gesamten noch erhaltenen Stollenabschnitte geflutet. Unterm Wasserspiegel rosteten Eisenteile. Früher hatte das Grundwasser laufend abgepumpt werden müssen, um die Stollen begehbar zu halten.
Das Fotografieren war eigentlich verboten, die Besucher taten es aber doch, viele mit ihren Handys. Ich machte Bilder mit einem 800er-Film.
Als wir aus dem Stollen kamen, schien warm die Sonne. Viele Häftlinge waren beim Bau der Stollen monatelang dort eingesperrt und sahen ebenso lange die Sonne nicht mehr.








Das Lagerkrematorium steht noch, es liegt weiter oben am Hang. Drinnen sind einige Wände mit bunten Bildern bemalt, man sieht Blumen und eine strahlende Sonne. Es ist, als wenn die Häftlinge durch die Malerei ihr Schicksal ein wenig vergessen wollten. Die bunten Bilder rührten mich ganz besonders an.
Am Sonntag hatte ich Besuch von Constri, Denise, Saara, Saaras Schwester Danielle und Danielles Tochter Gwyneth. Danielle berichtete, ihr Lebensgefährte Mike habe zwar in seinem Zimmer nach wie vor keine Ordnung, doch wenigstens räume er gelegentlich auf und verhalte sich auch sonst einigermaßen anständig. Er soll zur Zeit auch nicht so viel trinken.
Saara hat noch Kontakt zu ihrem ehemaligen Freund Svenson, der gerne wieder mit ihr zusammen wäre und sie sogar immer wieder bittet, seine Frau zu werden. Den Schmuck, den Saara trägt, hat sie zum Teil von Svenson und zum Teil von ihrem jetzigen Freund Justin geschenkt bekommen.
"Früher habe ich mir gewünscht, Svenson zu heiraten", erzählte Saara, "aber damals wollte er nicht. Und jetzt will ich ihn nicht mehr. Svenson ist auf keinen Fall der Richtige für mich."
Kappa entschuldigte sich auf seiner Homepage in seinem Forum dafür, daß es zu der Party im "Mute" am vergangenen Freitag keine Playlist gibt:

Um 5:00 Uhr wußte ich noch nicht mal mehr, wie man "Kappa" schreibt, Rafa wußte wahrscheinlich gar nicht mehr, wie er heißt, geschweige denn hätte er das schreiben können - "fasel"
Aber ich versuche es nächstes Mal ... Ach nee, dann kommen Melotron, das wird dann noch härter aufgrund der Wiedersehensfeier.
Na ja, ich schreibe mit, solange es geht ...

Im Nachtdienst hat Jay-Elle erzählt, daß Darius sich von Rafa einen metallbeschlagenen Spazierstock ausgeliehen hat, um damit für einen Fotografen zu posieren. Dessie und Darius reisen quer durch Deutschland, um für Szenefotografen zu modeln. Dessie soll unter anderem bei einem Casting für Lacrimosa als Model für Bandfotos in die Vorauswahl gekommen sein.
Ende März sei Rafa mit Dessie und Darius in einer Bar gewesen. Ein Skinhead habe in Rafas Nähe an der Theke gesessen, und Rafa habe gegenüber dem Skinhead eine ungehobelte Bemerkung über dessen Aussehen gemacht, mit etwa dem Wortlaut:
"Wie siehst du denn aus, ou Mann!"
Da soll der Skinhead augenblicklich zugeschlagen haben. Er soll Rafa mitten im Gesicht erwischt haben, so daß er stark blutete. Darius soll nahe daran gewesen sein, sich mit dem Skinhead zu prügeln, es soll aber letztlich nicht dazu gekommen sein.
"Rafa ist ja wohl mehr als leichtsinnig", meinte ich.
"Ach, der hat vor allem ein großes Maul!" meinte Jay-Elle.
Einmal sei Rafa mit Dessie und Darius beim Bäcker gewesen, und Rafa habe "zwei schwule Brötchen" verlangt. Während der Bäcker überlegte, was damit gemeint sein konnte, habe Rafa geschimpft:
"Kaum sagt man mal was in Deutschland, wird man gleich angeguckt!"
Rafa soll seine Brötchen bekommen haben, doch ob die schwul waren, ist nicht bekannt.
Als ich erzählte, daß Berenice seit Neuestem in Süddeutschland arbeitet, sagte Jay-Elle über die Beziehung von Berenice und Rafa:
"Die sollen sich wohl nicht mehr so gut verstehen."
"Ach, nur deshalb? Die können sich doch mailen."
"Na, aber mailen ... das kann doch die Treffen nicht ersetzen."
"Nein, das nicht. Aber die emotionale Beziehung zwischen Rafa und mir büßt nie etwas von ihrer Vertrautheit ein, auch wenn wir uns ein Dreivierteljahr lang nicht sehen."
"Also, ich würde alles andere als zufrieden sein, wenn ich meinen Freund ein Dreivierteljahr nicht sehen würde."
Am Ostersamstag war ich im "Read Only Memory". Auf dem Kassiertisch stand ein Korb mit Schokoladenhasen und -maikäfern und vielen bunten Ostereiern, die Edaín gefärbt hatte. Jeder durfte sich nehmen, so viel er wollte. Cennet und ich aßen an der Theke Ostereier. Dazu tranken wir Kaffee. Edaín bestellte sich auch Kaffee. Sie berichtete, zur Zeit sei sie viel im Studio, ihrer neuen MCD wegen. Diese werde auf dem Label von Deine Lakaien veröffentlicht.
Edaín erkundigte sich, wann das nächste Kapitel von "Im Netz" fertig sei. Das 23. Kapitel hatte sie schon entdeckt und gelesen. Zu diesem meinte sie, es sei süß, was ich über sie geschrieben hätte - daß sie die erste von Kappas Freundinnen gewesen sei, mit der ich etwas hätte anfangen können ... und daß sie sogar "Gelöbnis" von P.A.L gut finden würde. Das habe sie heute abend gleich inspiriert; sie habe vorhin "Is it you" von :wumpscut: aufgelegt, "Gelöbnis" von P.A.L und "So hard" von Dive.
"Schade, daß ich um die Zeit noch nicht hier war", bedauerte ich.
Im 23. Kapitel findet Edaín sich einerseits wieder - insofern, als sie in meiner Beschreibung hinter Kappa steht und zu ihm hält. Andererseits erlebt sie sich als stärker und eigenständiger, als ich sie dargestellt habe.
"Es ist ja auch ein Unterschied, wie man sich selbst sieht und wie man von außen wahrgenommen wird", meinte ich.
Das bestätigte sie.
Als ich erzählte, daß das 24. Kapitel - welches bald fertig ist - in der Zeit von Anfang 1999 bis Anfang 2000 spielt, erkundigte sie sich, ob da auch ihre Hochzeit vorkommen werde.
"Aber sicher", antwortete ich.
"Ach, und da steht bestimmt, daß du nicht etwa wegen Kappa und mir hingegangen bist, sondern ausschließlich wegen Rafa!"
"Nein, das war nicht so. Nicht ganz so."
"Ach, komm' ... du hast dir bestimmt gedacht, Rafa geht da hin, also geh' ich da auch hin ... und hast dich extra so hingesetzt, daß er dich gut sehen konnte ..."
"Nein, Rafa hat sich so hingestellt, daß er mich gut sehen konnte. Ich saß in einer voll besetzten Stuhlreihe, und dann kam Rafa und hat sich mit seiner Freundin so in den Seitengang gestellt, daß er eine optimale Sicht auf mich hatte."
"Also, ich frage mich wirklich, warum die Leute wohl zu der Hochzeit gekommen sind ..."
"Wie das immer bei Hochzeiten ist", vermutete ich. "Ein Teil kommt wirklich wegen dem Brautpaar, ein Teil kommt wegen der Show, ein Teil kommt, weil die anderen auch hingehen, und ein Teil kommt, um zu gucken, was für ein Kleid die Braut anhat."
"Ach, meinst du, wegen dem Brautkleid?"
"Ja, sicher."
"Also, ich fand mein Brautkleid schön."
"Ich fand es auch sehr schön."
Cennet hatte das Kleid im Internet auf einem Foto gesehen und pflichtete dem bei. Edaín erzählte, wie die Schneiderin ihr erst das Pentagramm nicht aufnähen wollte, weil sie es für ein satanisches Zeichen hielt. Edaín mußte ihr ausführlich erklären, daß das aufrecht stehende Pentagramm dem christlichen Glauben angehört; schließlich ist es ja auch auf dem Turm der Kirche zu sehen, in der Edaín geheiratet hat. Da endlich nähte die Schneiderin es auf - keine leichte Arbeit. Edaín hat kürzlich zum ersten Mal nach fünf Jahren ihr Brautkleid wieder aus dem Schrank geholt und bestaunt.
"Und du paßt noch 'rein", vermutete Cennet.
"Ach, bestimmt nicht; das Kleid unter dem Mantel war ganz eng", erzählte Edaín. "Damals habe ich achtundvierzig Kilo gewogen, jetzt wiege ich zweiundfünfzig."
Edaíns Haare waren damals doppelt so lang wie heute. Für die Hochzeit ließ sie sie hochstecken, "Hauptsache, sie störten nicht". Sie hatte ein Bukett mit blauen Rosen, weil sie blaue Rosen schon immer gern mochte. Ihr Stiefvater hatte die Idee mit dem Sarg vor der Kirche, in dem die Sektflaschen eisgekühlt wurden. Er hatte gemeint, bei so einem verrückten Paar sei das doch nur konsequent.
Als ich Edaín erzählte, daß mir bei der Hochzeit von Kurt und Cecile das Bukett geradewegs in die Arme geflogen ist, erzählte sie, daß sie vor ihrer eigenen Hochzeit schon bei mehreren anderen Hochzeiten gewesen sei und daß die Buketts immer geradewegs auf sie zugeflogen seien. Sie habe sich jedoch zur Seite gebeugt, um die Buketts nicht fangen zu müssen. Damals habe sie noch nicht heiraten wollen.
Als ich zu ihr sagte, ich hätte den Eindruck, sie und Kappa hätten sich in den letzten Jahren aufeinander zuentwickelt und würden sich inzwischen sehr gut kennen, meinte Edaín, sie habe das Gefühl, Kappa trotz all der Jahre, die sie mit ihm zusammen sei, immer noch nicht gut zu kennen. Sonst könnte er sie nicht immer wieder mit ausgefallenen Ideen überraschen. Mit Maya auf dem Rücken soll er wie ein Hase durch den Garten hoppeln.
"Das glaubt bestimmt kein Mensch", meinte Edaín.
"Doch, ich kann mir das gut vorstellen", entgegnete ich. "Ich habe Kappa schon immer als sehr verspielt erlebt. Das Kind im Manne ist bei ihm immer sichtbar geblieben."
Ich erzählte, daß ich Gefühl habe, Rafa sehr gut zu kennen; sicher, er habe immer wieder neue skurrile Einfälle, doch überraschen würden mich die nicht.
"Aaach", seufzte Edaín. "Es gibt über sechs Milliarden Menschen auf der Erde, die Hälfte ist männlich, und darunter gibt es bestimmt noch mehr tolle Typen für dich."
"Es geht mir nicht darum, daß jemand toll ist", erklärte ich. "Es geht mir nicht um bestimmte Eigenschaften. Es geht mir um einen bestimmten Menschen, und der ist nicht ersetzbar."
"Der ist mit Berenice seit über sieben Jahren zusammen."
"Eben, deshalb wird es ja Zeit, daß er sich endlich von ihr trennt."
"Das wird er nicht."
"Und wenn. Rafa ist nicht ersetzbar."
"Aber du willst ihn doch nicht mehr, wenn er sechzig ist!"
"Doch, es geht mir nur um ihn als Mensch."
"Sag' mal ... weißt du eigentlich, was der für Hände hat?"
"Jaa!"
"Das sind Riesenpranken!"
"Jaa!"
"Als der sich im 'Mute' von mir verabschiedet hat, hat er mich ganz fest an sich gedrückt ..."
"Ja, das macht der gerne."
"... und dann habe ich diese Hände gemerkt", erzählte Edaín mit leisem Erschauern, "... ich habe dann meine Hand auf seine gelegt und die verglichen, und das war ein Unterschied, da gingen zwei von meinen 'rein!"
"Tjaa ...", sagte ich wissend.
"Kappa hat mir erzählt, beim Armdrücken verliert der nie."
"Richtig", nickte ich. "Allerdings ... einmal hat er Malda gefragt, ob sie mit ihm Armdrücken spielen will, und sie hatte keine Lust und hat gemeint, er soll doch mich fragen. Und da hat er geantwortet:
'Nein, die gewinnt doch sowieso.'"
Edaín und Cennet vermuteten, Rafa traue mir spirituelle Kräfte zu.
"Wenn ich Rafa umarme, wird er schwach", erzählte ich. "Wenn wir uns begegnen, ist das Knistern immer sofort da. Und wenn wir uns in den Armen halten, versinken wir miteinander in einem tiefen Abgrund ..."
"Wann hast du Rafa das letzte Mal umarmt?"
"Im letzten Sommer in L."
"Ach? Ich hatte gedacht, jetzt kommt 'vor fünf Jahren' oder so etwas."
"Nein, es war so: Rafa stand gerade strategisch günstig, und ich bin an ihm vorbeigegangen und habe ihn umarmt. Dann bin ich gleich weitergegangen, denn er darf ja nicht mit mir reden."
Edaín meinte, es passe doch nicht zusammen, daß Rafa nicht mit mir reden darf, ich ihn aber streichle.
"Streicheln ist unvermeidlich", erklärte ich. "Es ist unverzichtbar. Er darf nicht mit mir reden, aber er darf mich anfassen - und ich ihn. Das habe ich ihm auch so gesagt."
"Nicht reden, aber anfassen ... das ist, wie eine Kugel über drei Banden zu spielen", meinte Edaín. "Ich habe früher viel Billard gespielt und einmal sogar eine Meisterschaft gewonnen. Das erinnert mich daran, wie jemand versucht, über drei Banden zu treffen."
Edaín hatte zumindest einmal mitbekommen, wie ich neulich im "Mute" die Gelegenheit genutzt und Rafa gestreichelt hatte, als er an mir vorbeiging. Ich schilderte ihr, wie Rafa zwischen mir und dem Tisch hindurchging, vor dem ich stand, so dicht also, daß sich mir die Gelegenheit zum Streicheln anbot.
Edaín erzählte Cennet und mir, wie sie die Ereignisse im "Exil" Ende November 2000 erlebt hatte:
"Rafa stand neben Hetty, Hetty hat nach ihm gegriffen, und ich habe versucht, sie davon abzuhalten, weil Berenice schon völlig am Ausrasten war."
"Das stimmt", ergänzte ich. "Und weder Rafa noch Kappa haben sich um Berenice gekümmert. Das schien denen vollständig egal zu sein. Und deswegen war Berenice wahrscheinlich erst recht wütend."
Edaín berichtete, daß Rafa bei der nächsten Party im "Mute" wieder mit Kappa auflegen will und vorhat, dies in Zukunft regelmäßig zu tun. Zwischen Rafa und Kappa sei eine besondere Verbindung, bei der auch durchaus spirituelle Kräfte im Spiel sein könnten. Als Rafa sich im "Mute" mit Edaín auf der Bühne unterhalten habe, abseits vom DJ-Pult, habe er unvermittelt gesagt:
"Ich habe ein Kappa-Feeling. Jetzt kommt gleich 'Such a shame' von Talk Talk."
Und wirklich soll Kappa gleich als nächstes Stück "Such a shame" gespielt haben.
Was Alkohol betrifft, so soll Kappa inzwischen so selten etwas trinken, daß er schon nach wenigen Bieren völlig betrunken ist. Als Edaín ihn aus dem "Mute" schleppte, sagte sie zu ihm:
"Wenn du mit dem Kopf aufschlägst, ist's nicht meine Schuld."
Kappa soll mit einem ziemlichen Kater aufgewacht sein und erklärt haben, bei diesen Parties müsse es sein, daß man sich den Kopf zuschieße. Das gehöre einfach dazu. Dann soll er kleinlaut um eine Tablette Aspirin gebeten haben.
"Was ich mich nur frage, ist, ob Rafa mit dem Mädchen, mit dem er weggefahren ist, noch etwas gehabt hat oder ob sie ihn wirklich nur mitgenommen hat", überlegte ich.
"Rafa ist mit Dolf gefahren", versicherte Edaín. "Da kann ich dich beruhigen."
"Der ist mit Dolf gefahren? Ich dachte, der wäre schon weg gewesen."
"Nein, der mußte doch noch warten."
"Sah aber ganz so aus, als wenn Rafa mit dem Mädchen wegfährt."
"Nein, der ist mit Dolf gefahren."
Das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich hatte Ivco und Dolf schon länger nicht mehr gesehen, als Rafa mit dem Mädchen wegging.
Ich sagte zu Edaín, ich hätte es damals sehr begrüßt, daß Rafa sich mit Kappa anfreundete; mir sei Kappa als Rafas Vertrauter lieber als so manch anderer. Dolf gegenüber sei ich skeptisch. Edaín scheint von Dolf eine recht gute Meinung zu haben.
Ich erzählte Edaín, daß Cennet und ich uns aus dem "Read Only Memory" kennen und gemeinsam Filme gucken. Edaín meinte, "Schindlers Liste" müsse ich mir unbedingt ansehen. Das sei aber keine leichte Kost; sie selbst bevorzuge manchmal leichte Kost zum Entspannen vor dem Schlafengehen. Edaín und ich finden beide, daß die "Sissi"-Filme ein absoluter Kult sind, ebenso wie "Vom Winde verweht".
Während ich mich nachschminkte, unterhielten sich Edaín und Cennet noch ein wenig. Cennet berichtete später, Edaín habe erzählt, sie wünsche sich so sehr, daß sich meine Träume erfüllen. Er habe den Eindruck, daß Edaín immer bemüht ist, niemandem zu schaden und nichts zu erzählen, was die Gefühle anderer verletzen könnte. Sie kontrolliere daher, was sie sage und rede nicht frei von der Seele weg. Daraus könnte sich ergeben, daß Edaín einiges verschweigt, was die Beziehung von Rafa und Berenice in Frage stellen könnte.
Cennet fuhr gegen ein Uhr nachts mit mir zum "Radiostern". Cyra legte dort gemeinsam mit "Stahlwerk"-Veranstalter und -DJ Delan auf. Cennet ließ sich von den Industrial-Rhythmen verzaubern:
"Da denkt man an nichts mehr, da zählt nur noch der Rhythmus."
"Das geht mir genauso", erzählte ich, "und auch Constri geht es so. Das ist die positive Kraft des Industrial. Getanzt hast du aber nicht ..."
"Das habe ich mir nicht getraut."
"Dann komm mal mit zu 'Stahlwerk'. Da läuft nur sowas."
Das, meinte er, wolle er gern tun.
Delan erzählte, seit heute könne man in der "Stahlwerk"-Online-Galerie Fotos von der letzten "Stahlwerk"-Party bewundern. Es gebe auch Fotos von mir, wo ich vor der Stoffleinwand tanze, auf die computergenerierte Videos projiziert werden. Diese Fotos seien hervorragend.
"Das war aus Platzmangel", erklärte ich. "Die Tanzfläche ist einfach zu klein, deshalb muß ich in die Leinwand flüchten, da gehen die anderen nämlich nicht hin. Das Schwierige ist aber, daß man beim Tanzen die Leinwand immer wieder nach hinten schubsen muß, ohne sie herunterzureißen."
Die Fotos hat ein NDR-Mitarbeiter gemacht, den Sofie kennt.
Cennet fragte mich auf der Rückfahrt, ob ich nicht den Eindruck hätte, mir zu schaden, indem ich mir verbiete, mit Rafa zu reden.
"Ich verbiete ihm, mit mir zu reden", berichtigte ich.
Cennet vermutet, daß Rafa sich mit der Vorstellung überfordert fühlt, mit mir zusammen zu sein. Es sei ungewohnt und verunsichernd für ihn. Er müsse sich von seiner bisherigen Lebenshaltung verabschieden, wenn er sich auf mich einlasse. Dieser Vermutung kann ich mich anschließen.
Cennet erkundigte sich, ob Rafa sich jemals zu mir bekannt hat.
"Mit Worten niemals", erzählte ich.

Am Ostersonntag habe ich geträumt, Rafa und ich hätten uns in einer Nacht getroffen und gleich am Morgen geheiratet, ohne Feier, ohne Gäste, nur so im Vorübergehen. Nach der Hochzeit verschwand Rafa; wohin, wußte ich nicht; doch es erleichterte mich, daß er sich zu mir bekannt hatte.
"Das immerhin", dachte ich, "das hat er schon geschafft."

Die Bilder, die der NDR-Mitarbeiter Oliver D. bei "Stahlwerk" von mir gemacht hat, gefallen mir sehr. Mystisches grünes Licht fällt aus dem Projektor auf die Leinwand, und die abstrakten Formen in den Computervideos beugen sich mit dem Faltenwurf, aus dem ich in meinem durchsichtigen schwarzen Rollkragenpullover hervorschaue.








Nachts war ich mit Cennet in der "Lagerhalle", wo Cyra und Les auflegten.
Timon und seine Freundin Loulou standen bei uns. Als Timon mich gähnen sah, staunte er:
"Sie lebt! Sie ist ein irdisches Wesen."
"Was hätte ich denn sonst sein sollen?" fragte ich. "Untot?"
"Unerschöpfbar."
"Das erinnert mich an das Unwort des Jahres 2000 ...", meinte Imo, "war es doch, nicht? 'Unkaputtbar'."
Am Mittwoch war ich mit Gesa und Cennet im "Fractal". Die meiste Zeit war ich auf der Tanzfläche, auch Gesa tanzte häufig. Sie mag Techno sehr gern, was man angesichts ihres blassen, unauffälligen Wesens kaum vermuten würde.
Cennet tanzte nie. Zur Gesellschaft hatte er einen Arbeitskollegen namens Isko, dem er hier begegnete und der auch nie tanzte. Cennet erklärte, er sei "viel zu verklemmt" zum Tanzen. Isko erklärte, er möge lieber Goa als Hard Trance. Hard Trance ist eine meiner Leidenschaften und wurde heute bevorzugt gespielt.
Zwischendurch saßen wir gemeinsam in dem gemütlichen Café im "Fractal", um die zahlreichen Getränke zu genießen, die wir dank der Mittwochs-Sonderaktion auf den Pflichtverzehr anrechnen lassen konnten. Cennet freute sich, daß wir alle fast keinen Alkohol trinken und im "Fractal" sogar völlig nüchtern blieben. Ich trinke im "Fractal" außer Cola light gerne Milchkaffee oder Cappuccino.
Cennet erzählte von einem Partyservice namens "Rote Gourmet Fraktion", der das Catering bei Punk-Konzerten übernimmt. Das Emblem dieses Partyservice sei das RAF-Zeichen, in dem aber das Gewehr durch einen Kochlöffel ersetzt sei. Der Service veranstalte Aktionen wie "Kochen gegen rechts".
Am Donnerstag fuhren Constri, Denise und ich nach S. Wir machten viele Spaziergänge, meistens mit unserer Cousine Lisa und ihren Kindern Ida und Amaryllis. Wir besuchten das Grab unserer Großmutter Karoline, der Urgroßmutter von Denise, Ida und Amaryllis. Die Kinder haben sie nicht mehr kennengelernt. Sie ist 1981 gestorben, vor dreiundzwanzig Jahren.
Mit Ida war ich auf dem Waldspielplatz, wo Constri, Lisa und ich schon als Kinder begeistert gespielt haben. Damals standen ganz andere Geräte da, fast alle aus Metall. Heute sind fast alle Geräte aus Holz.
Ida kletterte zur Rutschbahn hinauf, was nicht einfach war, weil es sich um eine Art "Hindernisleiter" handelt. Auf dem Spielplatz gibt es trockenliegende Wasserläufe mit Brückchen, und Ida krabbelte unter ein steinernes Brückchen und reichte mir durch eine Ritze zwischen den Steinen Zweige nach oben. Von Ida machte ich viele Fotos.
Lisas Eltern leben in dem Haus, wo Karoline früher mit ihrer Familie wohnte. Mein Vater, Lisas Vater Irmin und drei weitere Geschwister sind hier aufgewachsen, ebenso Lisa und ihr Bruder Garret.
Das Haus, gebaut in den zwanziger Jahren, ist wie alle Nachbarhäuser aus der damaligen Zeit ein schlichtes mehrstöckiges Haus mit hölzernen Fensterläden und steilem Giebeldach. Es steht in einer Landhaussiedlung, damals weitab der Stadt. Es bietet eine der schönsten Aussichten von S., hinab in ein Tal mit Weinreben und Obstbäumen. Inzwischen ist die Stadt nähergerückt, und die schöne Aussicht ist so teuer geworden, daß nur äußerst vermögende Leute die Grundstücke hier oben käuflich erwerben können. Sie kaufen eines nach dem anderen, reißen die alten Häuser ab und bauen sterile Villen mit Alarmanlage. Dadurch verliert die Siedlung nach und nach ihre verträumte, nostalgische Atmosphäre.
Am Kaffeetisch erzählte Irmin von der Nachkriegszeit. Sein Vater ist im Krieg geblieben. Seine Mutter Karoline und deren Schwiegermutter Ella zogen die fünf Kinder groß. Einer durch den Krieg wohnungslos gewordenen Familie wurde von staatlicher Seite der erste Stock zugewiesen, wo sie zehn Jahre lang wohnte. Irmins Familie mußte zusehen, wie man sich über die anderen Stockwerke verteilte. Keller und Dachboden waren damals noch nicht ausgebaut, so daß sie nicht als Wohnraum genutzt werden konnten. Also blieben nur Erdgeschoß und zweites Obergeschoß. Im Erdgeschoß lebten Karolines Eltern und Karolines Tochter. Im zweiten Obergeschoß lebten Ella, Karoline und deren vier Söhne in drei kleinen Zimmern. Gebadet wurde im Keller. Als die zugewiesene Familie ausgezogen war, hatten alle mehr Platz, auch Ella, die im zweiten Obergeschoß wohnen blieb, aber zum Kochen und Essen lieber zu Karoline in den ersten Stock herunterkam. Die beiden Frauen verstanden sich nicht sehr gut, liebten aber gleichermaßen die Kinder. Ella bestand darauf, in Schürze am Tisch zu sitzen, und von ihrem Rostbraten gab sie den anderen nichts ab. Der soll allerdings "zäh wie Sohlenleder" gewesen sein.
Ella ist früh verwitwet, weil ihr Mann einem damals neu auf den Markt gekommenen Narkosemittel zum Opfer fiel. In jener Zeit durften Medikamente ohne standardisierte Überprüfung verkauft werden, was vielen Menschen Gesundheit und Leben gekostet hat. Nach dem Tod von Ellas Mann starb noch ein zweiter Patient durch das Narkosemittel. Daraufhin gab es die dritte Tragödie, denn der Arzt, der den beiden das Narkosemittel verabreicht hatte, erschoß sich, von Schuldgefühlen gequält. Dabei war im Grunde nicht er schuld, sondern die Arzneimittelwirtschaft, die ihrer Verantwortung für die Patienten nicht gerecht wurde und die Medikamente nicht ordentlich testete.
Ella starb hochbetagt im Jahr 1975. Ihr Grab ist inzwischen eingeebnet. Man wollte Karoline nicht zu Ella ins Grab legen, damit sie das Grab nicht mit der Schwiegermutter teilen mußte. Karoline liegt bei ihren Eltern, die jedoch nicht auf dem Grabstein vermerkt sind, weil sie andere Nachnamen haben als Karoline, "und das macht man net".
Irmin und Lisas Lebensgefährte Chandra verstehen sich immer noch nicht. Irmin hält Chandra vor, er habe der Familie schon allerlei unnötige Kosten verursacht, da er beruflich auf der Stelle trete. Chandra kann es nicht leiden, daß Irmin von Zeit zu Zeit cholerische Ausbrüche hat und dann alle Angehörigen beschimpft, auch die eigene Ehefrau. Chandra will auf keinen Fall in Irmins Haus ziehen. Lisa lebt mit Chandra und den Kindern nicht gerne in Friederikes düsterem, baufälligem Häuschen unten im Tal, doch liegt ihr viel daran, für Friederike da zu sein, weil sie nach dem Tod ihrer Schwester recht einsam ist. Ida hilft Lisa im Haushalt, soweit sie es kann. Amaryllis klammert sehr an Lisa und wird schnell ungehalten, wenn sie nicht auf Lisas Arm sitzt.
Hangabwärts unterhalb des Gartens von Irmins Haus gibt es Weinbau, den Eugen bewirtschaftet, der Zwillingsbruder meines Vaters. Ich traf Eugen im Wingert mit seinem Sohn Tobias, der in seine Fußstapfen getreten und Winzer geworden ist. Beide hatten Plastikschurze mit Kunstdünger mitgebracht und streuten von Hand den Dünger aus. Tobias hat vier Kinder und macht einen glücklichen, zufriedenen Eindruck. Dem Weinbau in S. soll es gut gehen, auch wenn die Käufer die billigeren Sorten lieber im Discounter holen. Hochwertige Weine sollen sich nach wie vor gut verkaufen.
Constri, Denise und ich besuchten Britta, die Schwester meiner Mutter, und ihren Mann Wilko. Meine Cousine Vivien und ihr Mann Alban waren dort auch. Sie hatten für Denise Holzspielzeug mitgebracht, ein Krokodil zum Hinterherziehen.
Viviens Bruder Corell hat inzwischen eine Freundin - Talia -, mit der es ernster zu sein scheint. Sie lebt in Madrid. Wegen der großen Entfernung sehen sich Corell und Talia höchstens einmal im Monat.
Vivien fühlt sich von ihrer Dienststelle genötigt. Man will dort, daß sie in S. eine undankbare bürokratische Aufgabe übernimmt, weit weg von ihrem Wohnort FR. und von ihren eigentlichen beruflichen Zielen. Ihr wurde mit einem noch undankbareren Posten gedroht, falls sie nicht annehme. Im Nachhinein stellte sich heraus, daß es diesen Posten gar nicht gab und daß er augenscheinlich nur erfunden worden war, um sie dazu zu bewegen, den Posten in S. anzunehmen.
Von S. aus war ich einen Tag lang zu Besuch bei Shara in EM. Er erzählte von seiner Herkunftsfamilie. Seine Mutter sei Tscherkessin. Sie sei kurz nach seiner Geburt verschwunden und habe ihn bei seinem Vater zurückgelassen. Damals sei sie sechzehn Jahre alt gewesen. Mutterstelle habe die nächste Ehefrau des Vaters vertreten. Sie sei ostpreußischer Abstammung. Der Vater habe einen in der Türkei angesehenen Familiennamen. Er habe früher in Istanbul als Killer für die türkische Regierung gearbeitet. Als junger Mann sei er wegen einer Psychose in der türkischen Psychiatrie behandelt worden. Alle Ehefrauen habe er mißhandelt und seinen Sohn Shara ebenfalls. 1991 sei er an einem Plasmozytom gestorben. 1993 sei die Stiefmutter an Krebs gestorben. Shara hat Halbgeschwister, zu diesen jedoch keinen Kontakt.
Ich schlug Shara vor, seine Vita aufzuschreiben, weil man sie sich so schlecht merken könne. Auch Sharas beruflicher Werdegang ist schwer zu merken und wird von ihm selbst mit Skepsis betrachtet. Er möchte vorübergehend keine Musik mehr machen, um beruflich voranzukommen. Kürzlich hat er zwei Projekte abgeschlossen, eines mit einem Musiker der Band Synapscape und eines mit P.A.L. Letzteres ist ein Gemeinschaftsprojekt, an dem noch mehr Musiker beteiligt sind. Es ist eine Remix-EP namens "Geisterfahrer". Auf der CD selbst und auf dem Innencover befinden sich in Schwarzweiß gehaltene Fotos von dem im Dornröschenschlaf liegenden blinden Ende der A 39 südöstlich von BS., die ich gemacht habe, als ich im Herbst 2001 mit Marie-Julia dort spazierengegangen bin. Die Fotos habe ich Shara per E-Mail geschickt, weil er sich verwunschen wirkende Autobahn-Bilder für die Covergestaltung wünschte.
Mit dem Musiker P.A.L ist Shara seit Langem befreundet. P.A.L hat Familie und könnte sehr glücklich sein, wenn er nicht seit Jahren an einer Netzhautablösung leiden würde, die ihn langsam erblinden läßt. Aus diesem Grunde kann er auch nicht mehr so wie früher akustische Instrumente spielen.
Shara erzählte von seinen eigenen Krankheiten. Er habe drei Bandscheibenvorfälle hinter sich und andauernd Rückenbeschwerden. Die gefährlichste Situation in seinem Leben sei ein Beinahe-Tauchunfall gewesen. Er sei unter Wasser mit dem Sauerstofftank in einer Engstelle hängengeblieben und habe sich nur mit großer Mühe wieder befreit.
Nach einem Mittagessen beim Chinesen fuhren Shara und ich nach Frankreich. Kurz hinter der Grenze hielten wir an einem gewaltigen Umspannwerk, wo ich Fotos machte. Danach fuhren wir zu einem historischen Städtchen namens Neuf-Brisach. Es ist umschlossen von weitläufigen, aus rotem Sandstein gemauerten Festungsanlagen, zu denen breite Gräben gehören, die inzwischen trockenliegen. In diesen Gräben gingen wir spazieren.








Wir schauten in zwei offene Tunnel, die recht gruselig wirkten und nach etwa fünfzehn Metern mit einer Mauer endeten. Herumliegende Glasscherben deuteten auf etwas ausführlichere Gelage hin.
In Colmar waren wir in zwei Cafés, eines davon mit Uferterrasse an einem Wasserlauf. Shara wies mich auf den Spruch an einer Kirche hin, der in der Musikwelt vielfach zitiert wurde:
"Memento mori"
Shara glaubt, aufgrund seiner vielen Krankheiten mit einem frühen Tod rechnen zu müssen. Er strebe zur Zeit keine Beziehung an, da diese seinem beruflichen Fortkommen im Wege stehen würde. Vor allem trauere er seiner früheren Freundin Gvynda nach, die seit Jahren mit ihrem jetzigen Freund zusammen ist und mit ihm zwei Kinder hat. Sie soll in dieser Beziehung nicht mehr glücklich sein, doch in ihrer Beziehung mit Shara war sie vermutlich noch unglücklicher. Shara und sie sollen sich laufend gestritten und sich zwischendurch mehrfach getrennt haben, ehe endgültig Schluß war. Shara berichtete, heutzutage verstehe er sich sowohl mit Gvynda als auch mit deren Freund.
Shara verwendete mir gegenüber häufig Formulierungen wie "du bist so", "du bist zu", "sei nicht immer so" oder "sei doch mal". Das wirkte auf mich provokant und grenzüberschreitend, weil ich mich dadurch abschätzig betrachtet fühlte. Als ich ihm das mitteilte, fühlte Shara sich gekränkt. Ich kann mir gut vorstellen, weshalb Shara Streit mit Gvynda und Victoire hatte und weshalb die beiden sich gegen ihn entschieden haben. Wahrscheinlich werden oder wurden auch sie immer wieder von Shara bewertet oder entwertet und fühlten sich dadurch provoziert. Wenn sie ihm das mitteilten, sah er sich wahrscheinlich auch gekränkt, und es gab Streit. In meinem Falle kam es nicht zu einem Streit, weil ich das Verhalten, das Shara zeigte, schon von anderen Leuten kenne, und ich versuche, streitträchtige Klippen zu umschiffen.
Shara meint, da ich mit Rafa nicht zusammenkäme, sei es doch besser, einen anderen Mann zu wählen, denn "die Gefühle sind nicht so wichtig, das Resultat ist wichtig".
"Für mich sind die Gefühle wichtig, das Resultat ist zweitrangig", erwiderte ich.
"Dann sind unsere Ansichten um hundertachtzig Grad verschieden", stellte Shara fest.
"Es wäre langweilig, wenn alle die gleichen Ansichten hätten", meinte ich.
Auch über das Fremdgehen sind wir unterschiedlicher Meinung. Shara findet, wenn man nur noch auf dem Papier verheiratet sei, betrüge man den Ehepartner nicht, wenn man mit jemand anderem ein Verhältnis habe. Nach meiner Ansicht hingegen handelt es sich bei jeder Zweitbeziehung um Fremdgehen, und das fängt für mich schon beim Küssen an.
Shara meint, die Geschichte "Im Netz" werde sicher von denjenigen anders wahrgenommen, die mich nicht kennen und nicht wissen, daß die Ereignisse wahr sind. Er glaubt, wenn man es nicht wüßte, würde man nicht unbedingt darauf kommen, daß sich alles tatsächlich so zugetragen hat.
"Dann scheint das ja wirklich literarisch geworden zu sein", freute ich mich. "Dann habe ich es ja anscheinend geschafft, vom Diarium-Stil wegzukommen und ein Stück Literatur daraus zu machen. Diarien finde ich nämlich langweilig, da wird einfach so dahinerzählt, ohne roten Faden. Und ich will die Leser unterhalten und einen übergeordneten Handlungsstrang bieten, der strukturbildend wirkt und dem sich der Rest unterordnet."
"Das ist dir ja auch gelungen."
Shara geht davon aus, daß sich meine Liebe schnell in Haß verwandeln würde, wenn ich mit Rafa zusammen wäre.
"Liebe und Haß schließen einander aus", meinte ich. "Wo Liebe ist, ist kein Haß, und wo Haß ist, ist keine Liebe."
"Aber es gibt doch auch Haßliebe."
"Das ist keine Liebe."
"Na ja, eben Haßliebe."
"Es ist keine Liebe und hat mit Liebe auch nichts zu tun. Haß hat mit Liebe nichts zu tun. Liebe will geben, Haß will zerstören. Haß ist ein pathologisches Gefühl und immer irrational und sinnlos."
"Haß ist doch nichts Pathologisches", meinte Shara. "Was würdest du denn empfinden, wenn ich dir alles kaputtmachen würde, was du besitzt?"
"Abscheu, Wut", meinte ich, "und ich würde mich abwenden und abgrenzen. Abscheu und Wut dienen der Verteidigung und dem Schutz gegen den Täter. Sie sind insofern konstruktiv. Sie haben nicht zum Ziel, den Angreifer zu zerstören, sondern die Zerstörungen durch den Angreifer zu beenden. Haß hingegen bedeutet, daß man eine enge Verbindung mit dem Täter eingeht und als hauptsächliches Ziel dessen Vernichtung beabsichtigt, unter Aufgabe des Selbstschutzes. Das kann man in der Nibelungensage beobachten. Die bringen sich alle gegenseitig um, und Kriemhild bringt sich am Ende sogar noch selbst um. Da geht es nicht um Schutz und Abgrenzung, sondern um Zerstörung. Und mir geht es um das Schützen und Erhalten. Rafa hat schon vor vielen Jahren zu mir gesagt:
'Dir fehlt Haß.'
Und er hatte recht damit."
Als ich Shara erzählte, daß ich schon von mehreren Leuten gehaßt worden bin und gehaßt werde, wunderte er sich:
"Wieso sollte man dich denn hassen?"
"Das sage ich ja, Haß ist irrational. Haß entsteht immer aus Selbsthaß, der auf andere Menschen gerichtet wird. Nur wer sich selbst haßt, entwickelt Haß gegen andere. Die Leute, die mich hassen, tun das, ohne daß ich ihnen etwas angetan habe. Sie tun es wahrscheinlich aus Neid. Sie sehen in mir etwas, das sie selbst gern wären oder hätten, und weil sie das nicht kriegen können, versuchen sie mich zu zerstören."
Shara hat zu Victoire regelmäßigen Kontakt. Sie hat ihm von ihrem beruflichen Unglück erzählt, das sie mir auch schon per E-Mail schilderte. Sie war ursprünglich mit zwei weiteren Doktoranden bei ihrem Dozenten beschäftigt, einem Chinesen. Die beiden anderen Doktoranden, davon eine Chinesin, kamen mit ihren Projekten nicht weiter und brachen sie ab. Nur Victoires Projekt lief gut. Da nahm der Dozent ihr das Projekt weg und bot es der Chinesin an, damit sie zurückkäme. Eigentlich dürfe der Dozent so etwas nicht machen, aber letztlich könne man kaum etwas dagegen unternehmen. Das Arbeitsklima sei dahin, und Victoire werde auf jeden Fall ihre Stelle wechseln.
Mit Lisa habe ich meine ersten eigenen Springerles gebacken, in einer verkürzten Version mit weniger Warte- und Ruhephasen. Lisa hatte das Mehl nur einige Stunden auf dem Ofen liegen, wir verwendeten reichlich Backpulver, und siehe da - die Kekse schmeckten hervorragend, auch wenn sie noch nicht ganz so professionell aussahen wie die von unseren Tanten, den "Springerles-Spezialistinnen".
Kollegin Dodo rief mich an und klagte, daß sie mehr und mehr von ihrer Oberärztin Wilrun von Landau gemobbt wird. Wilrun von Landau schnüffelt in Dodos Unterlagen herum und wirft ihr Verfehlungen vor, die mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen.
Was Dodo im Wege steht, ist ihre Neigung, die Schuld bei sich selbst zu suchen. Dadurch eignet sich Dodo hervorragend als Opfer für Wilrun. Sie kann Dodo schikanieren, wie sie will, Dodo ist immer auf der Suche nach Möglichkeiten, Wilrun zu entlasten und sich selbst zu belasten.
Ted erzählte niedergeschlagen am Telefon, er habe den Eindruck, der launische Marvin, der ihm heutzutage begegne, sei nicht mehr der nette Marvin von früher, den er liebe. Marvin sei wahrscheinlich wegen seines Hirntumors wesensverändert. Anders könne er sich diese Entwicklung nicht erklären. Er sehe Marvin nur noch selten in den gemeinsamen Stammdiscotheken, und entgegen seiner früheren Gewohnheiten tanze Marvin fast gar nicht mehr, er stehe nur noch am Rand. Ted glaubt, im Grunde sei Marvin längst tot, zumindest für ihn.
Carl ist seiner früheren Liebe Saverio schon lange nicht mehr begegnet. Er geht kaum noch in die Discotheken, wo Saverio anzutreffen ist. Carl vermutet, wenn er Saverio treffen würde, hätte er wohl durchaus noch Gefühle für ihn. Ich erzählte Carl, daß Saverio inzwischen mit Gracia zusammen ist.
Bertines Heirat mit Hakon soll von Bertines ehemaligem Verlobten C.A.D. mißbilligend aufgenommen worden sein ... und daß, obwohl C.A.D. sich zweimal gegen Bertine entschieden hat. Vielleicht kommt C.A.D. allmählich zu Bewußtsein, was er mit ihr aufgegeben hat, doch will Bertine kein Verhältnis mehr mit ihm, selbst wenn sie ihn haben könnte; sie fühlt sich bei Hakon besser aufgehoben.
Shara hat sein E-Mail-Archiv durchgesehen und eine E-Mail entdeckt, die er 2001 bekommen hat, vor drei Jahren. Ein Bekannter schrieb ihm:

Wir planen im Moment, hier in Il. ein kleines eintägiges Darkfestival zu veranstalten, das Programm wird recht gemischt werden, als Headliner wahrscheinlich W.E.
Hättet ihr vielleicht Bock, mit New Trial hier zu spielen?

Ich fragte Shara zu dieser E-Mail:

Du hattest also 2001 schon mal die Gelegenheit, mit Rafa als Headliner aufzutreten ... hast du sie damals eigentlich genutzt?

Shara antwortete:

Nö ;-)
Unser Set war zu dem Zeitpunkt meiner Meinung nach nicht livefähig. Da bin ich eigen.

Darien, der die abstrakten Dias ("Lichtwerke" genannt) für die Dekoration bei den "Stahlwerk"-Parties gestaltet, beschäftigte sich in einer E-Mail mit Zweifeln an Freundschaft und Anerkennung:

Vielleicht kannst Du mich noch etwas motivieren, auch künftig "Stahlwerk"-Dias zu machen, da mir das Feedback fehlt und ich das Gefühl nicht los werde, "nur" Beleuchtung für ein ignorantes Publikum zu sein. Aber das geht wahrscheinlich konform damit, dass auch die Musiker nicht wissen, warum sie Musik machen bzw. nicht über ihr böse-laut-...-Klischee hinauskommen und das Publikum auch keine Ansprüche stellt.
Keine Angst, ein wenig freue ich mich aber doch noch ...

Ich antwortete:

Keine Sorge, deine Lichtwerke bei "Stahlwerk" kommen bestimmt bei den Leuten an, sorgen sie doch für die gewohnte mystische Atmosphäre. Die Leute nehmen's nur halt eher schweigend zur Kenntnis. Das ist oft so bei Kunst, daß die Leute denken, hach, is das schön, aber es nicht sagen.

Layana erzählte von der Arbeit an ihrem Diplom. Sie wird damit ihr Studium der Landschaftsarchitektur abschließen. Ihrer E-Mail fügte sie ein "p.s." bei:

So viele neue Geschichten auf Deiner Seite ... da kommt man ja gar nicht mehr hinterher :-)

Umgekehrt habe ich das Gefühl, nicht schnell genug zu sein, um die Ideen, die ich für neue Geschichten habe, einzuholen.
Auf Kappas Homepage stehen jetzt Fotos von der Party im "Mute" Anfang April. Unter anderem gibt es posierte Fotos zu sehen, aufgenommen in einem Treppenhaus. Auf einem Foto tut Kappa so, als würde er Rafa auf den Armen halten; in Wahrheit würde Kappa das wohl nicht gelingen, er müßte denn hünenhafte Kräfte haben. Rafa küßt Kappa auf dem Foto innig die Wange. Auf einem anderen Bild sieht man Rafa, Edaín und Kappa, wie sie in einer Reihe stehen und lächelnd mit ausgestreckten Armen nach rechts oben zeigen, was immer sich dort befinden mag. Die Pose scheint Rafa sich ausgedacht zu haben, denn er neigt dazu, auf Fotos Arme, Hände und Finger auszustrecken. Auf einem Bild streckt Rafa hinterm DJ-Pult beide Arme in die Höhe und grimassiert, auf einem Bild steht Rafa hinterm DJ-Pult mit einer Bierflasche in der Hand und wirkt auf mich verbraucht, verlebt und eingefallen wie ein Trinker am Kiosk. Auf einem Bild zeigt Rafa dem Fotografen mit beiden Händen den "bösen Finger".
Diese Mischung aus oberflächlicher Heiterkeit, Posen und Vulgarismen scheint das Image zu bilden, das Rafa der Öffentlichkeit vorstellen will.
Während eines abendlichen Besuchs bei Cennet schauten wir den Film "23". Cennet erzählte von den Vorläufern des World Wide Web, das ursprünglich ein rein militärisches Netzwerk war. Anfang der achtziger Jahre gab es in Deutschland schon private Zugangsmöglichkeiten zu einem Datennetz, zur Verfügung gestellt von der Post, über die Telefonleitung. Das war noch vor der btx-Ära. Damals konnte man sich entweder über ein Passwort, das bei der Post registriert war, in das Netz einwählen und kostenpflichtigen Zugang erhalten, oder man hatte irgendein geklautes Passwort zur Verfügung und surfte kostenlos und illegal. Letzteres traf damals auf Cennet und seine Bekannten zu, mit Ausnahme von Karl Koch, der ein registriertes Passwort besaß. Die Datennetzverbindungen kosteten ihn denn auch monatlich 1000,- bis 2000,- DM. Cennet zeigte mir einen Ordner mit Ausdrucken von Surfprotokollen. Cennet surft hier unter dem Namen "moles", Karl Koch unter "haggy", was einer Abkürzung seines Hackernamens "hagbard celine" entspricht. Man wählte eine bestimmte, für den Zugang zum Datennetz allgemein gültige Telefonnummer, dann gab man das Passwort ein und teilte mit, wo man hinwollte. Wurde dafür ein Passwort verlangt, gab man meistens irgendein Standard-Passwort ein wie "manager", "guest", "system", "user" oder Ähnliches und kam dann auch häufig weiter. Karl Koch soll auf diese Weise gehackt haben. Komplexere Hackerstreiche seien ihm nicht möglich gewesen, da er nicht programmieren konnte. In den Protokollen geben Cennet und Karl Kurzbefehle ein, mit denen sie nachfragen, wer sich gerade in dem angewählten Intranet bewegt, und sie erhalten Namenslisten. Weit darüber hinaus geht das nicht. Cennet erlebte das Hacken als harmlos-lockeres Freizeitvergnügen ohne weitergehende Absichten. Daß das für Karl anders war, erfuhr er erst später. Karl soll schon immer sehr ernst gewirkt haben, dabei aber freundlich und zugänglich. Allmählich, während der Entwicklung seiner Psychose und mit steigendem Drogenkonsum, soll sich sein Wesen verändert und verschlossen haben. Er soll eine idealistische Weltsicht und Weltverbesserungswünsche gehabt haben, verbunden mit Größenideen, und er soll im Zuge dessen mehr und mehr den Kontakt zur Wirklichkeit verloren haben. Als ihm bewußt wurde, daß das Vermögen seiner Eltern zur Neige ging, suchte er nach Verdienstmöglichkeiten und nach Menschen, über die er sich vermarkten konnte, vorzugsweise Journalisten. Die verdienten ihrerseits recht gut an ihm.
Ein Journalist traf sich häufig mit Karl Koch und soll auch ein Buch über ihn geschrieben haben; unter anderem nahm er öfters an den dienstäglichen Treffen in einer Hacker-Stammkneipe teil. Er war überwiegend verantwortlich für eine Fernsehreportage, in der die Datenlieferungen an den KGB durch Karl und seine Hackerkollegen hochgebauscht wurden zu einer gewaltigen Spionageaffäre, die in ihrem Rang der Guillaume-Affäre gleichzusetzen sei. Ein Konkurrent des Journalisten sorgte für die Anwesenheit des Fernsehens, als Karl sich auf der CeBIT 1986 in ein Datennetz einloggte und dort ein wenig chattete.
Auf der CeBit 1986 bin ich auch gewesen, ohne freilich von den Hacker-Geschichten etwas mitzubekommen. Mir ging es nur darum, von meinen Lieblingszeichnungen und -collagen Farbkopien machen zu lassen, was damals noch in kaum einem Copyshop möglich war und wenn, dann für viel Geld.
Karl Koch wurde in jener Zeit kurzfristig zu einer Art Medienstar, während die Hauptarbeit beim Hacken durch Karls Freunde Markus H. und Hans geleistet wurde. Diese beiden konnten programmieren und waren in der Lage, über Datenleitungen fremde Rechner zu manipulieren. Die Hackereien waren nur deshalb mit einfachen C64-Computern möglich, weil diese Computer lediglich die Funktion eines Terminals übernahmen. Durch ein Modem mit Akustikkoppler wurden sie mit Großrechnern verbunden, wie etwa einem in der Universität HB., und diese mußten im Dienste der Hacker Daten anfordern und verarbeiten. Die Modems hatten, verglichen mit heute üblichen 56k-Modems, die Geschwindigkeit von 0,3k-Modems, waren also sehr langsam. Cennet verwendet heute noch, neben seinem Flachbildschirm mit Windows-Oberfläche, den über zwanzig Jahre alten Bildschirm und die Tastatur eines Rechners mit dem Betriebssystem "vax" als Terminal für seinen mit Unix-Betriebssystem laufenden modernen Computer und kann über das Internet Kontakt zu anderen Rechnern aufnehmen, ohne eine grafische Oberfläche zu verwenden; man sieht nur grüne Schrift über einen schwarzen Bildschirm laufen, wie das früher bei den damals üblichen Rechnern der Fall war.
Cennet erklärte, das Betriebssystem Unix werde nur zu einem kleinen Teil über Maschinensprache programmiert, der weitaus größere Teil werde über eine Programmier-"Hochsprache" mit dem Namen "C" programmiert. Diese Eigenschaft mache Unix zu einem flexiblen, seit Jahrzehnten bewährten Betriebssystem, das sich allen moderneren Betriebssystemen anpasse, die sich ihm also unterordnen lassen. Die heute ansonsten für Programmierungen gängigen "Hochsprachen" seien "C++" und "Java". Früher sei noch "Pascal" verwendet worden, das aber längst überholt sei. Das "@"-Zeichen in E-Mail-Adressen sei übrigens Anfang der siebziger Jahre von dem Programmierer erfunden worden, der damals das erste E-Mail-Programm entwickelte.
In den Reportagen über Karl Koch und seine Hackerkollegen, von denen Cennet Videoaufnahmen hat, sieht man Karl selbst nur einmal in einer kurzen Filmsequenz von hinten beim Hacken auf der CeBIT 1986. Sonst werden nur einige Fotos von ihm gezeigt und Bilder von seiner verlassenen Wohnung. Außerdem wird kurz der "Chaos Computer Club" vorgestellt, wo Karl Mitglied war. Und man sieht Deckblätter von Hackerzeitungen, die "Datenschleuder" heißen oder "Bayrischer Hackerbote". Eine Reportage befaßt sich hauptsächlich mit der Aufklärung des KGB-Hackerfalles durch einen amerikanischen Informatiker. Der Informatiker setzt sich darin medienwirksam in Szene und ernennt sich zur Hauptfigur eines Kriminalfilms. Ihm war an seinem Arbeitsplatz in den USA der Zugriff eines Hackers auf das dortige Intranet aufgefallen, und über eine Fangschaltung versuchte er ihm auf die Spur zu kommen. Da dies aufgrund behördlichen Widerstands zunächst nicht erfolgreich durchführbar war, suchte der Informatiker nach Passwörtern, die der Hacker verwendete, und er entdeckte "Hunter", "Jaeger", "Benson" und "Hedges". Wie sich später herausstellte, rauchte Markus H. mit Vorliebe Benson & Hedges und erlebte sich als eine Art "Jäger im Datenwald". Die erjagten Daten spielte er gemeinsam mit Hans und Karl für Geld dem KGB zu. Das konnte der Informatiker jedoch damals nicht wissen und versuchte weiter über Fangschaltungen, dem Hacker auf die Schliche zu kommen. Schließlich führte seine Spur ihn nach Deutschland und nach H. Dort konnte man aber die Fangschaltung nur erfolgreich durchführen, wenn der Hacker mindestens eine halbe, wenn nicht eine ganze Stunde in der Leitung blieb, da die Relais in der Telefonzentrale noch mechanisch überprüft werden mußten. Der Informatiker mußte also dafür sorgen, daß der Hacker möglichst lange online war, und seine Lebensgefährtin empfahl ihm, Texte zu erfinden, die den Hacker neugierig machten. So geriet der Hacker in die Falle, und wie sich dann herausstellte, waren es mehrere Hacker, die überdies im Auftrag des KGB arbeiteten.
Karl Koch soll ursprünglich mit dem Hacken etwas ganz anderes vorgehabt haben. Sein Ziel soll gewesen sein, die Datenverarbeitung im militärischen Bereich so zu beeinflussen, daß es zu Katastrophen kam wie einem vierten Weltkrieg. Durch die Katastrophen sollten die "Illuminaten" vernichtet werden, die er als Bedrohung für die ganze Welt erlebte. Daß dabei nicht nur "Illuminaten" ums Leben gekommen wären, sondern fast die gesamte Weltbevölkerung, wollte Karl augenscheinlich in Kauf nehmen.
Wahrscheinlich kam Karl mit sich und der Welt, wie sie nun einmal war, nicht zurecht und hoffte, daß sich durch Katastrophen eine Änderung dieses Zustands einstellte. Mit dem Ausbruch der Psychose wurden die "Illuminaten" mehr und mehr Teil seines Wahnsystems.
Auch Rafa äußert immer wieder den Wunsch, die gegenwärtige, wirkliche Welt zu verlassen, und das kann ebenfalls daran liegen, daß er mit sich und dieser Welt nicht zurechtkommt. Die Science-Fiction-Elemente in seinen Texten drücken wahrscheinlich seinen Wunsch nach einer "Gegenwelt" aus, einer Alternative zum Hier und Jetzt. Was er jedoch in einer solchen "idealen Gegenwelt" zu finden hofft, beschreibt er äußerst vage. Von einem "Wunderland" ist die Rede, "in einer Neuen Welt, dort, wo es nur mir gefällt". Er scheint selbst nicht zu wissen, was er sucht.
Rafa kümmert sich kaum noch um die W.E-Homepage; es werden nur gelegentlich neue Konzerttermine hinzugefügt, aber schon lange keine Bilder mehr, schon lange keine neuen Texte mehr, viele Beiträge sind nicht mehr aktuell. Nur in dem neuen W.E-Forum zeigt Rafa sich täglich, wenngleich er inzwischen nur noch alle ein bis zwei Wochen eigene Beiträge dort hinterläßt, in der Regel zu technischen Fragen.
Auf der Seite von Das P. tut sich mehr. Das Titelmotiv zeigt jetzt nicht nur Rafa und Darius, sondern auch die Sängerin, "Nachtschwester Charlize". Alle tragen Mundschutz. Es gibt eine Bandinformation zum Herunterladen, genannt "Beipackzettel", die gestaltet ist wie ein Beipackzettel zu Medikamenten. Als "Anwendungsgebiete" werden genannt:

Starke psychische und physische Schmerzen, leichte bis starke Depressionen, Anfälle von Epilepsie und jede Erscheinungsform des Tourettesyndromes (krampfartige und zwanghafte Ausdrücke von Kraftwörtern), innere Leere ...

Auf der Seite von Das P. heißt der Chatroom jetzt "Sprechstunde", der Eingang zum Chatroom heißt "Anmeldung zur Sprechstunde". Dem Forum steht die Anmerkung voran:

Benutzen Sie dieses Forum bei wirklich dringenden Beschwerden oder Anliegen. Bitte hinterlassen Sie eine genaue Beschreibung Ihrer Krankheits-Symptome.

Zenza hat für das Szenemagazin ihres Freundes Vittorio Das P. interviewt. Dieses Interview ist auf der Homepage von Das P. zu lesen, ebenso ein vorheriges, vom letzten Jahr stammendes. In den Interviews wird - ebenso wie in den W.E-Interviews - die aktuelle Musik der Elektro-, Wave- und Gothic-Szene entwertet und die Musik vergangener Zeiten idealisiert. Das P. wird dargestellt als die Band, die der Szene von heute bislang gefehlt hat. Man habe sich zum Ziel gesetzt, eine "neue Lebensform", einen "neuen Menschen" zu erschaffen. Bei Das P. erfolge der "Schöpfungsprozeß" im Form von Klang und Text.
Mich erinnern diese "Schöpfungsphantasien" an das "Gott-Spielen" selbsternannter "Schöpfer", wie sie vielfach im Film und in der Literatur auftauchen, etwa in Gestalt des Dr. Frankenstein.
Plastinator Hagens, der in China in großem Stil Hinrichtungsopfer aufkauft und von billigen Arbeitskräften "verwerten" läßt, wird im Interview lobend erwähnt.
Für Anatomie begeistere man sich auch deshalb, weil im Inneren des Körpers alle Menschen gleich seien und nur die Funktionalität zähle, jede Emotion trete in den Hintergrund.
Daß bei Plastinator Hagens jede Emotion in den Hintergrund getreten ist, glaube ich gern. Daß im Körperinneren keineswegs alle Menschen gleich sind, weiß ich von Präparieren im Studium. Auch Hagens weiß das und stattet deshalb gern seine angekauften Leichen zur Verschönerung mit fremden Organen aus.
Freilich beabsichtigt Das P. nicht, sich post mortem von einem Plastinationsbetrieb zersägen zu lassen. Man wolle nach dem Tode den Würmern zum Fraße und den Tulpen als Dünger dienen.
Die Konzerte bezeichnet Das P. als "Operationen", die im Rahmen von "Hausbesuchen" durchgeführt werden. Die Bandmitglieder werden als "Personal" bezeichnet. Am Schluß des Interviews mit Zenza bittet Das P. um die Zusendung von "perfekten Körperteilen" an "unsere Leichenhalle", bitte "luftdicht verpackt".
Unter einer Konzertankündigung findet sich der Hinweis:

Bitte vergessen Sie nicht Ihre gültige Krankenkassenkarte bzw. Ihren Krankenschein.

Zum "Tanz in den Mai" war ich in BI. im "Entropy", wo Les neuerdings zur Crew gehört. Er ist nun doch aus dem "Zone"-Betrieb ausgestiegen.
Les zeigte mir die neue MCD von Das P., "Tanz' mit Deinem Gefühl!". Passend zum Titel sind Silberling und Cover mit Zeichnungen verziert, die schematisch eine Ballerina darstellen, außerdem erscheinen Schrittfolgen von Standardtänzen als Hintergrundgrafik. Auf Fotos sieht man die Bandmitglieder in Arztkitteln. Charlize lacht fröhlich, die Herren scheinen bemüht, frostig und arrogant zu gucken, Rafa noch mehr als Darius.
Wie bei Rafa üblich, werden im Innencover viele Leute gegrüßt, darunter Berenice, Lucy und eine "Männerbruderschaft" in SHG., was immer damit gemeint sein soll - vielleicht ein Stammtisch.
Das nächste Album von Das P. wird bereits angekündigt, mit Abbildung des Covers; "Homo futura" soll es heißen. Es werde "verabreicht, wenn die Zeit gekommen ist! Kommunikation beendet! ⟨O⟩".
Cal erzählte von einem Festival, auf dem er im März in OS. als "MPD" gemeinsam mit Connor aufgetreten ist. Connor kenne ich, ebenso wie Cal, durch Philipp. Sie alle sind Industrial-Fans.
Connor ist es, der sich hinter dem Namen "Lolitakollektiv" verbirgt. Das hatte ich bislang noch nicht gewußt, zumal Connor so etwas nicht an die große Glocke zu hängen pflegt. Das "Lolitakollektiv" hat einen besonders schrägen Stil, der mich schon zu Begeisterungsstürmen hingerissen hat; hier sei vor allem "Schwanztanz" erwähnt, in dem die Stimme eines Schlagersängers zerhackt wird. Bei dem Konzert in OS. soll Connor übrigens einen Vibrator zur Klangerzeugung verwendet haben. Der Vibrator wurde auf eine blecherne Sitztonne gelegt und mußte tanzen.
Am Schluß des Festivals trat ein Australier auf, der immer am Schluß auftritt, weil er seine Umgebung verwüstet. Er hatte Tonabnehmer an einer Glasplatte befestigt und erzeugte auf verschiedene Art mit der Glasplatte Klänge. Danach zerschlug er die Glasplatte auf seinem Kopf. Das soll er jedesmal machen, und es kommt dabei durchaus zu Verletzungen. Man wird sich gewiß fragen, ob nicht ohnehin gewisse Defekte in seinem Kopf bestehen, die ihn dazu bringen, derartige Performances vorzuführen.
Am Samstag fuhr ich mit Constri und Cennet zu "Stahlwerk". Constri ging zum ersten Mal seit Denises Geburt wieder aus. Denise wurde von meiner Mutter betreut.
Vor der Abfahrt nach HH. schaute ich auf Rafas Internetseiten und lud etwas herunter.
"Eigentlich müßte Rafa mir dankbar dafür sein, daß ich alles dokumentiere", sagte ich zu Cennet.
"Na ja, als W.E-Fanbuch ist es nicht unbedingt geeignet", meinte er amüsiert.
"Nein, ist es auch nicht", bestätigte ich. "Aber als Biografie."
"Ja, das schon."
Er findet den Roman "Im Netz" "ziemlich monumental".
Bei "Stahlwerk" hatte Constri das Gefühl, erst gestern zuletzt dort gewesen zu sein, so vertraut war ihr alles.
Mal war ebenfalls nach langer Zeit wieder bei "Stahlwerk". Ich erzählte ihm von dem Australier, der bei jedem Auftritt eine Glasplatte auf seinem Kopf zerschlägt.
"Der ist klug, der Mann", fand Mal, der ihn auch schon live gesehen hat. "Er verwendet Sicherheitsglas, das macht keine spitzen Splitter, sondern nur abgerundete."
Mal ist inzwischen aus dem "gewöhnlichen" Berufsleben ausgestiegen und betätigt sich nur noch künstlerisch. Er bereist fast die ganze Welt und hat zahlreiche Kontakte in der Kunstszene geknüpft. Sein Hauptthema sind multimediale Ausstellungen und Performances. Das eingenommene Geld reiche zum Leben.
Sofie hat wieder Arbeit beim Fernsehen und schreibt im Auftrag eines Verlags über Frauen, die eine schwierige Lebenssituation bewältigt haben, eine journalistische Aufgabe, die ihr gut gefällt.
Sofie war kürzlich in froher Runde in Hafenspelunken unterwegs, das sei so lustig gewesen. Dafür hätten Mal und Dedis sicher keinen Sinn:
"Die sind doch so elitär - 'Nein, da geh'n wir nicht rein!'"
Ich mußte lächeln, wenn ich mir Mal und Dedis vorstellte, wie sie schrill und elegant zugleich vor dem Eingang einer Mainstream-Disco stehen und entrüstet sagen:
"Oh, nein, da geh'n wir nicht rein!"
Donar war nicht bei "Stahlwerk", dafür Sasso, der erzählte, Donar und er bildeten vor allem wegen privater Enttäuschungen einen "Fechtner-Haßclub". Sasso sei früher mit Ivo Fechtner eng befreundet gewesen und habe sich schwer vor den Kopf gestoßen gefühlt, als er erkannt habe, wie falsch, eigensüchtig und verlogen Ivo Fechtner in Wirklichkeit sei.
Cennet traf bei "Stahlwerk" eine Bekannte, mit der auch Constri sich lange unterhielt. Sie wohnte früher in H. und zog nach HH. wegen ihres Studiums.
Darien erzählte, sein kleiner Sohn Ciaran sei sehr lieb und sonnig. Constri und Darien unterhielten sich über Mediendesign, aber nur kurz; schon bald war ihr gemeinsames Hauptthema die Kindererziehung. Ebenso wie Denise wollte Ciaran zuerst gar nicht in seinem eigenen Bettchen schlafen. Constri löste das Problem, indem sie sich Abend für Abend zu Denise ins Kinderbettchen setzte und dort mit ihr spielte, so daß Denise ihr Bettchen allmählich als vertraut erlebte. Darien und Dera gingen nach der Methode in dem Ratgeber "Jedes Kind kann schlafen lernen" vor und ließen das Kind eine Weile schreien und trösteten es dann; sie wiederholten das so lange, bis das Kind friedlich in seinem Bett schlief. Auf diese Weise konnte Ciaran innerhalb weniger Tage im eigenen Bett schlafen.
"Das fand ich so brutal in dem Buch", meinte Constri. "Das wollte ich Denise ersparen."
"Bei Ciaran mußte es sein", erzählte Darien. "Dera hat ja überhaupt nicht mehr richtig schlafen können."
Weil die Tanzfläche besonders bei den Clubhits "Remote Assault" von Sonar und "Disco Buddha" von Monolith überlief, tanzten Constri und ich zu diesen Stücken hinter der dünnen, halb durchsichtigen Videoleinwand im Licht der Projektoren. Wir malten unsere Schatten an die Leinwand. Zwei Jungen, die auch mehr Platz zum Tanzen brauchten, gesellten sich dazu.
Cyra tanzte öfters und saß ansonsten gut gelaunt bei Delan, Rega und ihren Kollegen hinterm DJ-Pult. Cyras Freund Maurice stand mißmutig mit einem Bekannten in einer dunklen Ecke an einem Tischchen.
"Und Maurice, amüsiert der sich nicht so?" fragte ich Cyra.
"Ach, der findet, alles, was nicht Old School ist, ist schlecht."
"Das ist aber auch recht eindimensional."
"Ja, ein bißchen eindimensional."
Maurice kam erst gegen Morgen ein wenig auf seine Kosten, als einige Klassiker der Electronic Body Music herausgekramt wurden.
Sirio fotografierte Constri und mich und ließ sich mit Constri von mir fotografieren. Letztes Mal hat Sirio seine Bekannte Diddo und mich fotografiert. Diddo hat lange gebleichte Haare und macht sich gerne trashig und poppig zurecht; dieses Mal trug sie ein Glitzerdiadem im Haar, das eigentlich für Abschlußbälle gedacht ist, und hatte eine knappe rosafarbene Lederhose an, wie man sie wohl eher selten auf Abschlußbällen finden dürfte.
Ein Bekannter von Sirio stellte sich mir vor, Rusco. Ich sei die, "die tanzt", meinte Rusco; vom Sehen kenne er mich schon länger.
Als es leerer wurde im Saal, wagte sich endlich auch Cennet auf die Tanzfläche. Die Wenigen, die noch tanzten, bildeten einen Kreis und gaben sich dem Rhythmus hin.
Auf der Rückfahrt saß Constri am Steuer. Cennet fütterte sie mit Süßigkeiten und erzählte Geschichten, damit sie wachblieb. Er sei mit seiner früheren Lebensgefährtin zehn Jahre lang zusammengewesen. Sie habe ihn kurz nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Avery verlassen.
Im Nachhinein kann Cennet sich durchaus vorstellen, daß die Beziehung sich bereits in den Jahren vor Averys Geburt verändert hatte, daß er dieses aber nicht bemerkte. So kam die Trennung für ihn unerwartet. Seine Lebensgefährtin änderte damals auch ihren Freundeskreis. Sie schien ihr Leben "umzukrempeln".
Cennet arbeitet als Informatiker für die TUI, aber nicht als Angestellter der TUI. Er wurde über die IBM an die TUI vermittelt und hat kein Angestelltenverhältnis im engeren Sinne, ist eher freiberuflich tätig. Er betrachtet die Unsicherheit seiner Existenz mit Gelassenheit. Er beherrsche sein Fach, er habe mehr Freiheiten als die TUI-Angestellten - auch hinsichtlich der Arbeitszeiten -, und er verdiene gutes Geld.
Cennet glaubt, daß ich hinsichtlich meiner beruflichen Zukunft ebenfalls gelassen sein kann. Er gehe davon aus, daß ich immer Arbeit finden und ohne Schwierigkeiten die Facharztbezeichnung erwerben werde.
Ich erzählte von einem Unfall, der sich kürzlich vor meinen Augen auf der A2 ereignete. Sowohl ich als auch alle anderen Verkehrsteilnehmer konnten ihre Autos rechtzeitig zum Stehen bringen, so daß das Unfallfahrzeug nicht angefahren wurde. Ein Wagen war durch versehentlichen Kontakt mit der Mittelleitplanke ins Schleudern geraten und überschlug sich mehrmals. Das Auto war völlig zerstört, doch alle Insassen überlebten.
"Das lag daran, daß alle angeschnallt waren", meinte ich, "und daß heute die Autos so sicher gebaut werden."
Cennet erzählte von einem, der hatte einen sehr teuren Audi neu gekauft und zeigte ihn stolz, und kurz darauf überschlug er sich damit fünfmal auf der Autobahn. Der Audi war hinüber, der Fahrer jedoch nahezu unverletzt.
Mit Dodo habe ich mich in BS. getroffen, wir tranken Kaffee in einem Bistro. Sie erzählte, daß sie als Kind von ihrem trunksüchtigen Bruder vergewaltigt wurde und daß die Mutter ihr vorwirft, selbst schuld daran zu sein. Die Selbstentwertung zieht sich wie ein roter Faden durch Dodos Leben. Ihr geht es immer darum, anderen Leuten Platz zu machen, weil sie andere Leute grundsätzlich für wertvoller hält als sich selbst. Auch ihre gelegentlichen Selbstmordpläne sollen dazu dienen, anderen Platz zu machen. Sie hat ihre Rechte kaum je verteidigt, und wenn, dann nur im Ansatz, um letztlich doch wieder davonzulaufen und anderen Platz zu machen. Sie war schon dabei, den Kampf gegen Wilrun von Landau zu gewinnen; ihr wurde angeboten, in eine andere Abteilung zu wechseln, wo sie mit Wilrun kaum noch etwas zu tun gehabt hätte. Doch statt dieses Angebot anzunehmen, kündigte Dodo.
Seit Jahren macht Dodo eine ambulante Psychotherapie und nimmt Antidepressiva, doch hat sich hierdurch bisher keine Verhaltensänderung ergeben. Im Grunde spielt Dodo immer wieder die Szenerie ihrer Kindheit nach, auch in dem Konflikt mit Wilrun von Landau. Dodo sieht sich als Opfer ihres mißbrauchenden Bruders, ist aber nicht in der Lage, sich gegen den Bruder abzugrenzen und zu verteidigen. Auch gegen die Mutter, die den Bruder deckt, grenzt Dodo sich nicht ab.
Freundschaften werden von Dodo ebenso ausgetauscht wie die Wohnungseinrichtung, so daß sich keine tragfähigen Beziehungen zur Außenwelt entwickeln. Durch diese Selbstisolation wird die Beziehung zu den Tätern noch enger.
Die einzige Abgrenzung gegen die Täter erfolgt durch ein immer weiter steigendes Übergewicht. Dodo hat ein süchtiges Eßverhalten entwickelt, was sie ihre Figur gekostet hat.
Ein erfolgversprechender Schlag gegen den Bruder wurde von Dodo selbst im Ansatz erstickt. Als deutlich wurde, daß die Kinder des Bruders von diesem ebenfalls mißbraucht werden, zeigte Dodo ihren Bruder an. Da drohte Dodos Mutter mit Selbstmord. Dodo ließ sich sogleich von der Mutter erpressen und zog die Anzeige zurück. Dodo begründete ihr Verhalten damit, daß sie der Mutter ihre Drohung geglaubt habe. Sie habe lieber die Geschwisterkinder ihrem Schicksal überlassen, als sich am Tod der Mutter schuldig fühlen zu müssen.
Der Bruder kann wegen seiner an Dodo begangenen Straftaten nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden, weil die Taten verjährt sind. Doch selbst wenn Kinderschänder vor Gericht kommen, ist das Ergebnis für die Opfer meist enttäuschend. Wer ein Kind mehr als zweihundertmal vergewaltigt, kommt mit einer Haftstrafe von zwei Jahren davon; ein solches Urteil war unlängst in der Zeitung zu lesen, die in Kingston morgens auf den Frühstückstisch liegt. Schon wenn der Täter seine Taten zugibt, kann das zu einer Strafminderung führen, die so erheblich ist, daß er nicht einmal ins Gefängnis muß, sondern Bewährung bekommt. Der Täter, oft ohne jedes Unrechtsbewußtsein, erfreut sich weiter seiner Freiheit, führt weiter ein scheinbar unbescholtenes Leben und kann die geringe Strafe gar als Aufforderung betrachten, seine Praktiken fortzusetzen, da er eine Bestrafung kaum oder gar nicht zu erwarten hat. Steuerhinterziehung oder Einbruchsdiebstahl werden weitaus strenger bestraft.
Die geringe strafrechtliche Bewertung von sexuellen Übergriffen kann historische Gründe haben. In der patriarchalischen Gesellschaft gehörten ursprünglich sowohl Frauen als auch Kinder zu den Besitztümern; mit ihnen konnte der Besitzer machen, was er wollte. Ärger gab es nur, wenn er Frauen oder Kinder eines anderen begehrte, doch nicht etwa um des Wohlergehens der Frauen und Kinder willen, sondern weil sich der Besitzer bestohlen fühlte. Im Gefolge dieser Tradition ist heute noch zu beobachten, daß das Vergewaltigen fremder Kinder eher und strenger bestraft wird als das Vergewaltigen der eigenen Kinder. Daß Kinder, die innerhalb ihrer Familie mißbraucht werden, im Allgemeinen wesentlich schwerere Schäden davontragen, scheint keine Rolle zu spielen. Analog verhält es sich mit der Vergewaltigung von Frauen. Vergewaltigung in der Ehe war bis ins die jüngste Zeit straffrei. Der Körper der Frau war, so wäre daraus zu schließen, mit Unterzeichung des Ehevertrags Eigentum des Mannes; die Frau verlor ihr Recht daran.
Mißhandlung von Kindern durch Eltern und Lehrer war auch lange Zeit straffrei, sogar gesellschaftlich anerkannt; Eltern und Lehrern wurde ein "Züchtigungsrecht" zugestanden.
Dodos bisherige Partnerschaften scheiterten alle nach kurzer Zeit. Sie schaut nur nach Männern, die wesentlich älter sind als sie, weil die jüngeren sie zu sehr an ihren gewalttätigen Bruder erinnern. Ich wandte ein, daß es auch jüngere Männer gibt, die nicht gewalttätig sind; diese Erfahrung könne sie aber nur machen, wenn sie sich nicht in ihr Schneckenhaus zurückziehe. Ich riet Dodo, ihre Isolation aufzugeben und sich einen Freundeskreis aufzubauen, zu einer Selbsthilfegruppe für Mißbrauchsopfer zu gehen und in ein Fitneßstudio für Frauen. Nur durch Kontakte zu anderen Menschen könne sie selbstsicherer und widerstandsfähiger werden.
"Der Mensch ist ein Herdentier, er ist auf Anerkennung und Bestätigung angewiesen", betonte ich. "Einsamkeit macht dumm, Gemeinsamkeit macht stark."
Ob Dodo in der Lage ist, die Bedeutung dieser Aussage zu verstehen, bezweifle ich. Sie ist zu sehr auf ihre "ewige Opferrolle" festgelegt, scheint sich dadurch sogar zu definieren und daraus den Sinn ihrer Existenz abzuleiten.
Weil Edaín mir so sehr dazu geraten hatte, schaute ich mir den Film "Schindlers Liste" an, den ich schon länger auf Video habe. Eigentlich sind mir dessen Inhalte zu grausam, doch es gibt ja den Bildvorlauf. Und der Film - beziehungsweise die dargestellten Schicksale - hat mich, wie ich mir gedacht hatte, sehr beeindruckt.
Schindlers Entwicklung bildet den Weg vom oberflächlichen Egomanen zum "echten" Helden ab, der Menschen hilft, anstatt sich auf ihre Kosten zu profilieren. Am Ende dieser Entwicklung steht Schindlers fassungsloses Entsetzen über die Greueltaten, die trotz seines Einsatzes passiert sind und die er nicht verhindern konnte. Er macht sich den Vorwurf, nicht alle Menschen gerettet zu haben, die er hätte retten können, wenn sich seine Entwicklung eher vollzogen hätte. Er bekommt von den Geretteten einen Ring geschenkt, in den graviert ist, daß schon die Rettung eines einzigen Menschenlebens so schwer wiegt wie die Rettung der ganzen Welt. Als er weinend auf die Knie sinkt, wird er von den Geretteten umarmt.
Die Errettung von 1100 Menschen unter Einsatz des eigenen Lebens und unter Opferung des gesamten Vermögens ist als Tat so erhaben, daß es schwerfällt, in der Menschheitsgeschichte etwas Vergleichbares zu finden. Schindler handelt dabei so automatisch, als wenn etwas Unbewußtes in seinem Inneren sein Verhalten steuert. Schindler spürt mehr und mehr den Wunsch, zu geben und zu helfen. Er ist schließlich ganz davon durchdrungen. Als ihm die Dankbarkeit der Geretteten zuteil wird, kommt ihm zu Bewußtsein, welche Werte wirklich für ihn eine Bedeutung haben und welche für ihn nur eine scheinbare Bedeutung hatten. Ihm wird bewußt, daß es ihm von Anfang an nicht darum ging, durch die Arbeit der Menschen Reichtum und Ruhm zu ernten. Ihm ging es nur darum, sie vom Tode zu erretten. Ihm wird bewußt, daß er fähig ist, zu lieben. Er glaubt, die Dankbarkeit nicht verdient zu haben, weil sie zu seinem Selbstbild vom nüchtern kalkulierenden Unternehmer nicht paßt. Er kann nicht fassen, daß die Zuwendung der Geretteten ihm gilt. Er sieht nicht nur das Leid der in jener Epoche Gequälten und Gemordeten vor sich, er sieht sich dem gesamten Leid der Welt gegenüber und auch seinem eigenen. Er mag sich nicht zugestehen, selbst auch gelitten zu haben. Er fühlt sich verunsichert und hilflos, als er wahrnimmt, daß auch er Zuwendung, Fürsorge und Wertschätzung braucht.
Leider werde ich bei Rafa wohl für immer eine Entwicklung zum echten Altruismus vermissen, eine Entwicklung weg von einer verlogenen Fassade und hin zu Verantwortungsbereitschaft und Verläßlichkeit. Rafa nimmt Gefühle nicht in sich auf, er lebt nicht unter den Menschen, sondern an ihnen vorbei. Was er als Leid empfindet, ist das flaue Abbild wahrhaftiger Gefühle, ähnlich wie ein Abklatsch-Tattoo aus dem Kaugummipapier. Er kommt nicht in Berührung mit sich und seinen Mitmenschen.
Am Freitag war ich im "Lost Sounds", wo Xentrix auflegte. Xentrix gab mir die beiden Kassetten, die Ivco ihm für mich gegeben hat. Ivco war auch im "Lost Sounds", mit Carole und Minette. Ivco und ich tanzten zu "New gold dream" von den Simple Minds und "Talk Talk" von Talk Talk. Ivco bemerkte erstaunt, das sei ja etwas Besonderes, mich mal zu Musik tanzen zu sehen. Industrial betrachtet er nicht als Musik.
Cyan lief hastig an mir vorbei und hatte "nur eine Frage", nämlich die, wie es Ted denn gehe?
"Gut", antwortete ich, hatte ich doch erst kürzlich mit Ted telefoniert und ihn in einer ausreichend zuversichtlichen Stimmung vorgefunden, jedenfalls was seine Firma betraf.
Ted hatte mir Anfang des Jahres berichtet, Cyan habe ihm einen Zeitungssausschnitt geschickt, auf dem Ted seine bisherige Fabrikhalle anbot. Er schien Ted verhöhnen zu wollen und glaubte augenscheinlich, mit Teds Firma sei es aus. Daß Teds Firma in Wirklichkeit nur in eine modernere und zugleich günstigere Halle umgezogen ist, weiß Cyan womöglich noch gar nicht.
Brandon erzählte von seinem Studium der Sozialwissenschaften. Er befaßt sich mit dem Thema "Narzißmus", wodurch er sich seiner eigenen Selbstwertproblematik annähern kann.
Clarice war mit Leander im "Lost Sounds". Ihre neue Stelle in einer Bäckerei in H. gefällt ihr inzwischen gut. Leander gestaltet eine Internetseite für Arya, die dort ihre kunstvollen Fotografien zeigen will. Arya bestand auf einem männlichen Künstlernamen, weil sie glaubt, daß sich das besser verkauft. An seiner eigenen Homepage hat Leander immer noch nicht weitergearbeitet.
Clarice erzählte, daß Daphne bei ihr in der Nähe wohnt, daß sie Arbeit hat und daß es ihr recht gut geht. Sie soll Rafa längst zu den Akten gelegt haben.
Nina erzählte, daß sie zu Roman kaum noch Kontakt hat. Er soll mit sich und seinem Leben nach wie vor nicht zurechtkommen, weswegen auch seine Beziehung mit Nina scheiterte. Sie hatte mit viel Einsatz und gutem Willen versucht, dem durch seine schizoide Persönlichkeitsstörung stets einsamen Roman zu helfen, hatte schließlich aber eingesehen, daß sie sich dabei nur selbst opferte, ohne daß sich bei Roman eine Entwicklung zu mehr sozialer Kompetenz abzeichnete. Man könnte Roman mit einem Faß ohne Boden vergleichen - wieviel Engagement man auch hineinwirft, es fällt durch, ohne eine Veränderung zu bewirken.
Am Samstagabend war ich mit Constri und Denise auf der gemeinsamen Geburtstagsfeier von Siro und Dane. Dort trafen wir nicht nur Clarice und Brandon wieder, auch Isis war aus der Versenkung aufgetaucht. Sie hatte ihren Mann Kiron mitgenommen, der ein wenig maulig war, sich dann aber doch damit arrangierte, daß Isis nicht schon nach einer Stunde wieder gehen wollte. Isis erzählte, sie habe Nachholbedarf, sie müsse wieder häufiger ausgehen. Ihr Kind war in der Obhut eines Babysitters.
Constri unterhielt sich lange mit Angelina, einer jungen Mutter, die im Rollstuhl sitzt. Auch sie hatte ihr Kind für den Abend bei einem Babysitter untergebracht. Denise krabbelte zwischen Sofa und Couchtisch herum, betrachtete neugierig den Deckenventilator und schlief zu vorgerückter Stunde auf dem Sofa ein.
Nachts war ich im "Read Only Memory". Dort traf ich Cennet, der hatte einen Bekannten namens Kyle dabei, und die beiden nahm ich mit in den "Radiostern". Unterwegs erhielt Cennet einen Anruf von Len, der war am CITICEN und wollte wissen, wo man noch hingehen konnte. Cennet beschrieb ihm den Weg zum "Radiostern". Len überholte uns auf der Autobahn und kam dank seines Navigationssystems ohne sich zu verfahren bei dem ziemlich versteckt liegenden "Radiostern" an.
Cyra hatte wieder einmal heiß-coole "Cyberdog"-Sachen an, ein schwarzes Trägertop mit zickzackförmigen Lackträgern und einen Minirock, der hinten am Bund mit einem schimmernden "Cyberdog"-Emblem verziert ist. Cyra blieb musikalisch eher gemäßigt; immerhin liefen "Tekno Buddha" von Monolith und "The terrifying truth" von Haujobb.
Len erzählte, seit er die Industrieruinen-Fotos auf meiner Domain gesehen habe, wolle er auch gerne wieder fotografieren. Wo ich meine Motive finden würde?
Ich erzählte ihm von Industriedenkmälern, Ruinen und Baustellen und von den Lichtverhältnissen, die ich fürs Fotografieren gerne wähle.
Len erkundigte sich, ob ich das Fotografieren irgendwo gelernt hätte.
"Ich habe nur den fotografischen Blick", meinte ich. "Das ist eine Naturbegabung, weiter nichts."
Reesli näherte sich uns und erzählte, er sei heute "voll riemig".
"Und, hast du schon ein Opfer gefunden?" fragte ich nach.
Reesli schaute mich begierig an und spitzte die Lippen.
"Los, küß' mich", verlangte er.
"Das tue ich nicht", erwiderte ich, "ich küsse nur Rafa."
"Los, mach's schon!"
Mehrmals hintereinander spitzte er die Lippen und bat, ich solle ihn endlich küssen. Ich erklärte ihm jedesmal, daß ich außer Rafa niemanden küsse.
Als ich Len erzählte, Reesli wolle mich seit Jahren heiraten, meinte Len, es sei gut, daß ich dieses ablehne, denn wenn ich auf Reeslis Werben eingehen würde, bestünde die Gefahr, daß Reeslis Weltbild zusammenbräche.
Auf der Heimfahrt frühstückten Cennet, Len, Kyle und ich auf einer Raststätte. Die drei Herren erzählten von ihrer Idee, eine "Nichts-Partei" zu gründen, als Zuflucht für die Nicht-Wähler, die von den Politikern enttäuscht seien. Man werde nichts sagen, nichts tun und im Programm lediglich die "totale Aufklärung" stehen haben, was soviel bedeute wie Transparenz. Man wolle für den Wähler den politischen Filz entwirren. Auf den Wahlplakaten solle lediglich "Nichts wählen" oder "Nichts ist besser" stehen, in den "Un-Farben" Schwarz und Weiß.
Im Nachtdienst traf ich auf einer Psychotherapiestation Schwester Dyan, die dort zur Zeit arbeitet. Sie ist im siebten Monat. Ihr Kind wird wahrscheinlich ein Junge. Ihre Oma hat ihr aus den USA einen Stoff geschickt, schwarz mit Salsa tanzenden Skeletten darauf, aus dem hat Dyan ein Umstands-T-Shirt machen lassen für den Sommer. Damit ist sie auch als Hochschwangere "ausgehfein".
Im W.E-Forum unterhält man sich über Titel aus Rafas "Feindsender-Periode". Viele Fans würden Titel wie "Schneemann" gerne live hören, die Rafa gemacht hat, bevor er sein musikalisches Projekt Feindsender in "W.E" umbenannte. Rafa hat "Schneemann" noch nie live gespielt.
Rafa kündigte im W.E-Forum seine Anwesenheit in einem Chatroom wenige Stunden vorher an, so kurzfristig, daß es vielen Forummitgliedern nicht möglich war, dort zu erscheinen, weil sie zu spät davon erfuhren. Auch ich erfuhr es erst zwei Tage danach. W.E war von einem Forum in L. in dessen Chatroom eingeladen worden. In seiner Ankündigung schrieb Rafa:

Da W.E heute als Spezial-Gast im "chatroom" geladen ist, sind hier natürlich auch alle anderen herzlichst eingeladen.
Diesen Raum muß man ja schließlich irgendwie voll bekommen ; ).
Also bis nachher!

Forummitglied Bat postete zwei Tage später, er werde gern den Chat-Mitschnitt, das "Log", zur Verfügung stellen. Auf mein Bitten übersandte er mir das Chatlog als E-Mail.
Rafa erschien in dem Chatroom zunächst unter dem Pseudonym "susi" und demaskierte sich schließlich:

* susi is now known as we_Honey

Es gab freudiges Gemurmel. Chatter "Sinister" bemerkte:

⟨Sinister⟩ ah, es enttarnt sich *g*

Im Chatlog fand ich jenes oberflächlich dahinplätschernde Geplauder, mit dem Rafa sich besonders gern zu umgeben scheint und das er von seinen Fans gewohnt ist. Es ging um Fragen nach Veröffentlichungen und Auftritten, es gab kleine Neckereien, die nie tiefere Schichten des Gefühlslebens berührten, und Rafa wurde geehrt und hofiert. Beinahe während des gesamten Chats war Berenice alias "we_Soraya" anwesend. Sie erzählte von ihrer Karriere und warb für ihre Homepage und für den Tierschutz; nebenbei, berichtete sie, kümmere man sich auch um den Menschenschutz, spende auch für Unicef und die SOS-Kinderdörfer. Letzteres scheint eher Rafas Domäne zu sein, zumindest steht es so im letzten Fan-Rundbrief von Clubmanager Valerien.
Der belanglose, manchmal pseudophilosophische Smalltalk im Chatroom lief beispielsweise so ab:

⟨Sinister⟩ was macht ihr eigentlich außer musik, biologie und c64 spielen noch so?
⟨we_Honey⟩ @Sinister: die welt ein wenig verändern und glücklich sein ; )
⟨Sinister⟩ das ist mal ne schöne antwort
⟨Greedy⟩ subtile manipulation! *g*
⟨Sinister⟩ wer wagt es heutzutage schon noch, glücklich zu sein :)
⟨Acryl⟩ ich
⟨we_Soraya⟩ @Sinister: Sich für eine bessere Welt einsetzen - z. B. in Form von Tierschutz ;)
⟨Cyris⟩ ich!
⟨we_Honey⟩ wer wagt, gewinnt!!!!!!!!

Da Berenice im Chat war, hätte ich, wäre ich dabei gewesen, ohnehin keine tiefergehenden Gespräche mit Rafa führen können. Zu einer Äußerung von Rafa jedoch hätte ich durchaus etwas anmerken können. Als Chatter Zak fragte, was man gegen den Kapitalismus tun könne, schlug Rafa vor:

⟨we_Honey⟩ vielleicht etwas geistesgegenwärtiger kaufen oder ein paar mobiltelephonfunktürme in die luft sprengen

Dazu hätte ich Rafa gefragt, ob er selbst ein Handy besitzt - und falls ja, weshalb. Daß er ein Handy zumindest schon hatte, weiß ich, weil ich ihn bereits mit einem Handy gesehen habe. Vermutlich hat er immer noch eines. In diesem Fall stünde sein Vorschlag im Widerspruch zu seinen Lebensgewohnheiten. Überdies wäre zu fragen, inwiefern Rafa durch großangelegte Sachbeschädigung den Kapitalismus als System beseitigen will.
Weshalb Rafa im Chat zuerst das Pseudonym "susi" verwendete, ist möglicherweise dadurch erklärbar, daß er unerkannt nachschauen wollte, wer alles im Chat war, um im Bedarfsfall ebenso unerkannt die Flucht ergreifen zu können. Hier stellt sich die Frage, wem er in diesem Chat nicht begegnen wollte.
Einmal wurde Rafa nach seiner Anwesenheit in Chatrooms befragt:

⟨Sinister⟩ @honey bist du öfter in solchen chats unterwegs?
⟨we_Honey⟩ eigentlich nur in dem gespräch am puls der zeit, sprich dem W.E-"chatroom"

In Rafas Forum schrieb ich, adressiert an Bat:

Many thanx. Cool das log, Rafa spielt mit seltsamen Pseudonymen (Susi); er will Handyantennen in die Luft sprengen (dann hat er ja selber kein Netz mehr); und ich frage mich, wann kündigt er denn nun mal wieder einen Chat rechtzeitig vorher an. Aber ich wette, jetzt macht er's grade nicht. Grade, weil ich's sag.

Bat antwortete:

einfach öfters mal im chat vorbeischaun ... ab und zu taucht honey auch auf ...

Ich schrieb:

Ja, sicher geistert er in seinem Chatroom herum. Aber man betrachte die Wahrscheinlichkeit, ihm zu begegnen; die ist doch sehr gering. Angekündigte Termine sind wichtig, um Zeit sinnvoll zu verwenden. Einfach so ins Blaue gibt's bei mir nicht. Da hat alles Plan.
Sicher, ich kann mich irren, aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, Rafa vermeidet mit Absicht, seine Anwesenheit im Chat anzukündigen bzw. rechtzeitig anzukündigen. Das hört sich seltsam an, und ich wüßte auch nicht, wieso er das vermeiden sollte; ist nur so ein Eindruck von mir.

Da fühlten sich sowohl Binary als auch Bat in ihrer Verehrung für Rafa angegriffen. Binary schrieb:

Das "Gespräch am Puls der Zeit" war seinerzeit zu einem festen Termin, und vielleicht gibt's ja wieder sowas.
Ansonsten:
Ich denke, dass W.E eine sehr hörerfreundliche Gruppe sind, auch der Kontakt der Hörer zu den Mitgliedern ist recht einfach möglich, also ich finde, dass du etwas überreagierst.
Noch dazu, wo alle vom Sender, außer Sendungen zu produzieren, noch einen gewissen Alltag zu bewältigen haben. Ich denke, dass man niemandem, auch keiner Musikgruppe, vorschreiben kann, wie und wie oft sie den Kontakt zu den Fans pflegen ... immerhin geht es um Honeys "Freizeit", und das ist ja wohl PRIVATSACHE!

Bat meinte zustimmend:

Besser hätt ich's nicht sagen können ...

Rafa war online und verhielt sich ruhig. Ich postete nichts mehr zu dem Thema. Ich wollte mich von Binary und Bat nicht provozieren lassen.
Als ich meine Beobachtung mitteilte, daß Rafa seinen Chatroom zusehends meidet und daß er seine Anwesenheit im Chatroom entgegen seiner früheren Gewohnheit nicht mehr ankündigt, deuteten Binary und Bat das so, als wenn ich Rafa die Ankündigung seiner Anwesenheit vorschreiben wollte. Eine Anmerkung wurde als Befehl mißverstanden.
Immer wieder erstaunt es mich, wie leicht sich Rafas Fans angegriffen fühlen, wenn sie den Eindruck haben, daß ihr "Gott" in Frage gestellt wird. Sie verhalten sich dann durchaus aggressiv und vermitteln das ungeschriebene Gesetz in Rafas Fangemeinde, ihn als Person nie zu hinterfragen. Ein weiteres ungeschriebenes Gesetz in dieser Gemeinde lautet augenscheinlich, daß über Gefühle nicht geredet werden darf; sie werden tabuisiert. Es wird viel philosophiert, doch immer an der Oberfläche und nie mit konkretem Bezug auf menschliche Schicksale. Meine Kritik durchbricht das harmlose Geplätscher der Threads. Das wird sogleich sanktioniert.
"Wozu?" ist eine therapeutische Frage, die man zur Erklärung eines solchen Verhaltens einsetzen kann.
Man kann daraus die Frage stricken:
"Wozu dient die Idealisierung von Rafa?"
Rafa wird, so kann man folgern, von seinen Fans funktionalisiert. Er wird als Projektionsobjekt verwendet, muß also "Gott spielen". Er hat die Rolle der Figur auf dem Altar, die angebetet wird. Man kann folgern, daß seine Fans das Bedürfnis haben, jemanden anbeten zu können, im Sinne einer religiösen Gemeinschaft. Es ist vorstellbar, daß gerade Rafas Fans sich nach jemandem sehnen, der ihnen "sagt, wo es langgeht" und dem sie blind folgen. Es scheinen eher selbstunsichere Menschen zu sein, die nach einer Orientierungshilfe und einer Art "Weltordnung" suchen. Rafa bedient seine Fans, indem er sich als "Gottheit" anbietet, als jemand, der vorgibt, unfehlbar zu sein und alle Weisheit der Welt in sich zu vereinen. Diese Fassade wird von mir durchbrochen. Das wird von seinen ergebenen Fans als Blasphemie wahrgenommen.
Die Aggressivität, mit der "Jünger" reagieren, wenn ihre "Götter" hinterfragt werden, läßt vermuten, daß die Kritik etwas in ihnen wachwerden läßt, das sie verdrängt haben. Vielleicht sind es ihre verdrängten Wünsche nach Unabhängigkeit und Kritik, die sie ihrem Verlangen nach einer "idealen" Führerfigur geopfert haben. Ich lebe ihnen ein Selbstbewußtsein vor, das sie sich nicht zutrauen und vielleicht neidvoll betrachten.

Mitte Mai habe ich im Traum ein Chatlog gelesen wie jenes aus dem Chatroom, wo Rafa neulich war, mit denselben Teilnehmern, nur mit dem Unterschied, daß dort sehr persönlich und tiefgehend über Gefühle geredet wurde. Alles hatte dort seinen Platz: Sehnsucht, Trauer, Hoffnung ... Einer der Chatter erzählte beispielsweise von seiner Trauer um einen verstorbenen Angehörigen. Ich fragte mich, ob ich in dem Log, das Bat mir geschickt hat, etwas übersehen hatte. Ich wollte den Chattern nicht unrecht tun.

Beim Aufwachen erkannte ich, daß nur das Chatlog im Traum tiefgründige Gespräche enthielt, das Chatlog in Wirklichkeit war durchweg oberflächlich.
Rafa teilte bei seinem nächsten Aufenthalt in seinem Forum mit, daß Berenice und er Ende des Monats eine C64-Party besuchen wollen. Nach wie vor demonstrieren sie Zusammengehörigkeit und Harmonie.
Auf der Homepage von Das P. wird vermeldet, die aktuelle MCD sei in den DAC auf Platz 14 eingestiegen.
Im Internet finden sich mehrere Rezensionen, worin man sich lobend über die MCD äußert und die Musik mit W.E vergleicht:

Schon der Vermerk auf dem Cover macht klar, daß es sich hierbei um "50 Prozent W.E" handelt. Die ersten Töne machen dann unmißverständlich klar, daß die 50 Prozent glatt untertrieben sind, denn die typischen W.E-Sounds sind in "Tanz mit Deinem Gefühl" genauso enthalten wie der bekannte Songaufbau, der charakteristische Gesangsstil - und sogar das Artwork erinnert nicht nur leicht an den Hauptarbeitgeber eines der Mitglieder von "Das P."

In einer Rezension äußert man sich etwas kritischer:

Alles in allem eine recht nette und durchwachsene Platte mit guten Clubhits und gekonnten Ausflügen in andere musikalische Gefilde, für meine zugegeben recht hohen Ansprüche aber leider mit einigen Fehlgriffen, was das recht platte Textgut ("Totgeburt") angeht. Nichtsdestotrotz für Elektro- und Synthiepop-Fans ein Probehören wert, schon allein wegen der schönen Stimme der Nachtschwester.

Am Freitag war ich mit Sarolyn, Cennet und Len im "Entropy", wo Les auflegte. Wir trafen dort Claire, Nancy, Heloise und Barnet. Les spielte "Tanz' mit Deinem Gefühl!" von Das P. Wie Les hat auch Barnet den Eindruck, daß Rafa bei der Arbeit für Das P. durchaus den Anspruch hat, etwas Neues und Experimentelleres zu schaffen, daß er jedoch immer wieder unweigerlich in die gewohnten W.E-Sounds und -Harmonien abrutscht. Darius, der mit anderen musikalischen Vorstellungen an das Projekt herangegangen sein könnte - denkt man an das ehemalige kühle, abstrakt-rhythmische Intro der Homepage - wird vermutlich von Rafa in den ewiggleichen Strudel mitgerissen.
Einige Gäste im "Entropy" trugen besonders raffinierte Kostüme; man sah sternförmig hochgestellte Frisuren, eine mit Straußenfedern verzierte Knotenfrisur, ein blütenweißes Hemd mit schwarzen Schnallenriemchen auf den Ärmeln und in der Taille und dazu ein Miniröckchen im Nadelstreifenmuster und Plateaustiefel mit Killernieten ...
Im Auto hörten wir "Schneemann" von Rafa. Cennet meinte, die Computerstimme sei mit dem C64 generiert, das höre er sofort heraus. Man könne mit dem entsprechenden Programm nicht nur aus einem Baukasten von Phonemen wählen, sondern auch die Sprachmelodie beeinflussen. Es sei aber sicher eine ziemliche Tüftelei für Rafa gewesen.
Cennet erzählte über seinen C64, daß er damals nur den Rechner hatte, ohne Peripherie. Seinen Fernseher verwendete er als Monitor. Für ein Floppy-Laufwerk reichte sein Geld nicht, er hatte nur eine sogenannte Datasette, die ihm ermöglichte, Daten auf einer gewöhnlichen Audio-Kassette zu speichern. Computer waren für ihn nicht in erster Linie zum Spielen, sondern zum Programmieren da. Als er für Karl etwas programmierte, lieh ihm dieser ein etwas fortschrittlicheres Modell aus, einen "Henkelmann" - so wurde der tragbare SX64 genannt. Cennets eigener Rechner war nicht tragbar und wurde "Brotkasten" genannt. Er verkaufte seinen C64, als er einen moderneren Rechner anschaffte.
Cennet erzählte, daß es in den USA einen "Darwin Award" gibt, der verliehen wird an Leute, die geehrt werden sollen, weil sie ihre mißratenen Gene aus dem Genpool entfernt haben. Einer hat ihn gewonnen, der auf mysteriöse Weise zu Tode gekommen war. Man fand am Grand Canyon in sechzig Metern Höhe die Aufschlagstelle eines Sportwagens und am Fuß des Hanges das zerschellte Wrack mitsamt den unkenntlichen Überresten des Fahrers. Die Polizei soll lange gerätselt haben, wie das passiert war, bis auffiel, daß in der nahegelegenen Fabrik, die Beschleunigungsraketen herstellte, sowohl eine der Raketen als auch einer der Mitarbeiter fehlten. Man konnte rekonstruieren, daß der Mitarbeiter seinen Wagen ganz besonders heftig beschleunigen wollte und deshalb eine Beschleunigungsrakete an ihm befestigte. Der Wagen hob beim Zünden der Rakete ab und schlug in sechzig Metern Höhe am Grand Canyon auf.
Ein anderer erhielt den Award, weil er mit seinem Billardqueue lässig seine Pistole vom Rand des Billardtisches aufnahm und langsam nach unten rutschen ließ. Dabei wurde der Auslöser nach und nach gedrückt, und schließlich fiel ein Schuß, der den Billardspieler sofort tötete.
Am Samstag war ich im "Lost Sounds". Edaín saß draußen auf dem Vorplatz an einem Holztisch mit Kappa, Gavin und mehreren Bekannten.
"Ach, die Kappa-Fraktion ist auch hier", begrüßte ich die Gruppe.
Gavin wollte nicht dazugehören und suchte das Weite, verhakte sich aber mit dem Fuß und fiel hin.
"Soll ich das symbolisch betrachten?" fragte ich mich.
Edaín nahm Bezug auf die Musiktitel, die ich in "Im Netz" erwähne, und sagte zu Kappa, Esplendor Geometrico und Winterkälte, das seien Bands, die sie sich merken müsse für ihre Industrial-Elektro-Party im "Maximum Volume".
"Esplendor Geometrico ...", wiederholte Edaín und schien dem klangvollen Bandnamen nachzulauschen.
Sazar sah ich nach Jahren wieder; er berichtete, ihm gehe es gut, und er wirkte betrunken.
Virginia erzählte, Pascal sei das Beste, was ihr passieren konnte. Man plane, eine Familie zu gründen. Bislang lebt sie in H. und er in dem einhundertfünfzig Kilometer entfernten Lp. Sie führen seit vier Jahren eine Wochenendbeziehung. Virginia meinte, auf die bittere Erfahrung mit Derek hätte sie im Nachhinein gerne verzichtet. Sie glaubt, diese Erfahrung wäre ihr erspart geblieben, wenn Pascal sich eher an sie herangewagt hätte.
"Am Ende hat doch jeder das bekommen, was er wirklich wollte", sagte ich.
Das bestätigte Virginia.
Brandon klagte über Liebeskummer. Seit einem Jahr habe er seine Herzdame nicht mehr gesehen. Sie habe ihn verlassen, und er habe das Gefühl gehabt, mit einer Mauer zu reden, nicht mit dem Menschen dahinter.
Zoë hat zu ihrem früheren Freund Merlon keinen Kontakt mehr. Er soll immer noch Sachen von ihr haben. Arbeit hat Zoë zur Zeit nicht.
Gogo Tami hatte sich lange Rastalocken in die Haare geflochten und trug Lack und Nieten. Sie glaubt, wenn sie Lack trägt, sind die Leute netter zu ihr, als wenn sie ein Samtkleid anhat, wie sie es neulich in der "Lagerhalle" trug. Ich meinte, das könne ich nicht bestätigen; zudem stünde ihr Samt ebenso gut wie Lack.
Sadia hat mit ihrem Freund Osman in BI. ein Möbelhaus für Designermöbel eröffnet. Lana hat Pläne, sich mit einer Ayurveda-Praxis selbständig zu machen. Ayurveda gilt zur Zeit als "schwer angesagt", und Lana ist durch ihre Ayurveda-Ausbildung im vergangenen Winter auf dem neuesten Stand.
Rikka ist von ihrem Freund Odu verlassen worden. Zu Beginn ihrer Beziehung hatte Odu von Heirat und Familie geredet, doch als Rikka ihn beim Wort nehmen wollte, nahm Odu von diesen Plänen mehr und mehr Abstand. Daß er Heirat und Familiengründung in Aussicht stellte, scheint vor allem den Zweck gehabt zu haben, Rikka als Partnerin zu gewinnen.
Als ich Henk einen Geburtstagsbesuch abstattete, döste er in den Ruinen des Trinkgelages vom vergangenen Abend. Er ärgerte mich, indem er mich auf den Balkon sperrte. Er hatte dann aber doch ein Einsehen und ließ mich wieder ins Wohnzimmer.
Rafa hat seit Neuestem eine Homepage, die vor allem seinem geliebten C64 gewidmet ist. Diese Homepage beinhaltet einen Artikel in einer C64-Zeitschrift, wo Rafa eine C64-Kontakt-Ecke namens "Honeys Welt" betreibt. Darin befindet sich unter anderem ein im Jahre 2003 von Rafa gezeichnetes Comic über die Schulzeit, wo man Rafa als "HONG" in der letzten Bank mit hochgestellten Haaren und geschminkten Augen in der Kunststunde am C64 sitzen sieht. Die Mitschüler erklären dem Lehrer, daß Rafa den C64 zur Gestaltung seiner Kunstbilder verwendet. Rafa stellt sich dar als schriller Außenseiter, der sich nach seinen eigenen Regeln richtet, gegen die Konventionen. Das Comic gibt mir einen Hinweis auf die Konflikte, die Rafa nach dem Tod seines Vaters im Klassenzimmer erlebt haben dürfte. Zugleich weist es mich darauf hin, wie aktuell die Konflikte seiner Schulzeit für ihn heute noch sind.
In dem Artikel fachsimpelt Rafa über den C64 und zeigt die Fotos, die seine Fans ihm von ihren teilweise ziemlich schrill aufgemachten C64-Rechnern geschickt haben, ein mit einer "64" aus Russisch Brot verzierter C64 und Ähnliches. Rafa beantwortet Leserbriefe, und - oh Wunder - er duzt die C64-Fans, die ihm schreiben. Sein Stil ist weniger gestelzt und weniger abgehoben als sonst üblich. Als Kontaktadresse gibt er sogar seine Heimatadresse an, läßt die Kontakte nicht über den W.E-Fanclub laufen. Freilich nennt er statt seines richtigen Namens "Die kleine Galerie" seiner Mutter als Adressat.
Am Ende seiner Leserbrief-Seite unterschreibt Rafa mit:

Honey
"Nur zwischen Mensch und Computer gibt es die wahre Liebe!"

- als sei das sein Lebensmotto.
Er scheint an die Liebe zwischen Menschen nicht glauben zu können. Die Liebeslieder, die Rafa an Berenice oder die Sängerin Tessa richtet, können demnach nicht ehrlich gemeint sein.
Ein weiteres, auch aus dem Jahr 2003 stammendes Comic, das Rafa in der C64-Abteilung seiner W.E-Homepage zeigt, handelt davon, wie Rafa alias "HONG" in der Schule einen tabellarischen Lebenslauf schreiben muß. Der Lehrer ist mit den Lebensläufen aller Schüler zufrieden, nur mit dem von Rafa nicht. Der nämlich hat in den Lebenslauf hineingeschrieben, wann er seinen ersten C64 und die dazugehörigen Bauteile bekommen hat, die für ihn wirklich wichtigen Stationen seines bisherigen Lebens. Deshalb heißt das Comic auch "Wichtige Ereignisse".
Am Mittwoch vor Himmelfahrt war Rafa entgegen der Ankündigung, die er Edaín gegenüber gemacht hatte, nicht im "Mute". Dolf war da, Ivco auch, mit seiner Frau, seiner Schwester und seinem Schwager.
Yori begrüßte mich und erzählte, bei dem Auftritt von Das P. im Januar sei sie so betrunken gewesen, daß sie nicht mehr so recht gewußt habe, was sie tat. Der Alkohol habe ihr die Zunge gelöst, so daß sie versucht habe, Klarheit über die Frage zu erhalten, seit wann genau Rafa mit Berenice zusammen ist.
"Eine Frage habe ich noch", erzählte ich. "Du hast gemeint, wenn Rafa wirklich schon seit 1997 mit seiner Freundin zusammen ist, hätte er sie schon ganz schön heftig betrogen. Mit wem hat er sie denn betrogen?"
"Also, wenn du mich so ehrlich fragst, kann ich dir nur eine ehrliche Antwort geben", entgegnete Yori verschämt. "Natürlich war ich diejenige, welche ..."
"Das dachte ich mir schon", meinte ich. "In meinem Diarium habe ich eine Notiz gefunden, daß ich über irgendwelche Ecken gehört habe, daß Rafa, als er schon mit seiner Freundin zusammen war, im 'Zone' mit einem blonden Mädchen angebändelt hat. Das warst dann wahrscheinlich du. Da hat er dich ja ganz schön hinters Licht geführt."
"Ich mache mir solche Vorwürfe."
"Das mußt du nicht, du konntest es ja nicht wissen. Er hat es dir ja verschwiegen."
"Ich mache mir Vorwürfe wegen Berenice. Nachdem ich durch dich erfahren hatte, daß er seine Freundin damals mit mir betrogen hat, und ich so voll betrunken im 'Read Only Memory' stand, kam sie nämlich noch an, und wir haben uns voll gut unterhalten. Sie hat gemeint:
'Dich habe ich doch auch schon mal irgendwo gesehen.'
Und wir sind ins Gespräch gekommen. Da habe ich voll das schlechte Gewissen gehabt."
"Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben, du konntest nichts dafür."
"Ich weiß - wenn, dann müßte Rafa das schlechte Gewissen haben."
"Eben. Er hat doch die Sache inszeniert."
"Das war eigentlich nichts Festes. Ich hatte das auch gar nicht vor. Ich war noch gar nicht über die Trennung von Gavin hinweggekommen. Gavin und ich sind heute die besten Freunde, aber damals war es hart für mich, daß Schluß war. Und Rafa hat mich gleich mit zu sich nach Hause genommen ..."
"War ja auch kein Problem. Da war natürlich die Freundin nicht, er wohnt ja immer noch bei seiner Mutter."
"Genau."
"Deshalb konnte die Freundin auch nichts davon mitkriegen."
"Es waren vielleicht fünf Tage, im Nachinein war es eine schöne Zeit. Rafa hat mit mir nicht Schluß gemacht, der Kontakt ist einfach irgendwie abgebrochen. Ich habe gedacht, es ist nichts dabei, wir waren beide ungebunden, was soll's? Und dann habe ich irgendwann mitgekriegt, daß er eine Freundin hat, und niemand wußte genau, wie lange schon. Ich habe mir das immer so zusammengereimt, daß das mit Rafa und mir wohl vor seiner Beziehung mit Berenice gewesen sein muß. Und erst jetzt im 'Read Only Memory' habe ich erfahren, daß es nicht so war. Das war voll der Schock."
"Ich glaube, daß du nicht die Einzige warst, mit der er das durchgezogen hat. Rafa kann mit Gefühlen überhaupt nicht umgehen und hat deshalb nur Beziehungen, in denen er auf echte, tiefe Gefühle verzichten kann. Er liebt Berenice nicht und sie ihn auch nicht."
Yori vermutete, daß die Beziehung von Rafa und seiner Freundin nicht sehr glücklich ist. Sie habe die beiden nie "wirklich zusammen" gesehen.
"Früher, als sie gerade zusammengekommen waren, haben die sehr demonstrativ miteinander geknutscht", erinnerte ich mich.
"Viele Leute machen das wirklich als Show", meinte Yori.
Isis war ohne Kiron im "Mute". Kiron war lieber zu Bett gegangen, und Isis konnte ihren Spaß haben, ohne daß Kiron zum Aufbruch drängte. Sie plauderte ein wenig mit dem Sänger von Melotron. Die Band hatte im Rahmen der Party einen Auftritt. So entspannt und natürlich, wie der Sänger auf der Bühne wirkte, war er auch im Gesprächskontakt.
Sazar hatte eine umfangreiche, teuer aussehende Fotoausrüstung dabei und machte Konzertfotos. Er erzählte mir, daß er inzwischen als Redakteur bei mehreren Zeitschriften arbeitet.
"Es freut mich, zu hören, daß du so eine anspruchsvolle und vielseitige Arbeit hast", sagte ich. "Die hat mit Kreativität zu tun und macht Spaß."
"Spaß, na ja ... o.k, sie macht Spaß, o.k."
Ein Junge, der sich Yeti nennt, sprach mich auf mein silbernes Outfit mit langem, weitem Rock an.
"Heute mal nicht im weißen Kleidchen", bemerkte er. "Sieht aber trotzdem gut aus. Siehst immer gut aus."
Er holte mir Kaffee und erzählte von seinem Liebeskummer wegen seiner ehemaligen Freundin, die auch im "Mute" war. Übrigens habe ihm seine ehemalige Freundin nicht geglaubt, welchen Beruf ich habe.
"Ich glaube ihr aber", meldete sich Fay, die neben ihm erschien, zu Wort. "Ich kenne sie seit Jahren, weil sie immer in unserem Frisiersalon war."
Fay, Mauros frühere Kollegin, mußte wegen einer Allergie ihren Friseurberuf aufgeben. Sie macht eine Umschulung zur Reiseverkehrskauffrau. Sie hofft, daß dieser Beruf nicht mit dem Abschluß ihrer Umschulung ausgestorben sein wird. Heutzutage könne man sich auf nichts mehr verlassen.
Saverio begrüßte mich, mit kahlem Schädel und schwarzem Anzug.
"Willst du mich heiraten?" fragte er mit seiner einmalig blökenden Stimme.
"Irgendwer hat mir erzählt, du bist mit Gracia zusammen", entgegnete ich.
Saverio bestätigte das.
"Dann müßtest du doch eigentlich sie heiraten", gab ich zu bedenken.
"Stimmt eigentlich", meinte Saverio. "Ach, ich will gar nicht heiraten. Ich werde überhaupt nie heiraten."
Taidis Bekannter Melvin erzählte, Taidi habe sich - wie Saverio - alle Haare abrasiert. Bei Taidi habe dies den Grund, daß er mit seinem Haarschnitt unzufrieden war.
Cyber wurde von mir befragt, wie Musikmanagement funktioniert: ob die Veranstalter von sich aus auf den Manager zukommen, wenn sie eine Band auftreten lassen wollen, oder ob der Manager die Veranstalter fragt, ob seine Band bei ihnen auftreten kann.
"Wohl eher Letzteres", antwortete Cyber. "Wenn eine Band bekannter ist, kommen natürlich auch mal Nachfragen von Veranstaltern."
Am Donnerstag erhielt ich eine SMS von Constris Handy:
"G5DA GU WJ AAJ J JJ (SMS von Denise)"
So bringt Constri der Kleinen alles bei, was im Leben wichtig ist.
In der Nacht zum Samstag war ich frühmorgens in der "Neuen Sachlichkeit". Ein Mädchen sah ich, das trug ein Halsband mit Kette, und ihr Freund tanzte mit ihr und hielt sie an der Kette.
Auf der Tanzfläche waren auch einige hochgewachsene, sehr schlanke Jungen, die aufwendig geschminkt und geschmückt waren, die Haare geflochten hatten und Netzoberteile, Schnallenhemden und Lackröcke trugen. Oberteile und Schmuck waren kontrastreich in Silber, Schwarz und Weiß gehalten.
"Hübsch", dachte ich. "Leider wirken sie nicht wie Erwachsene, sondern recht unreif, mehr wie Teenager."
Nando, der mich auf die Tanzfläche zog und mit mir eine Art Foxtrot tanzte, war nicht mehr so jugendlich, aber auch nicht hübsch, sondern unscheinbar. Ohne daß ich etwas über seine Garderobe sagte, kündigte er an, nächstes Mal werde er sich schminken und Rüschenhemd und Gehrock anziehen. Dann könnten wir weiterüben.
Gogo Tami trug Lack und hatte sich von ihrem Hund das Würgehalsband ausgeliehen. Sie vollführte eine Performance vor dem Sarg, der dieses Mal in der Mitte der Bühne aufgebaut war, mit fünf unterschiedlich hohen Kerzenleuchtern darauf, und rechts und links von ihm saß je eine der unbekleideten Schaufensterpuppen auf einem Stuhl. Die mit einer Heckenschere erstochene Schaufensterpuppe hatte dieses Mal einen Stehplatz auf einer kleinen Kanzel. An der Decke hing eine weitere Puppe, aufgeknüpft am Hanfseil. Im Rahmen der Performance legte Tami ihr Lackröckchen ab und zeigte sich im Mini-String. Dann nahm sie auf dem Schoß einer der sitzenden Schaufensterpuppen Platz. Alles wurde von einem Mädchen mit einer Digitalkamera fotografiert.
Hinterm Sarg stand das DJ-Pult. Abraxas und Spheric spielten unter anderem "Planet Claire" von B52, "Beloved" von VNV Nation und "Lichtlos" von Xotox, gegen Morgen dann sogar noch "One eyed man" von This morn' omina und "Effects vs. sustainability" von Winterkälte.
Auf einer Großleinwand lief zunächst ein historischer Schwarzweiß-Film, später liefen nur noch Pornofilme. Als ich Puppen-Theo fragte, weshalb er hier Pornofilme abspiele, entgegnete er:
"Ist doch schön!"
Ich meinte, ich fände das eher schaurig-scheußlich, aber das sei Geschmackssache. Ob er glaube, daß viele Leute sich solche Filme ansehen und nicht darüber sprechen?
"Das weiß ich nicht", erwiderte er. "Wenn ich mir Pornofilme angucke, dann nicht unbedingt die billigsten ... also nicht unbedingt 'Sachsen-Paule' oder so ..."
Am Dienstag veranstaltete Cyra ein Damenkränzchen in Form einer Grillparty. Als ich von den Prinzenhochzeiten erzählte, die neulich in den Medien vergoldet wurden, meinte Cyra, in der Rolle einer Braut könne sie sich nun gar nicht vorstellen:
"Vielleicht in nächsten Leben, hahaha."
Cielle glaubt nicht mehr an eine Zukunft mit ihrem Seemann. Sie hat festgestellt, daß er Drogen nimmt.
Ein Mädchen in der Runde erzählte von ihrem suchtkranken Freund. Sie will sich eigentlich von ihm trennen, fühlt sich aber immer noch für ihn verantwortlich und kann sich innerlich nicht von ihm lösen.
Mehrere Mädchen konnten Absurdes über Ebay erzählen. Dort wird allerlei versteigert, sogar ein Kabel für ein schnurloses Gerät wurde angeboten und für einen Euro versteigert; sozusagen hat jemand einen Euro für rein gar nichts bezahlt. Und sechs Mädchen und zwei Kisten Bier für einen Abend sollen für 15000 Euro versteigert worden sein. Die Versteigerung von Jungfräulichkeit hingegen soll durch Ebay unterbunden worden sein.
Im W.E-Forum bemängelt ein Fan die unzureichende Bekleidung der Bandfrauen. In der Tat ließ Rafa die beiden Damen auf dem diesjährigen W.E-Fanclubtreffen nicht nur in den immergleichen rosa Kleidern, sondern später auch in Straps-Dessous aus rosa Spitze auftreten; das war auf Fotos zu sehen. Irgendwie erinnert mich diese Kostümierung an ein Bordell, und das ging offenbar nicht nur mir so. Die meisten Fans jedoch wollen ihre "Götter" unangetastet sehen und meinen, man müsse ja nicht hinsehen, wenn es einem nicht gefalle, und schließlich sei ja nicht wirklich etwas zu sehen gewesen.
Die Fans haben überwiegend die auf Tischen aufgereihten antiken Computer und das Konzert fotografiert. Rafa ist abseits der Bühne nur auf wenigen Bildern zu sehen und nur vor seinem Auftritt, nicht mehr danach. Man sieht ihn in einem schwarzen T-Shirt, das sein Bandmotiv trägt, in der Computer-Ecke mit anderen Jungen vor den Rechnern stehen, und vor einer Theke sieht man ihn mit einem Jungen Bier trinken, in demonstrativer Partylaune.
Rafa legt sein Fanclubtreffen immer in die Nähe des Todestages von Karl Koch. Dieses Mal war der 23.05. ein Sonntag, und in der Nacht zu diesem Sonntag gab Rafa ab 0.00 sein Konzert und verwies in einer Anmerkung auf das Datum als Grund für die späte Uhrzeit; so ist es in dem Bericht eines Fans zu lesen. Als ich Cennet davon erzählte, sagte er, er könne nicht fassen, daß ausgerechnet Karl Koch von Rafa gottähnlich überhöht und verehrt wird:
"Wenn einer sich ganz bestimmt nicht zum Vorbild eignet, dann ist es Karl."
Cennet hat Karl in Erinnerung als labiles, hilfsbedürftiges Geschöpf, das am Leben und an sich selbst gescheitert ist. Auf keinen Fall hätte man Karl als "Helden" bezeichnen können.
Cennet hat mir ein Video von Clock DVA ausgeliehen. Auf der Kassette befindet sich auch das Video zu "The Hacker" aus dem Jahre 1989, ein Stück, das ich schon ebenso lange kenne. Erst jetzt, beim Anschauen dieses Videos, wurde mir klar, was das Stück für eine Bedeutung hat. Es beginnt mit einer Widmung, weiß umrahmt auf schwarzem Grund, in Computerschrift geschrieben:

Dedicated to Karl Koch
aka: Hagbard Celine
hacked 23/5/89
aged 23

Über dem Text sieht man ein Foto von Karl Koch.
Weiter geht es mit dem Geräusch des Tippens auf einer Tastatur, und synchron dazu erscheinen auf einem schwarzen Hintergrund die Zeichen:

username:
CLOCK DVA
password:
THE HACKER

Danach beginnt das Video, in Schwarzweiß gehalten, eine flackernde Bildfolge aus Nullen, Einsen, menschlichen Gesichtern, Computergrafiken und abstrakten Darstellungen.
Clock DVA sollen zu der damaligen Zeit öfters in B. gewesen sein, unter anderen in einem dortigen Studio, und sie sollen auch in B. aufgetreten sein. Ein Mitglied des Hacker-Clubs von Karl soll ein solches Konzert gesehen haben und sich auch mit Sänger und Bandkopf Adi Newton unterhalten haben.
Im Internet habe ich nachgelesen, daß das erste elektronische Instrument das "Theremin" war, das nach seinem Erfinder Leon Theremin benannt wurde, der aber eigentlich Leon Termen hieß. Das Theremin soll bereits vor 1920 entstanden sein und Heultöne von sich geben, die in Horror- und Science-Fiction-Filmen verwendet wurden.
Ted hat sich in einen feschen Herrn verguckt, der ihm bereits einige Male in der Disco begegnet ist und sich neben ihn gestellt hat, obwohl wenig los war. Ted hat sich noch nicht getraut, den Fremden anzusprechen. Im Internet hat er sein Profil in einer Szene-Kontaktbörse gefunden. Er heißt Cary, macht Karate und läßt sich gern in ehemaligen Fabrikhallen fotografieren. Seine sexuelle Präferenz hat Cary in seinem Profil nicht genannt.
Ted legte sich das Pseudonym "Ted von den Sternen" zu und verabredete sich mit Cary. Bald werden sich die zwei wieder begegnen. Vielleicht beginnen sie dann endlich eine Unterhaltung.
Hendrik erzählte, daß er durch Freunde eine Russin namens Aglaia kennengelernt hat, die dort zu Besuch war. Weil Aglaia bisher noch in ihrer Heimat wohnt, kann Hendrik sie nur selten sehen. Das erschwert das nähere Kennenlernen. Wenn Aglaia sich entscheiden würde, nach Deutschland zu ziehen, erhielte sie nur dann eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, wenn sie Hendrik heiraten würde. Das erhöht den Entscheidungsdruck. Sicher sind schon viele Ehen auf diese Weise entstanden und sicher viele davon wieder zerbrochen, weil man sich vorher nicht gut genug kannte.
Im letzten Winter ist Hendrik ein junger Kater zugelaufen, den er "SARS" getauft hat. Katzen sollen auf solche kurzen Namen besonders gut hören.
Im Nachtdienst erzählten Marie-Julia und eine ihrer Kolleginnen, daß Wilrun von Landau in ihrer Abteilung nicht nur einzelne Opfer sucht, sondern allgemein das Klima vergiftet. Wenn sie die Station betritt, wo Marie-Julia arbeitet, soll mit ihr ein Eishauch hereingeweht kommen, der jede fröhliche Stimmung erstickt.
Einmal habe die hübsche blondierte Daisy als diensthabende Ärztin am Kaffeetisch gesessen, und Wilrun von Landau habe vorn im Stationszimmer gesessen. Marie-Julia beobachtete, wie Wilrun von Landau einen immer verzückteren Gesichtsausdruck bekam; sie schien sich in Daisy verliebt zu haben. Es sei gespenstisch, wenn ein Mensch wie Wilrun von Landau zärtliche Gefühle entwickelte.
In Carls WG hat sich die Besetzung geändert. Carls langjähriger Mitbewohner Soran ist mit seinem Freund Ghismo zusammengezogen, und Carl hat einen neuen Mitbewohner, der ein Taugenichts zu sein scheint. Soran hat seinen Kater Nathaniel mitgenommen, was diesem nicht gut bekommen ist. Nathaniel hatte bislang nur einen Innenhof als Freilandrevier zur Verfügung und war auf die Gefahren des Straßenverkehrs nicht vorbereitet. Er wurde nach kurzer Zeit von einem Auto angefahren. Diesen Unfall hat er überlebt, hinkt aber seitdem. Soran wird das Tier nur noch angeleint nach draußen lassen.
Rikka hat erzählt, daß sie froh ist, von ihrem Freund Odu getrennt zu sein. Er habe keines seiner Versprechen gehalten, und er habe sich als mißlaunig, aggressiv und streitsüchtig entpuppt. Er soll sogar einen von Rikkas Tellern zerschlagen haben und einen Stuhl nach ihr geworfen haben. Rikkas Wellensittiche und Rikkas Calibra kann er nicht leiden, und dies beides ist es, woran Rikkas Herz besonders hängt.
"Das war echt der Schlimmste von allen", findet Rikka. "Es ist besser, keinen Freund zu haben, als so einen."
Sie führt ein Online-Tagebuch und hat darin berichtet, daß sie in den "Frustclub Depressive Zellen" eingetreten ist, ein Online-Forum für Frustrierte, die am Leben verzweifeln und sich durch gemeinsames Jammern gegenseitig wieder aufrichten. Dieses Jammern wird voller Selbstironie praktiziert und geht unweigerlich in Frohsinn über. Den Ausdruck "Jammern" mag man im "Frustclub" eigentlich gar nicht, weil das positive Wort "ja" darin vorkommt. Es wird vorgeschlagen, statt "Jammern" lieber "Neinmern" zu sagen. Symbol des "Frustclub" ist eine beständig regnende Wolke. Es gibt Gymnastik für Durchhänger, ein Spiel, bei dem man nur verlieren kann, und ein Horoskop, das ausschließlich Katastrophen ankündigt. Diesen konstruktiven Umgang mit destruktiven Gefühlen betrachte ich als Musterbeispiel dafür, wie man sich selbst - und sich gegenseitig - aus dem Abgrund helfen kann, indem man die Wirklichkeit nicht beschönigt und Probleme verleugnet, sondern comichaft die Schattenseiten des Lebens überzeichnet.
"Wenn ich darüber lachen kann, ist ein Teil des Problems gelöst", dieses Lebensmotto von mir paßt auch zum "Frustclub". Wenn ich über etwas lachen kann, gewinne ich Distanz dazu. Aus der Distanz lassen sich Probleme realistischer beurteilen und relativieren, indem man durch den besseren Überblick Vergleiche anstellen kann und Lösungsmodelle entwickeln kann.
Die aktuelle MCD von Das P. ist in den DAC-Charts mittlerweile auf Platz 11 gestiegen. Auf der Band-Homepage ist zu lesen:

Das hätte wohl niemand erwartet!!!

Außerdem teilt Das P. mit, daß die MCD in der Rezension eines Online-Magazins die beste Bewertung bekommen hat.
Im Internet gibt es Fotos von der C64-Party zu sehen, die Rafa Ende Mai gemeinsam mit seiner Freundin besucht hat. Sie war anscheinend das einzige weibliche Wesen unter den etwa zwanzig Gästen. Auf mehreren Fotos sieht man sie auf den Schultern eines Gasts, umringt von anderen Gästen. Sie befestigt ein Schild mit der Aufschrift "Spielwiese" an einem Pfahl und lacht dabei. Auf anderem Bildern sieht man sie umringt von Gästen in einer Terrassentür sitzen. Sie scheint es zu genießen, von den Jungen gemocht und umschwärmt zu werden.
Rafa sieht man auf mehreren Bildern über Tastaturen gebeugt, auch über die Tastatur eines Kindercomputers. Man sieht ihn im Gespräch mit einzelnen Gästen. Einmal nimmt er sich Pizza von einem großen Blech. Auf den Bildern, die ihn gemeinsam mit seiner Freundin zeigen, sitzt er meistens an einem Rechner, und die Freundin sitzt dicht neben ihm und schaut ihm andächtig zu. Einmal steht er auch in der Nähe seiner Freundin und redet mit ihr, und sie lächelt ergeben. Die Bilder, auf denen Rafa mit seiner Freundin zu sehen ist, wirken nicht posiert, sondern wie echte Schnappschüsse. Zwischen Rafa und Berenice scheint nach wie vor ein routiniertes, eingespieltes Miteinander mit fester Rollenverteilung zu herrschen, das auf Dauer angelegt ist.
Darien mailte Anfang Juni:

Die letzten Wochen fühle ich mich äußerst bescheiden, so dass ich ernsthaft in Erwägung gezogen habe, die "Stahlwerk"-Parties künftig zu lassen, weil mir die Kraft fehlt. Gleiches Problem beim Fotografieren und natürlich bei allen anderen alltäglichen Dingen. Nun - Dir brauche ich das sicherlich nicht erzählen (Neurologie - Dariens Wohnzimmer).

Ich antwortete:

Das wär ja schade, wenn ihr nie mehr zu "Stahlwerk" kommen würdet. Natürlich kann man Gesundheit nicht herbeizaubern.
Was macht dir denn z. Zt. besonders zu schaffen? Bist du einfach ganz allgemein nicht belastbar?
Es wär schön, euch mal wieder alle beide bei Stahlklang zu treffen. Beim nächsten Mal - dem 03.07. - sollen übrigens Derek alias Missratener Sohn und außerdem Xotox und Soman auftreten.

Darien mailte:

Es muss wohl an den Lautsprechern gelegen haben *?* oder so - nein, ich habe ziemliche Probleme mit der Fatigue, die zudem noch nicht einmal von meinem Neurologen ernst genommen wurde. Bin heute mal allein, die Kids und Dera sind unterwegs, etwas Raum zum Denken, Musik hören ... eigentlich hängt mein ganzes Herzblut an "Stahlwerk", und es sollte nichts geben, was einen aufhalten kann, die nächsten 100 "Stahlwerke" durchzutanzen. Es geht halt irgendwie weiter, so ist das wohl im Leben *G* ... Erstmal tschüssy (cu 03.07.) Darien

Shara zeigte sich in einer E-Mail besorgt wegen seines langjährigen Musiker-Kollegen Marlow, der an Schizophrenie leidet und nach einem Selbstmordversuch im Rollstuhl sitzt. Shara schrieb:

Eigentlich bräuchte ich mal Deinen kompetenten Rat wegen dem Marlow in B. Er hat eigenmächtig alle Medikamente nach 8 Jahren abgesetzt. Leider kifft er zentnerweise und säuft Kaffee, wie Du es Dir nicht vorstellen kannst. Außerdem hat er (einmalig?) auch Pilze gefressen (ich meine jetzt natürlich keine Champignons).
Gestern rief er mich mal an und klang erstaunlich klar.
Hm.

Ich antwortete:

Wenn Marlow alle Medikamente abgesetzt hat und stattdessen kifft und Drogen konsumiert, so tut er genau das, was viele andere Menschen mit psychischen Erkrankungen auch tun und was ihre Lebenserwartung verkürzt und die Entwicklung eines Residualsyndroms (psychosoziale Behinderung, Demenzentwicklung) beschleunigt. In der Psychiatrie kommt diese Problematik sehr häufig vor, und diese Leute sind in der Regel unsere "Stammkunden". Wenn die Demenz weit genug fortgeschritten ist, kriegen die Patienten eine juristische Betreuung und, wenn alles klappt, einen Heimplatz; gegen den Willen der Patienten ist Letzteres nur möglich, wenn diese weit genug verwahrlost und heruntergekommen oder aber chronisch verwirrt oder suizidal sind, so daß man von einer dauernden Eigengefährdung ausgehen muß. Wenn du dir Sorgen machst wegen Marlow, solltest du versuchen, den für seinen Wohnbezirk zuständigen Sozialpsychiatrischen Dienst telefonisch zu erreichen. Der gehört zum Gesundheitsamt. Der Sozialpsychiatrische Dienst hat die Pflicht, deine Besorgnis ernst zu nehmen, und muß den Betreffenden zu Hause aufsuchen und sich ein Bild von dessen Lebensverhältnissen machen. Du solltest den Sozialpsychiatrischen Dienst darauf hinweisen, daß Marlow im Rahmen seiner Psychose schon einen beinahe geglückten Suizidversuch hinter sich hat und daß ohne Medikamente ein neuer droht.
Auch Psychotiker können ihre klaren Momente haben; daß Marlow sich am Telefon klar anhörte, hat also nicht viel zu sagen. Klar ist jedenfalls, daß er keine Behandlungseinsicht hat und keine ausreichende Krankheitseinsicht.

Shara mailte:

Zu Marlow ... ich bin schon voll informiert, wo ich mich melden muß, nur bin ich nicht durchgekommen, und zeitlich ist das auch schwierig, wenn ich dann Zeit habe, sind die Büros schon zu. Habe mich aber schon quer durch B. gehangelt und habe die Leute zumindest auf dem Papier stehen. Man muß mal schauen, ob die sich überhaupt drum kümmern, und nicht etwa die Betreuer locker mitkiffen in Realität. Ich habe ja mal einen der Putzservice-Leute getroffen, weia!
Nun ja.

Über die neuen Bilder in meinem Online-Fotoalbum schrieb Shara:

Hey, auf einigen Fotos siehst Du richtig süß aus ;-) Paßt gar nicht zu Deinem sonst gerne entrückt und kühl rübergebrachten Image ...
Die Bilder aus Neuf-Brisach sind sehr cool geworden. Und das eine aus Colmar hat was ... so Kanalisation-mäßiges. Fehlen nur noch tote Ratten, die auf dem Wasser umherschwimmen.

In der Freitagnacht war ich im "Reentry", wo im Backstage Delan auflegte. Cyra war nur als "normaler Gast" anwesend. Sie freut sich auf die "Stahlwerk"-Veranstaltung im Juli, wo Derek als Missratener Sohn mit Xotox und Soman auftritt, zwei hochkarätigen, schon recht bekannten Industrial-Acts.
Cyra berichtete, Dirk I. und Mark V. seien bereit, noch öfter als "Klinik" aufzutreten, aber nur im Rahmen großer Festivals und wenn sie genügend daran verdienen. Beim diesjährigen Pfingstfestival in L. haben sie auch gespielt; es soll sehr gut gewesen sein.
Georgiana war erstaunt, als ich ihr von der seltsamen Entwicklung meiner Beziehung zu Rafa erzählte, den ich ja nun seit mehr als elf Jahren kenne. So eine Geschichte habe sie bislang noch nicht gehört. Sie findet, Rafa verhält sich unlogisch und inkonsequent.
Gegen drei Uhr früh kam ich ins "Mute". Es leerte sich langsam. Andras saß in einer Sitzecke, neben sich ein hübsches, zierliches Mädchen mit langen Haaren, dessen Aussehen mich ein wenig an Beatrice erinnerte. Andras und das Mädchen trugen schwarze Lederarmbänder mit einem Ring daran, und Andras war damit beschäftigt, sich und das Mädchen an diesen Ringen mit einer langen Kette zu verknüpfen. Währenddessen unterhielt sich das Mädchen mit einigen anderen Leuten, die in der Nähe standen oder saßen.
Die "Ketten-Nummer" finde ich weniger theatralisch und weniger albern als das Aneinanderfesseln mit Handschellen. Die Kette gibt mehr Bewegungsfreiheit, und jeder kann sie mit Hilfe eines einfachen Verschlusses befestigen und lösen, während man bei Handschellen auf einen Schlüssel angewiesen ist.
"Du hast eine neue Blume?" fragte ich Andras.
"Ich habe ein Bäumchen gepflanzt", erzählte er, "und ich hoffe, daß daraus ein Mammutbaum wird."
"Dann wünsche ich dir viel Glück."
Edaín war ans DJ-Pult gegangen. Wie Evelyn berichtete, hatte Edaín vorher nebenan im "Maximum Volume" klassische Electronic Body Music gespielt, und das sei ein gutes Programm gewesen. Jetzt führte sie das Synthi-Pop- und NDW-Programm von Kappa fort. Ein Lichtblick war für mich "Straßen" von ascii.disko. Am Schluß, brachte Edaín noch zwei Highlights, "Heartland" von den Sisters of Mercy und "Ihr redet und atmet" von Shnarph!. Zu "Ihr redet und atmet" füllte sich die Tanzfläche.
"Dieses Stück ist für Elektro-Betty", erklärte Edaín durchs Mikrophon.
Für mich war es etwas Neues, im "Mute" auch einmal zu Industrial tanzen zu können.
Als die Musik aus und die Party vorbei war, sagte Edaín, daß "Ihr redet und atmet" wirklich ein besonders tolles Stück sei. Ich bestätigte das. Außerdem erzählte ich, daß ich endlich "Schindlers Liste" gesehen habe und von dem Film sehr beeindruckt bin. Edaín hat vor allem die Szene beeindruckt, wo man ein Mädchen im roten Mantel inmitten einer grauen, trostlosen, bedrohlichen Welt sieht. Ich erzählte, daß ich vor allem die Szene vor Augen habe, in der sich Schindler von seinem Prokuristen Stern verabschiedet.
Am Samstagabend deckten Carl und ich den Geburtstagstisch für Constri. Denise läuft inzwischen lieber, anstatt zu krabbeln. Sie marschierte durch die Wohnung, und immer mußte man hinter ihr her sein. Derek hatte sie viel auf dem Arm, damit Constri sein CD-Cover fertigstellen konnte. Das hatte sie nämlich lange vor sich hergeschoben, und jetzt wurde es eilig. Rufus und Geneviève waren da und nahmen das Cover mit nach HB., als es endlich fertig war. Es wird Dereks Album "Sonar Killer" zieren.

In einem Traum sah ich mehrere Leute auf einer Wiese. Sie staunten über einen schwebenden Roboter, der auf sie zukam. Dieser Roboter maß etwa einen Meter in der Höhe und hatte ungefähr die Form einer Hummel. Er schwebte in Kniehöhe über dem Boden und bewegte sich langsam vorwärts. Sein Aussehen erinnerte an Comicfiguren; er hatte kreisrunde, starre Augen und einen leuchtendbunten Rumpf, dem die Gliedmaßen fehlten. Seltsam mutete hierzu das bleiche, kränklich wirkende Gesicht an, dessen Haut etwas Menschenähnliches hatte. Die nur angedeuteten Haare trugen verschiedene Brauntöne.
Bei diesem auf den ersten Blick harmlos und sogar hilfsbedürftig erscheinenden Roboter lauerte die Gefahr im Verborgenen. Aus den Augen konnten Projektile abgefeuert werden, und dort, wo man Haare vermutete hätte, befanden sich scheibenförmige, mit rasender Geschwindigkeit rotierende Messer. Wer dem niedlich aussehenden Roboter über den Kopf gestrichen hätte, dem wären Hand und Arm zerrissen worden. Wer ihm in die Augen blickte, dem drohte Lebensgefahr.

"Das ist gut, daß ich mir dieses Monster nicht ausgedacht habe", seufzte ich im Aufwachen.
Dann fiel mir ein, daß ich es mir eben doch ausgedacht habe. Die Schreckensgestalt bestürzte mich vor allem deshalb so sehr, weil sie eine verstörende Mischung aus gefühlloser Bösartigkeit und kränklicher Hilflosigkeit darstellte. Das Monster war ein Sinnbild für die Tragik jener Gestalten, die zu einem Werkzeug des Bösen wurden und gleichzeitig ohnmächtig ihrem Schicksal ausgeliefert sind.
Am Freitag war ich im "Read Only Memory", wo das diesjährige Sommerfestival begann, das das ganze Wochenende dauern sollte. Edaín erzählte, daß sie gemeinsam mit ihrer Mutter Waffelteig angerührt hatte. Die Waffeln sollte es am morgigen Tag auf dem Festival geben. Das Rezept hatte Edaín aus einem Kochbuch von 1962. Die Waffeln sollten schmecken "wie bei Muttern".
Cennet, Len und ich tranken Kaffee und fuhren gegen Mitternacht zum "Entropy" nach BI., wo Les auflegte. Besonders gefiel mir, daß er "Plug and play" von Derek alias Missratener Sohn spielte.
Auf der Rückfahrt frühstückten wir in einer Autobahnraststätte. Len wußte allerlei schräge Geschichten zu erzählen. Bei der Bundeswehr soll es ein Spiel geben namens "Schildkröten-Rutschen". Man stützt Ellenbogen und Knie auf insgesamt vier Helme, und so geht es Abhänge hinunter. Einer soll das Spiel etwas variiert haben und auf einem aufgeklappten Samsonite-Koffer eine Treppe hinuntergerutscht sein. Er soll rasch an Fahrt gewonnen haben. Nach anfänglichem "bum ... bum ... bum ..." soll ein lautes "Bum! Bum!" gefolgt sein. Dann war Stille. Der "Kofferfahrer" soll durch zwei Türen gebrochen sein und mit Kopfverletzungen dagelegen haben. Er soll nur die Worte "Ganz Kranz" von sich gegeben haben. Von da an hatte er den Spitznamen "Ganz Kranz".
Ein Unteroffizier soll eine Palette Handgranaten mitgenommen haben und die bei Gelegenheit nach Lust und Laune in die Botanik geworfen haben. Einer soll eine Panzerfaust mitgenommen haben und die bei sich zu Hause eingemauert haben.
Ein "Spezl" - das ist Lens Bezeichnung für "Kerl" oder "Typ" - soll stolz erzählt haben, er habe sich kürzlich ein Häuschen gekauft. Im übrigen müsse er bald ins Gefängnis. Er sei nämlich kurz nach der Währungsunion in den Osten gereist und habe eine Bank überfallen, da er davon ausgegangen sei, daß dort die Sicherungssysteme noch nicht funktionstüchtig seien. Er habe keine Waffe gehabt, sondern einen Finger von innen gegen den Mantel gehalten, damit man glaube, er habe einen Revolver unterm Mantel. Er habe Geld mitgenommen und sei draußen einem Polizisten begegnet, der ihn sogleich mit der Dienstwaffe niedergestreckt habe. Danach soll der Polizist gesagt haben, einen Krankenwagen brauche man eigentlich nicht, der Verletzte würde sowieso nicht überleben. Er überlebte aber und zeigte seinen Kumpels das verheilte Einschussloch. Die Verletzung sei der Grund für die bisherige Haftverschonung gewesen. Schon vor dem Banküberfall soll der "Spezl" zwielichtige Geschäfte gemacht haben, nämlich als Autoschieber.
Am Samstagabend war ich wieder im "Read Only Memory". Zwei Konzerte auf der Open-Air-Bühne gefielen mir besonders, Das Ich und Deine Lakaien. Bruno Kramm von Das Ich hatte sich das Kopfhaar zum Teil weggeschoren, so daß auf kahlem Schädel zwei Teufelshörner aus pinkfarbenen Haaren aufragten. Stefan Ackermann hatte sich den Oberkörper gänzlich rot angemalt und trug dazu eine enge rote Hose.
Weil Bruno schon vor etlichen Jahren mit Sten befreundet war und ich Bruno äußerlich eher erkenne als Sten, fragte ich ihn, ob er auch heute noch Kontakt zu Sten habe.
"Der ist da drüben an unserem Stand", gab Bruno Auskunft.
Und wirklich begegnete Sten mir dort und begrüßte mich mit einem freundlichen:
"Elektro-Betty!"
Ich erzählte ihm, daß mir im letzten Sommer erst nach unserer Begegnung im "Zone" wieder einfiel, wer er gewesen sein mußte.
Sten arbeitet mittlerweile in H. als Kameraassistent und dreht ansonsten Filme, vor allem Musikvideos. Wie sich herausstellte, hat er für Rafa die Videos zu "Super 8" und "1000 weiße Lilien" und für Das P. das Video zu der aktuellen MCD "Tanz' mit Deinem Gefühl!" gedreht.
"Mein Friseur Mauro kennt dich", erzählte ich. "Durch ihn habe ich ein bißchen was über dich gehört. Ich hätte nie gedacht, daß ausgerechnet du das bist. Ich kannte dich ja nur als ES oder Xrossive. Die Videos sind ziemlich gut gemacht, ziemlich professionell."
Da es im Fernsehen keine Independent-Musiksendung mehr gibt, kann das Video zu "Tanz' mit Deinem Gefühl!" nicht im Fernsehen laufen ... es sei denn, eines Tages gibt es eine Nachfolge-Sendung.
Edaín und ihre Mutter backten in einer Mittelalter-Hütte Waffeln. Drei davon aß ich zum Abendbrot. Es gab Kaffee dazu. Edaín meinte, weil ich die Waffeln so lecker fand, würde ich wohl ein gutes Haar an ihr lassen, wenn ich über das Festival berichtete.
"Wenn man bedenkt, was aus diesem Festival geworden ist", freute sich Edaín. "Beim ersten Mal waren hier W.E als Headliner. Und jetzt haben wir Deine Lakaien als Headliner ... Ich bin gespannt, wie es weitergeht."
Den Preis für das schrillste Festivalkostüm verdiente am ehesten ein Pärchen, bestehend aus zwei gut gebauten Herren, der eine gänzlich im engen schwarzen Latexanzug steckend - vom Scheitel bis zu den Füßen, mit kleinen Löchern im Bereich von Augen und Nase, also fast blind. Der andere trug Weiß und auf dem Kopf eine schwarze Tauchermaske.
Cyra erzählte, als Klinik in L. aufgetreten seien, habe Hal sich die Seele aus dem Leib getanzt. Sie traf Hal am Donnerstag und am Freitag vor Pfingsten in L. und wollte am morgigen Sonntag zu ihm nach HH., um dort mit einigen Bekannten für ihn eine Überraschungsparty zu geben. Als Cyra in L. auflegte, gesellte sich Dirk I. am DJ-Pult zu ihr und lobte ihre Künste als DJ. Sie möchte im Herbst gemeinsam mit Dirk I. in HI. auflegen.
Edaín und Cyra umarmten sich zur Begrüßung. Ich finde die beiden seltsam gegensätzlich und zugleich ähnlich. Beide sind DJ's und Veranstalterinnen und mögen klassische Elektronik, den Reitsport und die Kleiderfarbe Schwarz. Edaín betont ihre Verbundenheit und ihre Zusammenarbeit mit Kappa, während Cyra als Einzelperson in Erscheinung tritt, auch wenn sie einen Freund hat. Für Edaín sind Ehe und Familie sehr wichtig, Cyra will nicht heiraten, höchstens "vielleicht im nächsten Leben".
Deine Lakaien traten nur mit Mikrophon und Flügel auf, was mir sehr gefällt. Ernst Horn versank in seinem Klavier-Freistil-Drama bei "Mirror Man", wo er mit einer Hand auf den Tasten spielte und mit einem Stöckchen an den Saiten zupfte.
"Das ist Kunst", sagte ich begeistert zu Yori. "So haben die das schon 1992 geboten in der 'Halle'."
"1992 war ich zwölf", erzählte Yori.
"Dann bist du Jahrgang 1980", folgerte ich. "Ich bin Jahrgang 1966."
Yori musterte mich prüfend und meinte, das hätte sie nicht gedacht.
Wie Yori geht es vielen; Tami hatte mich beispielsweise auf fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig geschätzt. Für mich ist das nicht nur aus Gründen der Eitelkeit wichtig. Länger jung zu bleiben bedeutet für mich auch, mehr Zeit zu haben, um die Aufgaben zu bewältigen, die ich mir gestellt habe. Und die Bewältigung dieser Aufgaben ist mit einem ungeheuren Zeitaufwand verbunden. Vierzehn Jahre hat es allein gedauert, Rafa zu finden. Und um mir den unwahrscheinlichsten, zugleich innigsten Wunsch zu erfüllen, mit Rafa Kinder zu haben, müßte ich sicher noch wesentlich mehr Zeit zur Verfügung haben.
Falls es mir gelingen sollte, noch in diesem Leben mit Rafa zusammenzukommen, wäre die Zeit, die wir gemeinsam verbringen könnten, in jedem Fall kurz; das liegt an Rafas geringer Lebenserwartung. In anbetracht seines Risikoprofils bleiben ihm noch etwa zwanzig Jahre. Sollten wir jemals Kinder haben, wird er sie nicht mehr aufwachsen sehen.
Am späteren Abend war ich auf Constris Geburtstagsfeier. Von Clarice bekam Constri eine Geburtstagstorte mit acht Marzipanschnecken darauf. Elaine zeigte mir ihre beiden Tagebücher, eines in rosa Plüsch gebunden, blütenförmig und mit Schloß. Das andere ist ein Chefkalender vom letzten Jahr. Elaine hatte Barbies dabei, und auch Denise hat schon ihre eigenen Barbies, wenngleich sie diese eher durch die Gegend schleudert, als Handlungsfolgen damit zu inszenieren.
Nachts war ich auf Ferrys Geburtstagsfeier. Einer der Gäste konnte Ergänzungen zu den Bundeswehrgeschichten liefern, die ich von Len gehört hatte. "Schildkröten-Rutschen" sei verboten. Und Handgranaten gebe es bei der Bundeswehr kaum noch, man verwende teilweise Coladosen als Übungsattrappen. Auch sonst werde gespart. Für eine Übung erhalte jeder Soldat drei Schuß Übungsmunition, die fast sofort verschossen seien. Danach hätten die Soldaten die Anweisung, nur so zu tun, als würden sie schießen, und dazu "Peng peng!" zu rufen, wie die Jungs auf dem Schulhof.
"Absurdes Theater", meinte ich.
Morgens um viertel vor drei kam ich in den "Radiostern", wo Cyra und Linux viel Industrial auflegten. Als die Veranstaltung gegen halb fünf vorbei war, gingen einige von denen, die "übriggeblieben" waren, noch zu "McGlutamat", insgesamt etwa fünfzehn Leute. Timon überredete mich zum Mitkommen, und als ich Cyra davon erzählte, kam sie ebenfalls mit. Für mich war das Frühstück hilfreich, denn durch gekühlten Milchkaffee mit Espresso-Zusatz und frischen Salat wurde ich für die Heimfahrt wacher, außerdem wurde es währenddessen hell, was auch eine Hilfe ist beim Wachbleiben. Cyra erzählte, wie gerne sie Depeche Mode gesehen hätte, als sie 1987 auf ihrer "101"-Tour waren. Die Eltern erlaubten es ihr nicht, so sehr sie auch bettelte, denn sie war damals erst vierzehn. Da hatten Constri und ich mehr Glück. Constri und ich durften 1979 die damals verehrten ABBA live sehen, obwohl wir erst zwölf und dreizehn Jahre alt waren. Unsere Mutter kam einfach mit ins Konzert.
Cyra hat Depeche Mode inzwischen mehrfach live gesehen, und sie hat sich die Ziffernfolge "101" ins Nummernschild stellen lassen.



Am Sonntagbend war ich wieder im "Read Only Memory" beim Sommerfestival. Ich aß zwei Waffeln zum Abendbrot und trank Kaffee. Edaín erzählte, Legos Industrial-Party in der vergangenen Nacht sei phantastisch gewesen. Ich meinte, ich wäre sicher dorthin gegangen, wenn nicht zeitgleich Cyra im "Radiostern" aufgelegt hätte.
Kappa berichtete, Rafa sei schon da; ich konnte ihn aber nirgends entdecken. Dolf und Kitty sah ich, die hatte ich auch schon am Vortag gesehen. Kitty trug prächtige lila Kunstzöpfe. Berenice war nicht im "Read Only Memory".
Ab und zu schien die Sonne, dann war es recht warm, sonst eher kühl. Draußen trug ich die straßbesetzte Sonnenbrille in Stil der fünfziger Jahre, eine der wenigen, die mir steht. Ich hatte einen langen bauschigen silbrigen Rock mit mehren Raffungen an, den ich in letzter Zeit häufig zum Ausgehen trage, weil er ausgefallen, elegant und bequem zugleich ist. Dazu hatte ich das hochgeschlossene, durchsichtige, silbrige Oberteil an und lange schwarze Handschuhe. Um den Hals trug ich eine Straßkette und im Haar Straßspiralen. An einem Stand kaufte ich ein Halsband aus schwarzem Plastik, das Stacheldraht imitiert. Es wurde mir gleich umgelegt.
Edaín hatte ihre Haare hochgesteckt und trug schlichte schwarze Kleidung. Ihre Mutter hatte gemeint, sie solle doch passend zum Festival etwas Prächtigeres anziehen. Edaín wollte aber zum Waffelbacken etwas Praktisches anhaben.
Tamina ist immer noch glücklich mit Hagan. Sie hat ihren ehemaligen Freund, den Frauenhelden Sasch, schon seit Jahren nicht mehr gesehen, und sie vermißt ihn auch nicht.
Als ich auf der Wiese im Sonnenschein bei den Holztischen und den Bänken stand und mich mit Claudius und Isis unterhielt, gingen Kappa und Rafa dicht an uns vorbei. Flüchtig strich ich über Rafas Arm und bemerkte:
"Der Rock ist wirklich süß."
Rafa trug ein enges langärmeliges T-Shirt aus Synthetik-Material, mit einem blaugrauen Muster im Batik-Stil, aber zeilenförmig, nicht in Rundformen. Dazu hatte er einen langen Rock aus schwerem schwarzem Baumwollstoff an, im Wickeloptik, mit langem Schlitz.
Rafa schien keineswegs in der Laune zu sein, sich Komplimente machen zu lassen. Er schnappte meinen Arm, als ich im Weitergehen war, und schimpfte, er habe da sowas gehört von einer Frau Hetty:
"Daß Sie da so eine Homepage im Internet haben, wo Sie lauter private Sachen über mich erzählen. Was haben Sie dazu zu sagen, he?"
Weil ich auf einen solchen Tonfall nichts zu erwidern habe, sagte ich erst einmal nichts.
"Warum sagst du nichts?" fragt Rafa herrisch. "Bist du betrunken?"
"Ich bin nicht betrunken."
"Also, da stehen private Sachen über mich im Internet, und die verschwinden da sofort, sonst ..."
Ich sehe die Zigarette in seiner Linken.
"Wann hörst du auf zu rauchen?" frage ich.
"He, was soll das denn?" schnappt Rafa. "Bist du betrunken?"
Er scheint vergessen zu haben, wie sehr mich sein exzessiver Zigarettenkonsum stört, weil er sein Leben mehr und mehr verkürzt.
"Ich bin nicht betrunken", wiederhole ich. "Und ich würde dir das gerne in Ruhe erklären."
"Eigentlich darf er nicht mit mir reden, weil er nach wie vor eine Freundin hat", denke ich, "aber in diesem besonderen Fall hat Rafa aktuellen Klärungsbedarf, und er soll letztlich ja motiviert werden, an der Geschichte 'Im Netz' mitzuarbeiten."
Rafa sieht sich als Betrogener, als edler Mensch, dem übel mitgespielt wurde - ohne freilich an seine eigenen üblen Spiele zu denken:
"Ist das jetzt der Dank dafür, daß ich für eine gewisse Frau Hetty den Rucksack mit ins 'Nachtlicht' genommen habe? Ist das der Dank dafür, daß ich einem gewissen Sockenschuß was aufs Maul gehauen habe?"
"Ich würde dir das gerne in Ruhe erklären."
"Da stehen private Details drin, auf die werde ich andauernd von irgendwelchen Leuten angesprochen, die mehr über mich wissen, als ich selber weiß", spult Rafa atemlos herunter. "Da höre ich von Leuten, Hetty hat da so eine Homepage, du kommst auch drin vor, und dann sehe ich da lauter privateste Details über meine Familie, ich denke, ich glaub's nicht. Ich denke, sowas von Hetty, kann eigentlich nicht sein. Das ist ja sonst ganz witzig, auch mal was zum Lachen und so, aber meine Familie geht niemanden etwas an. Schön, das sind veränderte Namen, aber man kann trotzdem erkennen, um wen es sich handelt."
"Ich würde dir das gerne in Ruhe erklären."
"Welchen anderen Grund kann jemand haben, der sowas macht, als das Ziel, mich bloßzustellen und fertigzumachen? Ich kann mir beim besten Willen keinen anderen Grund vorstellen."
"Ich will dich nicht fertigmachen, ganz bestimmt nicht."
"Genau das tust du", wütet Rafa mit tränenerstickter Stimme. "Du hast meine Seele verletzt. Welch einen Haß muß jemand haben, der sowas macht ..."
Wieviele Seelen Rafa in seinem Leben schon verletzt hat, scheint ihn nicht zu kümmern.
"Ich hasse dich nicht, ich liebe dich", versichere ich, im Bewußtsein dessen, daß Rafa mir meine Liebe niemals geglaubt hat. "Aber das kannst du dir wahrscheinlich nicht vorstellen."
"Das mit meinem Vater wußte echt keiner, und jetzt erzählen es alle. Das hat man davon, wenn man sich sowas mal von der Seele redet. Mein Vater ist mir heilig. Meine Familie ist mir heilig."
"Das weiß ich."
"Ach, das weißt du auch noch? Und machst das trotzdem? Ich dachte, du sagst, o.k., ich wußte es nicht, ich nehm' das 'raus, ist schon in Ordnung. Aber du machst das absichtlich? Du nimmst das sofort 'raus, ohne Kommentar, versteh'n wir uns, ist das o.k.?"
"Ich bin Künstlerin", bleibe ich unbeirrt. "Ich schreibe über das, was mich bewegt."
"Was dich bewegt. Und was mich bewegt, ist wohl nicht wichtig. Du gehst nur von dir aus."
Mir fällt ein, daß Rafa die Bedürfnisse anderer Menschen reichlich unwichtig sind und daß er seine Entscheidungen hauptsächlich von seinen eigenen Wünschen und Launen abhängig macht, mit seltenen Ausnahmen.
"Ich will dich nicht fertigmachen", betone ich.
Mir geht es nicht darum, Rafa zu schaden, sondern darum, ihm einen Weg zu weisen, in Beziehung zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen zu treten, anstatt sich vor eigenen und fremden Gefühlen zu verschließen. Und ich will ihm vermitteln, daß ich wahrhaftige Gefühle für ihn habe, obwohl er sie mir weder dankt noch lohnt, im Gegenteil.
Leider kann ich Rafa nichts von alledem sagen, denn er will mir nicht zuhören; er schimpft nur, laut und anklagend.
"Das Zeug hat im Internet nichts zu suchen", faucht Rafa. "Und das Internet ist auch keine Plattform, um dich mit mir zu unterhalten. Wir versteh'n uns, du nimmst das sofort 'raus, o.k.?"
"Ich möchte dir das gerne in Ruhe erklären."
"Das will ich aber gar nicht erklärt haben!"
"Mir ist aber wichtig, dir das zu erklären."
"Ich will es aber gar nicht wissen. Du nimmst das da 'raus, o.k., wir haben uns verstanden."
"Ich möchte dir das gerne in Ruhe erklären. Dann wärst du vielleicht auch damit einverstanden."
"Ach, daß ich damit einverstanden wäre?"
"Ja."
"Neineinein. Du nimmst das da 'raus, o.k., wir haben uns verstanden."
Rafa geht zu dem Gebäude, wo sich die Innenräume des "Read Only Memory" befinden.
"Er betrachtet die Welt als feindselig", sage ich zu Isis. "Er kann sich überhaupt nicht vorstellen, daß ich ihn nicht fertigmachen will, sondern ihn liebe."
"Er lebt in einer anderen Welt", vermutet Isis.
Etwas später gehe ich auch nach drinnen und stehe gerade bei Xentrix vorm DJ-Pult, als Rafa sich nähert. Er schaut mich kurz an, und wir lächeln beide. Im Vorübergehen streiche ich über seinen Arm; er nimmt es hin.
Nach und nach erscheinen die Mitglieder von Das P. vor und auf der Bühne, um diese herzurichten. Sie tragen schon ihre Kostüme, Rafa hat seinen Arztkittel über den langen Rock gezogen. Die Sängerin "Nachtschwester Charlize" trägt einen Arm in einer Schlinge und hat ein Schwestern-Minikleid an.
Dessie hat sich lange Zöpfe geflochten und trägt ein fein gemustertes weißes Sommerkleid. Sie bedient am Merchandize-Stand. Sie erzählt, daß sie schon länger Szene-Fotomodell ist und daß der Model-Job für Lacrimosa, den sie anstrebt, sich auf ein Sideprojekt von Lacrimosa bezieht. Ihr Gesicht sei auf den Fotos freilich nicht zu sehen.
Auf die Bühne werden drei Zylinder aus halbdurchsichtiger Plastikplane gestellt, in der sich zu Konzertbeginn drei Gestalten befinden, effektvoll angestrahlt. Es sind Darius, die Geigerin und der Fiedler. Charlize und Rafa stehen an Keyboards. Nach und nach kommen die verborgenen Gestalten hervor, Darius als Sänger. Rafa singt meistens Background, nur einmal vorne an Darius' Mikrophon, in "Mein Freund, der Baum", einer Coverversion des Klassikers der auf mysteriöse Weise um Leben gekommenen Schlagersängerin Alexandra. Rafa trägt das Stück dramatisch vor, im Stile von Henk. Ich kann mir vorstellen, warum Rafa dieses Stück ausgewählt hat. Bei dem Baum handelt es sich um einen Freund aus der Kindheit, der Geborgenheit schenkte und der nun gestorben ist. Er mußte einem Haus Platz machen.
Bei dem Konzert gibt es auch von mir Beifall. Es gefällt mir, und ich finde es erfrischend, Rafa auf der Bühne zu sehen, ohne daß seine Freundin anwesend ist.
"Besser als W.E", das meinen viele im Publikum. Cennet mag allerdings W.E lieber.
Bei dem Auftritt von Das P. zu Pfingsten in L. soll Darius erschossen worden sein, so war es in Rafas W.E-Forum zu lesen. Diese Szene fehlt heute. Ich hoffe, daß sie nächstes Mal wieder vorkommt.
Gleich nach dem Konzert legt Xentrix "New Gold Dream" von den Simple Minds und "Cold as Ice" von Klinik auf. Ich tanze dazu; schließlich kommt auch Sarolyn auf die Tanzfläche. Dessie wirft mir ein Lächeln herüber. Rafa räumt gemeinsam mit den anderen Bandmitgliedern die Bühne ab. Dann steht er ein Weilchen in der Nähe der Theke und unterhält sich mit Sarolyn.
Später hat mir Sarolyn den Inhalt dieser Unterhaltung erzählt. Es habe sich um Smalltalk gehandelt. Rafa habe bemerkt:
"Dich habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen."
Er fragte sie, wie es ihr gehe:
"Geld, Liebe, alles o.k.?"
Sarolyn bejahte das. Als Dolf sich dazugesellte, meinte Sarolyn:
"Gestern haben wir uns ja auch schon gesehen."
"Kann nicht sein, ich war doch gar nicht da", erwiderte Rafa und wirkte etwas gereizt.
"Das bezog sich auf Dolf", erklärte ihm Sarolyn. "Du mußt nicht immer alles gleich auf dich beziehen."
Sie hatte den Eindruck, daß Rafa leicht etwas auf sich bezieht. Vielleicht paßt das zu Rafas Neigung, sich angegriffen zu fühlen und seine Mitmenschen als feindselig zu erleben. Es könnte mit seiner Selbstunsicherheit zusammenhängen.
Rafa unterhält sich noch mit Kappa, Edaín und anderen Leuten. Sein Gesicht ist mir meistens zugewandt, ohne daß ich aber sicher sein könnte, daß er mich anschaut. Schließlich verschwindet er oben im Backstage und bleibt dort längere Zeit. Weil ich Edaín auch nicht finde, gehe ich davon aus, daß Rafa mit Edaín dort oben ist.
Louis berichtet mir, daß Laetitia ihn verlassen hat. Ich meine dazu, das hätte ich beinahe vorausgesehen; Laetitia wirke nicht sehr zuverlässig auf mich und eher launisch. Louis kann ihre Launenhaftigkeit und Sprunghaftigkeit bestätigen.
An der Theke trinke ich mit Cennet Kaffee. Saverio gesellt sich dazu. Ich zeige Cennet die schrille Umhängetasche von Saverio, ein Plüsch-Schaf, das eine Atemschutzmaske und eine von Saverio selbstgebastelte Schutzbrille trägt. Auf einem der Brillengläser hat Rafa mit "Honey" unterschrieben.
Vor dem Haus stehen Tische, und an einem, gleich neben der Tür, nehmen Kappa, Edaín, Rafa und einige andere Leute Platz. Rafa hat sein Kostüm abgelegt, und man sieht wieder sein Batik-Oberteil und den langen Rock. Rafa trinkt etliche Bier und plaudert lebhaft und gestenreich mit den Leuten am Tisch. Als es dunkel wird, stellt Rafa sich zu Xentrix ans DJ-Pult und legt mit ihm auf. Die Musik besteht vor allem aus Synthi-Pop, Achtziger-Disco und NDW. Isis lugt zu Darius und Rafa hinüber und raunt mir zu, mit den beiden wolle sie sich gern fotografieren lassen. Darius und Dessie räumen einige Sachen von der Bühne und wirken beschäftigt. Ich empfehle Isis, mit Rafa zu beginnen. Sie geht zu ihm und fragt ihn. Sie berichtet mir, er sei einverstanden, wir sollten nur zuerst noch zu "Being boiled" von Human League tanzen. Das tun wir gerne. Danach wirkt Rafa am DJ-Pult sehr beschäftigt und kramt in den CD's herum. Ich lasse mir von Isis die Digitalkamera geben und mache einige Fotos von Rafa und Xentrix am Pult, neben dem auch Isis zu sehen ist. Auf Rafas Bitten holt Isis von der Theke Bier für ihn und für Xentrix
Als "Take on me" von A-ha beginnt, stürmt Rafa auf die Tanzfläche und hüpft dort in seinem Rock herum, daß der Schlitz aufspringt und man die nackten Beine sehen kann. Ich mache eine Serie von Fotos. Leider ist die billige Digitalkamera recht schwerfällig, und der Blitz braucht lange zum Laden. Einige Aufnahmen werden es aber schon. Es scheint Rafa nicht zu stören, daß ich ein Bild nach dem anderen mache.
Als Rafa wieder ans DJ-Pult geht, unterhält Isis sich mit ihm, und ich stehe neben Isis und habe den Eindruck, daß Rafa ziemlich aufgekratzt ist. Isis berichtet mir anschließend, daß er ihr Komplimente gemacht hat. Sie sei so nett, so "kumpelig", mit ihr müsse er unbedingt mal so richtig einen saufen. Isis war erstaunt und meinte, sie habe geglaubt, er möge sie nicht, weil sie vor Jahren mit ihm einen kurzen Disput gehabt habe. Rafa betonte, er finde sie wirklich nett.
"Das kenne ich von ihm", meine ich. "Er sucht den Kontakt zu Leuten, die mit mir Kontakt haben."
Rafa springt hinterm DJ-Pult in die Höhe und vollführt Albereien, in die er auch Xentrix einbindet.
"Der ist wahrscheinlich aufgeregt, weil ich da bin", vermute ich.
Schließlich, auf nochmaliges Bitten von Isis, wirft Rafa sich mit Isis vorm DJ-Pult in Pose, und ich kann die beiden fotografieren. Danach stellt Rafa sich wieder ans DJ-Pult, dicht bei mir. Ich bitte Isis, rasch eine Aufnahme zu machen, damit es endlich einmal ein Bild gibt, auf dem sowohl Rafa als auch ich zu sehen sind. Während Isis darauf wartet, daß der Blitz lädt, nutzt Rafa die Gelegenheit, Xentrix zwischen sich und mich zu positionieren. So kommt es, daß man auf dem Bild uns alle drei sieht und Xentrix zwischen Rafa und mir.
Kappa läßt sich mit mir vorm DJ-Pult fotografieren, Isis geht später auch noch auf Darius zu und läßt sich mit ihm fotografieren.
Als Rafa wieder nach draußen geht, streiche ich im Vorübergehen an seinem Arm entlang. Rafa sitzt lange mit Edaín, Kappa und mehreren Bekannten in der zunehmenden Kälte an dem Holztisch neben dem Eingang. Das Bier scheint Rafa zu wärmen. Xentrix spielt "Ich lieb sie" von Grauzone.
Als Isis nach draußen geht, winkt Rafa sie her und bittet sie, am äußersten Ende des Tisches Platz zu nehmen. Der Junge mit dem Pferdeschwanz, der rechts neben Rafa sitzt, rückt für Isis dichter an Rafa heran. Isis sitzt nun gegenüber von Edaín, und die beiden beginnen ein Gespräch über das Kinderkriegen. Ihre Kinder sind fast gleich alt.
Ich stehe neben Edaín hinter dem Gegenüber von Rafa, einem der Mitveranstalter. Der steht irgendwann auf, und ich setze mich nach einer Weile auf seinen Platz und sitze nun gegenüber von Rafa. Weil es kälter geworden ist, habe ich mir die schwarze Satinschärpe mit Ärmeln übergezogen. Rafa redet schnell und wie automatisch, in einem Stil, den von ihm kenne: Viel reden und dabei viel Wirbel machen, ohne etwas Nennenswertes zu sagen - und möglichst ohne andere zu Wort kommen zu lassen.
Links von Rafa sitzt Kappa. Rafa und Kappa haben gerade das Thema, wer wann auf den Festivals in der "Halle" gespielt hat. Dazu kann ich einige Bandnamen ergänzen und tue das auch. Rafa nimmt meine Hinweise an und baut sie in seine Unterhaltung mit Kappa ein. Rafa äußert den Wunsch, daß noch mehr solche großen Festivals in H. stattfinden. Ich schlage dafür Klinik in der Originalbesetzung vor. Rafa möchte aber lieber Boytronic oder Yazoo. Er meint, Klinik wolle doch "kein Schwein mehr hören". Kappa und ich wissen das besser, haben wir doch von dem Erfolg der Klinik-Reunion in L. gehört.
Als jemand sich nach den nächsten Auftritten von W.E erkundigt, wehrt Rafa ab mit dem Hinweis:
"Dolf fragen! Dolf fragen! Ich habe damit nichts zu tun."
Dolf und Rafa sehe ich seit vielen Jahren nicht mehr gemeinsam, außer bei W.E-Konzerten. Dolf scheint eigene Wege zu gehen, selbst wenn Rafa und er, was selten genug ist, bei derselben Veranstaltung erscheinen.
Rafas redet über die Konzertorganisation für W.E und über die Gagen, die nicht so niedrig ausfallen dürfen, daß nur die Kosten für den Miettransporter abgedeckt werden. Hierdurch wird mir klar, wem der weiße Transporter gehört, in dem Rafa seine Bandausrüstung mitnimmt: es handelt sich um einem Mietwagen.
"Ich trink' nur noch mein Bier aus", sagt Rafa, als Charlize herbeikommt und ihn fragt, wann er aufbrechen will.
Rafa ist aber noch da, als Charlize längst fort ist. Er hat sich, wohl ganz nebenbei, um eine andere Fahrgelegenheit gekümmert.
Isis verabredet mit Rafa, daß man sich auf dem Mitte August stattfindenden großen Festival in HI. gemeinsam besaufen könne. Rafa ist dem nicht abgeneigt.
Gegen halb eins meldet einer der Veranstalter, niemand sei mehr auf dem Gelände, man könne ans Aufbrechen denken. Edaín seufzt, sie sei furchtbar müde.
"Rafa hat sich vorhin aufgeregt", raune ich Edaín zu. "Aber ich glaube, er hat sich schon ein bißchen beruhigt ..."
"Ja", nickt Edaín. "Er hat mir vorhin alles erzählt."
Rafa hatte sich also tatsächlich mit Edaín unterhalten, als ich ihn nach seinem Auftritt für eine Weile nicht sah.
Alle gehen nach drinnen. Isis und ich stehen mit Edaín vor der Theke im Eingangsbereich. Edaín meint, daß ich Details über Rafas Vater in meiner Online-Geschichte erwähne, sei für Rafa "ein absoluter Tiefschlag".
"Hoffentlich glaubt er nicht mehr, daß ich ihm feindselig gegenüberstehe und ihn nur fertigmachen will", äußere ich Besorgnis.
Edaín meint, das glaube er inzwischen wohl nicht mehr. Er habe ihr berichtet, daß er mit mir über das Thema gesprochen habe und was ich zu ihm gesagt hätte. Da ich nicht viel zu ihm gesagt hatte, konnte er auch nicht viel mehr als das Wesentliche behalten haben.
Edaín erlebt Rafa als so geschockt und außer sich, daß sie empfiehlt, Rafas Vater am besten in der Geschichte überhaupt nicht mehr zu erwähnen. Sie erzählt, wie sie Rafa beruhigte:
"Ich habe ihm gesagt:
'Das über deinen Vater hat Hetty aus Unbedachtheit geschrieben.'
Und ich habe ihm gesagt:
'Die Hetty schreibt über alle in der Szene, du bist keine Ausnahme.'"
Edaín glaubt, wenn ich alles über seine Familie aus der Geschichte streichen würde, sei das für Rafa ein Anreiz, die Geschichte wirklich auch mal als Ganzes zu lesen.
"Das könnte sein", meine ich, "aber alles kann nicht verschwinden, es ist zu wichtig. Ich kann nur die Details über den Tod seines Vaters durch eine zusammenfassende Beschreibung ersetzen."
"Also, am besten wäre es, alles wäre weg."
Kappa zeigt einen Ordner über das Sommerfestival im "Read Only Memory", einen Organisationsplan. Den brauche er nun nicht mehr, das Festival sei zu Ende, und es sei schön, daß alles so gut gelaufen sei, es sei aber auch sehr anstrengend gewesen.
Rafa und Darius räumen einige Sachen von der Bühne und bringen sie nach draußen. Darius und Dessie fahren nach Hause.
Rafa stellt seinen CD-Koffer in meiner Nähe auf den Fußboden und marschiert dicht an mir vorbei. Ich streiche über seinen Arm.
"Und du schmeißt das Zeug aus dem Internet", sagt Rafa mahnend zu mir. "Sonst brennt H., echt. Und deine Wohnung brennt. Also sieh' zu, daß das Zeug da verschwindet."
Rafa unterhält sich mit einigen Leuten an der Theke. Er setzt sich dicht neben mir auf einen Koffer, dabei springt der Schlitz an seinem Rock ein Stück weit auf, und man sieht Einiges von seinen nackten Beinen. Ich mustere das interessiert.
Mir fällt auf, daß Rafa nicht mehr die Quarzuhr von Seiko trägt, die ihm sein Vater vererbt hat. Er trägt stattdessen eine rechteckige Digitaluhr von dem Underground-Designerlabel "BOY", mit großem Display und einem breiten schwarzen elastischen Armband.
Rafa läuft ein Stück um die Theke herum und redet mit diesem und jenem. Schließlich geht er auf Edaín zu, die neben mir steht, und gibt ihr die Hand, um sich zu verabschieden.
"So förmlich?" wundert sich Edaín. "Manchmal kommst du doch richtig begeistert an und rufst:
'Angel!'"
Rafa drückt Edaín nun ausgiebig. Als er fertig ist, dreht er sich ein wenig zu mir. Ich schaue ihn an und sage:
"Und jetzt ich!"
"Neineinein!" wehrt Rafa nach kurzem Zögern ab. "Erst verschwindet das Zeug da aus dem Internet."
"Und dann kriege ich meine Umarmung."
"Das seh'n wir dann. Erst verschwindet die Sch... da."
"Und dann kriege ich meine Umarmung", wiederhole ich beiläufig, freundlich und unbeirrt. "Und meinen Heiratsantrag."
"Ich laß' mich nicht erpressen."
"Ich erpresse dich nicht."
"O.k., dann schmeiß' das Zeug aus dem Internet 'raus", will Rafa mich erpressen. "Sonst brennt H., echt. Und deine Wohnung brennt. Also sieh' zu, daß das Zeug da verschwindet."
"Und dann kriege ich meinen Heiratsantrag."
"Dann lebst du noch", berichtigt Rafa.
"Und ich kriege meinen Heiratsantrag."
"Dann hast du noch zehn Finger", berichtigt Rafa. "Ist doch besser als mit neun ... oder acht ... oder sieben ..."
"Und dann kriege ich meinen Heiratsantrag."
"He, ich weiß sowieso noch nicht, wen ich überhaupt heiraten will."
"Mich", entgegne ich freundlich. "Mich willst du heiraten."
"Das seh'n wir dann. Erstmal verschwindet die Sch... aus dem Internet."
Rafa geht kurz nach draußen.
"Es sind die Pheromone", sage ich zu Edaín. "Es ist faszinierend. Es waren immer die Pheromone."
Bevor ich Rafa kannte, hätte ich nie gedacht, daß ich den Mann, den ich liebe, erschnüffeln würde, auf dieselbe frühevolutionäre Weise, wie Schmetterlinge ihre Partner erkennen. Und so bindend wie die Macht tierischer Instinkte ist auch meine Liebe zu Rafa, das wird mir wieder einmal bewußt. Leider berücksichtigen solche Instinkte nicht die charakterlichen Schwächen des Ausgewählten. Sie kümmern sich nicht darum, ob der Mensch, den man liebt, ein gewissenloser Schürzenjäger ist oder gar ein Schwerverbrecher ... oder eine Jekyll-Hyde-Figur.
Edaín meint, ich würde mich erniedrigen, wenn ich von mir aus den Wunsch äußere, Rafa zu heiraten.
"Mir ist wichtig, frei heraus zu sagen, was ich denke", entgegne ich. "Wenn er mich nicht will, ist das seine Sache. Mir ist wichtig, ihm zu sagen, daß ich ihn will."
"Dann wirst du dir einen Korb nach dem anderen einhandeln. Wenn dich das nicht stört ..."
Rafas Fahrgelegenheit ist schließlich der Junge mit dem Pferdeschwanz, der ein ähnliches Oberteil trägt wie Rafa und am Tisch zu seiner Rechten saß. Als Rafa mit dem Jungen hinausgeht, wendet er sich mir kurz zu, ich lächle ihn an, er hebt die Hand und sagt knapp und mit einem Lächeln in der Stimme:
"Ciao."
Ich bringe Isis nach Hause. Sie meint, es habe sie erstaunt, daß Rafa mir erst gedroht hat, H. und meine Wohnung anzuzünden, und sich gleich danach an meiner Seite auf dem Koffer niederließ und da friedlich sitzenblieb. Allzu heftige Aggressionen könne Rafa mir gegenüber nicht haben.
Isis erzählt von ihren Erlebnissen mit narzißtisch gestörten Musikern. Rafa sei jemand, dessen Selbstwertgefühl besonders schwer gestört sei. Sie wolle ihm gern helfen. Am liebsten wolle sie ihm auch helfen, mit der Trauer um seinen Vater fertigzuwerden.
Als ich morgens nach Hause kam, änderte ich das erste Kapitel von "Im Netz" insofern, als ich einen Teil von Rafas Schilderungen zusammenfaßte, die in vielen Einzelheiten die Ereignisse um den Tod seines Vaters beschreiben. Dabei erkannte ich, daß der gesamte Roman auf jenen Schilderungen aufbaut - den Ereignissen, die dazu führten, daß die Störungen in Rafas Familiensystem offensichtlich wurden und nicht mehr hinter der Fassade der Zusammengehörigkeit verborgen werden konnten. Also sollte das erste Kapitel in nicht allzu ferner Zeit wieder vollständig im Internet erscheinen, damit die Stimmigkeit des Romans erhalten wird - wie es dann auch ohne weiteren Widerstand von Rafa geschah. Mir geht es darum, Rafa allmählich an das Vorhandensein der Geschichte "Im Netz" zu gewöhnen. Gleichwohl nehme ich nicht an, daß er "Im Netz" jemals Seite für Seite lesen wird. Er will sich weder mit mir noch mit sich selbst befassen, genau das tut er aber unweigerlich beim Lesen der Geschichte.
Selbst wenn Rafa behauptet, er habe "Im Netz" gelesen, kann dies nicht der Fall sein, denn wenn er die Geschichte in allen Einzelheiten kennen würde, könnte er sich kaum so aggressiv und vorwurfsvoll gegen mich äußern wie im "Read Only Memory". Gewissermaßen kann ich an Rafas Verhalten erkennen, ob er die Geschichte gelesen hat.

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