Netvel: "Im Netz" - 42. Kapitel































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Ende Januar bekam ich von Minya Fotos, die auf dem Benefiz-Festival im "Blendwerk" entstanden sind, wo Berenice, Tyra und Rafa auftraten. Auf einigen Fotos sind Rafa und ich gemeinsam zu sehen. In einer Message schrieb ich an Minya:

Stell dir vor, gestern fand ich vor der Rückbank meines Autos ein Glas mit der Aufschrift "Smirnoff". Da hat wohl einer von den lustigen Leuten, mit denen ich nach dem Festival zum "Memento Mori" gefahren bin, im "Blendwerk" ein Glas geklemmt und das im Auto vergessen ... jetzt isses im Abwasch und geht in meine Sammlung über ... haben eben richtig gefeiert ...

Ausnahmsweise konnte ich in Rafas "Nachtkuss"-Gästebuch etwas Positives anmerken, nämlich über seinen Auftritt als "Feindsender". Ich schrieb als "64.3":

Noch mehr von Feindsender! (Emotional, authentisch, musikalisch ernstzunehmend.)

Rafa löschte diesen Eintrag nicht.
Tyra will Berenice und Baryn demnächst besuchen. Berenice mailte über den gemeinsamen Auftritt in L., bei dem es technische Probleme gab:

Tyra hat auf jeden Fall mit dazu beigetragen, dass wir das Konzert dann doch noch einigermaßen durchziehen konnten! Die Haustechniker haben sich bei uns noch entschuldigt, als wir gingen, was ich sehr nett fand.

Von Mal bekam ich Links zu interessanten Elektronik-Musikvideos, unter anderem von Devo, Human League, Telex und seinem eigenen Projekt Konform. Tom E. von den legendären Severed Heads stellt inzwischen die Videos dieser Ausnahme-Band online.
Aramis mailte, er freue sich auf unser nächstes Treffen. Er sei froh, mich kennengelernt zu haben. Am Ostersonntag wollen wir eine Fotosafari auf einem alten Industriegelände in DU. unternehmen und danach eine Party im "Ferrum" besuchen. Das "Ferrum" befindet sich in einem ehemaligen Industriebauwerk in OB.
Das W.E-Forum ist mittlerweile geschlossen, so steht es auf der Startseite zu lesen - jedoch steht dort nicht, warum es geschlossen wurde.
Artemis mailte, daß das W.E-Forum geschlossen worden sei, sei wesentlich von Administrator Icon ausgegangen, der das Forum nicht mehr hosten wolle.
Aramis erzählte in einer Message, er vermute, in "SG.", der Online-Szene-Kontaktbörse, Rafas Profil unter dem Nickname "Chromglanz" entdeckt zu haben. Er fragte mich, ob es sich tatsächlich um Rafas Profil handelte oder um ein Fake mit Rafas Bildern. Ich konnte es anhand der Formulierungen im Profiltext als eindeutig echt identifizieren.
Aramis berichtete in der nächsten Message, Rafa habe inzwischen auf seine Message geantwortet, die er an "Chromglanz" gerichtet habe; damit war jeder Zweifel ausgeräumt.
Aramis vermutete, Rafa habe mit einer Antwort gezögert, weil Aramis in seinem Profil unter "Zukunftspläne" vermerkt hatte, eines Tages in meinem Online-Roman "Im Netz" auftauchen zu wollen.
Aramis erzählte von einem Interview, das er im vergangenen November in KR. mit W.E geführt hat, vor einem Konzert:

Das Konzert war mäßig, grade Rafa wirkte lustlos (schlimmer war es wohl nur beim Silvesterkonzert in OB., das ich aber nicht besucht habe).
Nun aber zum Interview an sich. Rafa war sehr nett, bot Getränke an, usw.
Komisch wars am Anfang. Er war allein im Raum. Als wir fragten (ich war ja nur Co-Interviewer), wo der Rest des Senders ;) wäre, holte er kurz Dolf und war noch erstaunter, als ich verkündete, dass ich auch Fragen an die Frauen hätte. Na ja, diese wurden dann auch geholt.

Hierzu sei angemerkt, daß Rafa seine Band W.E nicht als Band, sondern als "Sender" bezeichnet. Vielleicht hat das etwas mit seinem Sendungsbewußtsein zu tun.
Aramis erzählte weiter von dem Interview:

Nehmen wir am besten jede Person einzeln.
Lucy war stark erkältet, antwortete aber sehr freundlich.
Dolf war ebenfalls freundlich und offen, wie ich ihn noch nicht erlebt habe. 1-2mal fiel er sogar Rafa ins Wort und erzählte selbst was zu W.E.
Darienne war sehr schüchtern, sprach leise. So kannte ich sie gar nicht aus bisherigen Gesprächen, und es stand im absoluten Gegensatz zu den Bildern, die sie früher ja mal gemacht hat (und die den Eindruck vermitteln, sie würde vor Selbstbewußtsein nur so strotzen).
Rafa war freundlich, hatte aber bei manchen Fragen wohl Probleme, den erfragten Inhalt richtig zu deuten (dabei sind meine Fragen eigentlich recht einfach gestrickt gewesen, ich habe nur versucht, Neues zu erfragen und nicht auf die Standardfragen zurückzugreifen).

Aramis erzählte von seiner konflikthaften Beziehung mit seiner Lebensgefährtin Saphira. Was ihn zusätzlich belaste, sei ein verstörendes Ereignis:

... die Tatsache, dass die ehemals beste Freundin und Trauzeugin meiner Mutter ihren 9-jährigen Sohn umgebracht hat. Sie wusste, wo wir wohnen, zog vor etwa 10 Jahren in unsere direkte Nachbarschaft, aber hat sich nie bei uns gemeldet. Erst 3 Monate vor der Tat hat meine Mutter sie durch Zufall getroffen. Na ja, die ganze Familie hat sich schon vor der Tat von ihr abgewendet und will auch jetzt nichts mit ihr zu tun haben. Meine Mutter ist die Einzige, die sie besucht. Die Anwälte sind Stümper (Pflichtverteidiger). Die Frau sitzt in normaler Haft bis zur Verhandlung, meine Mutter wird jetzt mit einem anderem Anwalt versuchen, eine Verlegung in die Psychiatrie durchzukriegen.

Tyra berichtete am Telefon, sie sei zu Besuch bei Neill, einem Bekannten, der sie mit Essen und seelischem Beistand versorgt, wenn sie wieder einmal kein Geld und keinen Lebensmut hat. Ihr Geld ist so knapp, weil ihre Mutter den Kindergeldantrag nicht ausgefüllt hat. Deswegen bekommt Tyra ihr Kindergeld nicht, es wird aber vom Hartz IV abgezogen. Tyra nimmt das hin und hungert lieber, als ihrer Mutter ins Gewissen zu reden. Sie schlägt sich mit Telefonaquise und anderen kleinen Jobs bei einer Zeitung durch.
Meine Mutter erzählte, daß Henk ihrem pflegebedürftigen zweiten Mann Wilf die Haare geschnitten hat. Wilf soll gestrahlt haben, als Henk ihn freundlich begrüßte. Meine Mutter wollte Henk zwanzig Euro geben, der wollte aber gar nichts haben.
"Wenn ich dieses Elend sehe ...", seufzte er.
Zuletzt hat er den fünfundachtzigjährigen Wilf vor drei Monaten gesehen, im Frisiersalon. Wilf konnte damals noch laufen und sprechen, und es ging ihm noch viel besser. Ihn jetzt auf dem Krankenlager zu sehen, war für Henk ein Schock, vielleicht auch, weil ihn das an den Tod seines Bruders erinnerte.
Zehn Euro konnte Mama ihm zustecken, mehr wollte Henk auf keinen Fall haben.
"Ich will mich nicht an der Not anderer Leute bereichern", erklärte er.
Diese moralische Haltung paßt zu Henks Bedürfnis, für andere Leute da zu sein. Als er ein Kind war, war niemand für ihn da. Umso wichtiger ist es ihm, sich um andere zu kümmern.
Ende Januar war ich im "Zone". Les spielte ein besonders makabres Stück von Noisuf-X: "Katatonie". Es enthält ein Sample aus dem Splatter-Film "Rabid Grannies":
"Susilein, das freche Gör, hat jetzt keine Beine mehr."
Minette erzählte, sie stehe kurz von dem Abschluß ihres Studiums der Wirtschaftsinformatik. Sie bringe das Studium nur aus Prinzip zuende, nicht weil es zu ihr passe. Sie könne nicht programmieren und hoffe, eine Stelle zu finden, wo dies nicht erforderlich sei.
Als ich von Ivcos Bewunderung für Rafa erzählte, meinte Minette, sie könne nicht verstehen, wie sich jemand ausgerechnet Rafa zum Vorbild nehmen könne. Ich vermutete, Ivco sei vielleicht nicht darüber hinweggekommen, daß Rafa früher, als beide im Teenageralter waren, nahezu jedes Mädchen haben konnte. Ivco hingegen fiel das Verführen längst nicht so leicht.
"Als wenn das ein Fehler ist", seufzte Minette. "Ivco hat so viel erreicht im Leben, er kann so viel, er schafft so viel, er hat eine Familie, da ist es doch wirklich unwichtig, ob man x Frauen verführen kann. Ivco soll doch froh sein, daß er so ist, wie er ist, und daß er nicht so ist wie Rafa!"
"Rafa kann überhaupt keine Beziehung führen", meinte ich. "Er legt nur reihenweise die Frauen um, ohne eine echte Bindung einzugehen. Der bleibt doch immer einsam, der findet nie Geborgenheit. Mit dem würde ich doch nie tauschen wollen."
Minette und ihr Freund Malvin sind vor zweieinhalb Wochen bei Rafas Geburtstagsfeier gewesen, die entgegen Rafas ursprünglicher Ankündigung letztlich doch stattfand; dazu hatte Rafa sich erst an seinem Geburtstag entschlossen, und Ivco hatte Minette per SMS informiert. Neun Gäste waren bei Rafa, die sich zusammensetzten aus Darienne, Dolf, Ivco, Minette, Malvin und vier weiteren, wohl Xenon und Anwar mit Verwandten. Rafa spielte den Entertainer und kontrollierte und beschäftigte die Gäste; dieses Mal gab es überwiegend Computerspiele, die Rafa eilig hervorgesucht hatte. Darienne saß still in einer Ecke. Kurz vor Mitternacht ließ Rafa sich draußen in einem Stuhl hochheben, und es wurden Silvesterknaller abgefeuert, wie jedes Jahr.
"Natürlich, immer dasselbe Ritual", stöhnte Minette. "Bei ihm darf sich ja nie etwas verändern. Auf keinen Fall will er jemals etwas verändern."
Rafa soll vor einiger Zeit im "Keller" versucht haben, bei Minette zu landen. Als Minette auf einem Barhocker saß, umfaßte Rafa von hinten ihre Taille, zog sie zu sich heran und fragte in der gewohnten theatralisch-galanten Weise:
"Tanzt du für mich auf dem Tisch?"
"Ich bin doch nicht betrunken", entgegnete Minette.
Rafa habe sie daraufhin fallenlassen wie eine heiße Kartoffel.
Ivco ist in Minette regelrecht verliebt gewesen, doch weil sie sich nicht in ihn verliebte, entwickelte sich daraus eine schon jahrelang andauernde Freundschaft.
Daß Rafa Minette sogleich fallenließ, als sie nicht auf seinen Wunsch einging, erklärt sich Minette dadurch, daß Rafa es nicht mag, wenn Frauen nicht gleich alles tun, was er von ihnen verlangt.
"Rafa kam mit seinen Spielchen bei mir von Anfang an nicht durch", erinnerte ich mich. "Er konnte nie mit mir machen, was er wollte. Es wundert mich nur, daß er trotzdem jahrelang immer wieder angekommen ist."
"Irgendetwas fasziniert ihn an dir", vermutete Minette.
Sie bewunderte meine Kostümierung, das rot-graue Denim-Korsett mit den Schnörkeln und dem Swarovski-Reißverschluß, das Glaube-Liebe-Hoffung-Halsband, die Lack-Puffärmel, die langen schwarzen Handschuhe, der weite, rot unterlegte Tüllrock und die roten Scooby-Bänder in der Zöpfchen-Frisur. Heloise erkannte in meinem Halsband dasjenige, welches auch in den "Sulo"-Comics auf meiner Website vorkommt. Gerade erst hatten Heloise und Barnet diese Comics gelesen und sich amüsiert.
"Es ist unschwer zu erkennen, wer gemeint ist", sagte Heloise.
Mein Comic-Held "Sulo", die eitle Sondermüll-Tonne, ist ein eroberungswütiges Geschöpf, das nach dem Tod nicht im Himmel landen kann, sondern als Signaltonne dauerhaft in der Nordsee dümpeln muß.
Ivco mailte, er habe mir absichtlich nichts von Rafas Geburtstagsfeier Mitte Januar erzählt, weil er verhindern wollte, daß ich vergeblich nach SHG. fahre. Daß ich etwas Besseres zu tun hatte, als einem Menschen nachzulaufen, der mich auf einer seiner Websites beleidigt hat und überdies mit einer Freundin ausgestattet ist, konnte Ivco sich vielleicht nicht vorstellen.
Ivco fragte in der E-Mail, was so schlimm daran sei, daß Rafa auf der Website seiner Zweit-Band H.F. mein Konterfei abbildete mit dem Spruch:
"Wir müssen leider draußen bleiben."
Daß Rafa mich damit öffentlich bloßgestellt und beleidigt hat, scheint für Ivco nicht nachvollziehbar oder nicht erkennbar zu sein. Ich vermute, entweder erlebt Ivco Rafas Verhalten nicht als beleidigend - oder Ivco idealisiert Rafa so sehr, daß er dessen Schattenseiten ausblendet.
Tron erzählte am Telefon, er glaube, das nunmehr geschlossene W.E-Forum sei letztlich den spaltenden Aktivitäten von Icons Lebensgefährtin Mayjana zum Opfer gefallen. Mayjana habe Icon dahingehend beeinflußt, daß er als Forum-Administrator je nach ihrer Laune Forummitglieder hinausgeworfen oder aus dem Chatraum geworfen habe. Mittlerweile ist das Forum nur noch zum Downloaden online, alle weitere Funktionen sind gesperrt. Einen W.E-Chatraum soll es auch nicht mehr geben.
Am 03. Februar wurde meine Nichte Denise vier Jahre alt. Bei meiner Mutter fand die Familienfeier statt. Am Montag gibt es dort eine Kinderparty mit Denises Freunden.
Denise freute sich, ihren Geburtstag mit beiden Eltern zu feiern, die seit Kurzem getrennt sind. Auch ihre Patentante Delia erschien mit ihrem Freund und dem gemeinsamen Sohn Aymon, der drei Monate alt ist.
Abends gab ich meine Geburtstagsparty, mit siebenunddreißig Gästen. Sarolyn erschien als Erste, mit ihrem Sohn Matthew in der Babyschale. Matthew ist elf Monate alt. Sarolyn ließ ihn in meiner Wohnung umherkrabbeln. Mit mehreren Müttern konnte sie sich über Kindererziehung austauschen: Heloise, Rixa, Constri und Merle. Zwischendurch brachte Sarolyn den Kleinen zu den Großeltern.
Meine Gäste tranken im Nu die Flasche Wodka Türkisch Pfeffer leer, die ich am Vorabend angesetzt hatte. Terrys Mischung hat mir so gut gefallen, daß ich sie auch ausprobiert habe. Das Getränk ist pechschwarz und schmeckt wie ein hochprozentiges Lakritzbonbon, so süß und aromatisch, daß man den enormen Alkoholgehalt kaum schmeckt. Um die Bonbons in die Wodkaflasche zu kriegen, zerschlug ich sie mit einem Hammer.
Terry und Linus brachten - wie schon zu Silvester - Batida und Kirschsaft mit. Es gab außerdem Sambuca - brennend, mit Kaffeebohnen - und Tequila. Rikka brachte ihren Freund Domian und dessen Schwester mit. Claudius erschien in dem Sakko mit den Totenkopf-Knöpfen, das er beim Pfingstfestival im L. gekauft hat.
Zu meiner Party erschienen auch die beiden "Unidentified men" Donar und Sasso, die ich von den "Stahlwerk"-Parties in HH. kenne. Dieses Mal trugen sie keine Militärkleidung, auch keine verspiegelten Brillen und Gasmasken. Sie waren artig in Schwarz gekleidet, derb zwar, aber nicht eindeutig militärisch. Sasso hatte einen Fotoapparat mitgebracht, und wir machten Erinnerungsfotos in der Küche.
Heloise und Barnet erzählten, daß Darius die Demo-CD für das kommende Album von Das P. fertiggestellt hat, rechtzeitig zu dem vom Label bestimmten Termin.
Als Rafa und Darius sich vor zwei Jahren zerstritten haben und Rafa aus der Band Das P. hinausgeworfen wurde, soll Rafa gedroht haben, er werde dafür sorgen, daß Das P. ein "weltweites Auftrittsverbot" bekommt. Das P. ist in der Zwischenzeit mehrmals aufgetreten und wird auch Ende Februar wieder auftreten, und keine Rede ist von einem Auftrittsverbot, erst recht nicht einem weltweiten.
Die zwölfjährige Elaine war mit ihrer Schulfreundin Tanee auf meiner Party. Tanee mag den Gothic-Stil und möchte auch solche Kostümierungen tragen.
Merle hat Bertine und ihren Mann Hakon neulich beim Renovieren von Constris Wohnung getroffen; zu meiner Party konnten die beiden wegen einer Erkältung nicht kommen. Merle berichtete, ihr sei aufgefallen, daß Bertine salzige Heringe essen wollte und einen weichen Ausdruck in den Augen hatte. Sie fragte Bertine, ob sie schwanger sei. Die war überrascht und bejahte; erst vor Kurzem habe sie den Test gemacht, und sie sei in der siebten Woche.
Mitte Februar war ich bei einem Konzert, das Deine Lakaien gemeinsam mit der Neuen Philharmonie F. gaben. Es war ein kulturelles Highlight, und das Publikum dankte mit Standing Ovations. Der Auftritt wirkte ebenso innovativ wie professionell, und dabei wirkten alle Musiker entspannt und mit Begeisterung bei der Sache. Eine Panne gab es, die in einen Gag verwandelt wurde: Pianist Ernst H. kämpfte mit einem historischen Computer, der einen Rhythmus beisteuern sollte und erst nicht so wollte wie geplant. Da setzte Alexander V. seinen Gesang aus dem vorherigen Stück fort, das war "Mindmachine". Mehrmals sang Alexander hingebungsvoll a capella "Mindmachine" ins Mikrophon, was für Heiterkeit sorgte.
In der Pause - mit Pausengong! - unterhielt ich mich mit mehreren Leuten, darunter Onno, Endera und deren gemeinsame Freundin Dayenne. Dayenne erzählte von ihren Erfahrungen mit Männern. Sie möchte sich gern verlieben, schaut sich in der Männerwelt um und findet nichts, was ihr gefällt:
"Du guckst dir den an und den und den, und dann denkt du nur: 'Nein ... nein ... nein ...'"
Sie hält nichts davon, mit einem Mann zusammenzusein, nur um nicht alleine zu sein:
"Die anderen Leute freuen sich, sie denken, du hast alles, was du dir wünschst, aber sie kriegen nicht mit, daß du innerlich langsam stirbst."
"Die Leute geben sich mit der Illusion zufrieden", meinte ich. "Sie wollen nicht wissen, was dahintersteckt. Sie erwarten, daß man eine heile Beziehung vorspielt, auch wenn es nur eine Illusion ist. Wenn man ehrlich ist und zu sich selbst und zu seinen Gefühlen steht, wird man für verrückt gehalten."
Dayenne hatte eine Beziehung mit einem langjährigen Freund, der war in sie verliebt, sie aber nicht in ihn. Sie beendete die Beziehung schließlich, und es gelang ihr nicht, auf die freundschaftliche Ebene zurückzukehren.
"Das ist auch einer der Gründe, warum ich nichts Halbherziges mehr will", erklärte sie. "Da geht nicht nur die Beziehung kaputt, sondern die Freundschaft ist auch verloren."
"Es hat keinen Sinn, sich und andere zu belügen", meinte ich. "Es bringt niemandem etwas. Man blockiert nur sich und andere für die wirklichen Wünsche."
Ich erzählte von meiner Vermutung, daß die Leute einen Menschen auch deshalb für verrückt halten können, weil sie nur einen Teil der Wahrheit kennen:
"Heute haben alle Handys, und es wundert keinen mehr, wenn jemand laut redet, ohne daß er einen Gesprächspartner hat. Früher aber, als noch kaum jemand ein Handy hatte, galt ein Mensch, der allein und laut redend über die Straße lief, als verrückt. Wenn also jemand mit einem Handy telefonierend über die Straße gelaufen wäre, und die Leute hätten das kleine schwarze Kästchen an seinem Ohr nicht gesehen oder einfach nicht gewußt, was es ist, dann hätten sie geglaubt, der wäre schizophren und würde Stimmen hören. Und so ähnlich scheint es den Leuten zu gehen mit dem, was zwischen Rafa und mir abläuft. Sie bekommen die Signale nicht mit, weil sie sie nicht entziffern können. Und sie halten mich für verrückt, aus schierer Unwissenheit."
Es ist so ähnlich, als wenn jemand in einer fremden Sprache einen Witz erzählt, und nur diejenigen können Tränen lachen, die die Sprache verstehen.

In einem Traum waren Tyra und ich in Australien. Wir wurden beruflich dort eingesetzt, und gleich bei unserer Ankunft sollten wir verschiedene Wege gehen. Die Lichtung, wo unsere Wege sich trennten, sah aus wie eine Lichtung in Norddeutschland, nur daß sie viele tausend Kilometer von unserer Heimat entfernt war. Ich fühlte mich abgeschnitten von allem, was mir wichtig war. Ein Laptop hatte ich, aber keine Möglichkeit, E-Mails zu verschicken, und viele meiner im Alltag gebrauchten Gegenstände fehlten mir ebenfalls.

In einem anderen Traum erzählte eine behinderte junge Frau, die in einem Elektrorollstuhl herumfuhr, von ihrer Unterhaltung mit einem jungen Mann, der ebenfalls behindert war:
"Der hat einen supermodernen E-Rolli, davon redet der immer, aber der ist viel schlechter dran als ich. Ich bin zwar behindert, aber ich kann mein Leben planen. Er hat einen Hirntumor, er kann überhaupt nichts planen."

Rafa hat dem Szene-Magazin "DS." ein Interview gegeben zu seinem Album "Chaos Total". Er bedankte sich für ausverkaufte Konzerte beim Publikum "und sonstigen integeren Menschen". Bei seinen Konzerten sei ihm Folgendes wichtig:
"Ein korrektes Auftreten, die Wahrung des Geistes und einer Etikette ... und natürlich ein 100%iges, korrektes, intelligentes Publikum!"
Über die W.E-Fanclubtreffen sagte Rafa, dort würden sich nur "wirkliche Hörer" treffen; die Fanclubtreffen seien mit Vereinstreffen zu vergleichen. Vielleicht werde daraus irgendwann mal eine "integere Formation", die die Welt verändere. Das sei alles streng geheim und sollte nicht "in jedem Interview zerredet und ausposaunt werden". Bei den "wirklichen Hörern" stünden nicht die Konzerte im Vordergrund, vielmehr gehe es um "weltweite Kommunikation, Zusammenkünfte, Gespräche und um ein Zusammengehörigkeitsgefühl ... vielleicht sogar um ein neues Lebensgefühl". Das überwältige ihn bei jedem Treffen:
"Musik ist international, sogar interstellar ... und die Mauern von Jericho zerfallen wie Papierwände, sobald der erste analoge Klang aus den Klangstrahlern ertönt."
Der "integere" Rafa mißhandelt und betrügt seine Freundinnen, stellt andere Menschen bloß, beleidigt andere Menschen wegen ihres Aussehens ... und behauptet, einer "Etikette" zu folgen. Auf welche Art solch ein Mensch die Welt verändert, wenn er die Möglichkeit dazu hat, mag ich mir kaum vorstellen. Ich erinnere mich an Rafas mehrfach geäußerten Wunsch, "die Menschheit auszurotten". Die angebliche verschworene Gemeinschaft "wirklicher Hörer" scheint vor allem im Rafas Phantasie zu existieren. Mir sind mehrere Besucher der W.E-Fanclubtreffen bekannt, die vor allem hinfahren, um Freunde zu treffen, nicht um Rafa zu huldigen oder durch geheime Aktivitäten unter Rafas Führung die Welt zu verändern.
Man mag von Rafas Musik halten, was man will - jedenfalls kann Rafa nicht davon ausgehen, daß alle Menschen den gleichen Musikgeschmack haben und sofort in Ekstase verfallen, sobald seine Musik aus den "Klangstrahlern" ertönt.
Rafa präsentierte einen Chatroom auf seiner Website "Die neue Welt" namens "Das Gespräch am Puls der Zeit" mit den Worten:

Der "Chatroom" ist jederzeit passierbar. Wenn Sie meinen, Sie müßten hier dummes Zeug reden oder Ihren vielleicht verschwindend kleinen I.Q. präsentieren ... Vergessen Sie es!

Den Chatroom scheint es schon gar nicht mehr zu geben.
In Rafas "Nachtkuss"-Gästebuch schrieb ich angesichts des geschlossenen W.E-Forums unter dem Nickname "unsterblich":

Zitat Honey, Weihnachten 2005:
DAS W.E-FORUM
IST AB HEUTE
UNSTERBLICH!!!

Rafa löschte diesen Eintrag nicht.
Aramis fragte in einer Message bei SG.:

Wohnt Rafa immer noch bei seiner Mutter? Ich meine, wenn ich nicht bei meiner Freundin bin, wohne ich auch noch zu Hause, aber in dem Alter ... neee, muss nicht sein.
Aber wahrscheinlich ist es so am bequemsten.
Wie auch die Schliessung des Forums. Eine bequeme Art, sich unangenehmen Fragen zu entziehen ...

Ich schrieb:

Ja, Rafa wohnt immer noch bei seiner Mutter, mit 36 Jahren.
Was das W.E-Forum betrifft, so hatte Rafa ja noch Weihnachten 2005 groß getönt:
"Das Forum wird unsterblich!"
Sieht man ja jetzt.

Rafa bezeichnet sich in seinem "Chromglanz"-Profil bei SG. als "verliebt", nicht als "vergeben" - gewissermaßen leugnet er seine Beziehung mit Darienne.
Unter "Fetisch / Vorlieben" schreibt Rafa in seinem Profil:

Sei meine Roboterfrau und ich mache dich glücklich ...

Vielleicht will er damit ausdrücken, daß er nach einer Frau sucht, die wie ein Roboter funktioniert und keinen eigenen Willen hat. Als "Wunschbeziehungsform" gibt Rafa "unmenschlich" an.
Als "Glücksbringer" nennt Rafa seine Uhr, gemeint ist vermutlich das Erbstück von seinem Vater. Als "romantischen Ort" nennt er "die Welt ohne Menschen" und "ein Schrottplatz". Als "Hobbies & Interessen" nennt er "Computerkunst", "die Weltenzahl" - was immer das sein soll -, "der neue Mensch" - wen immer er damit meint - und "die neue Welt" - wo immer das sein soll. Auf die Frage im Profil, mit welcher Person er mal ein Bierchen trinken wolle, antwortet Rafa:
"Mit mir selbst ..."
Bei der Frage, wie wichtig ihm Treue ist, hat Rafa "sehr wichtig" angekreuzt. Als seine drei größten Fehler nennt er "Egozentrik", "Kompromisslosigkeit" und "niemals vergessen". Als seine drei besten Eigenschaften nennt er "Konsequenz", "Ehrgeiz", "absolut vertrauenswürdig" und "verlässlich". Zu "Ich hasse / mag nicht" nennt er "Fernsehen", "Menschen", "Vollidioten", "Frauen". Zu "Ich mag / liebe" nennt er "alles, was zwei Augen hat und die Schnauze hält".
Ich schrieb unter meinem Nickname "Fractal" in Rafas "Chromglanz"-Gästebuch:

Treue ist dir sehr wichtig? Und du bist absolut vertrauenswürdig und verläßlich? Also, wenn du aus Holz wärst, würde dir die Nase bis zum Mond wachsen.
Ach ja ... ich kann mir denken, warum du alles magst, was die Schnauze hält ... damit du deine eigene umso weiter aufreißen kannst ... oder irre ich mich da? Nichts für ungut, aber der Kommentar mußte einfach sein.

Rafa löschte den Eintrag. Ich schrieb:

Unser Honey kann halt keine Kritik vertragen.

Rafa löschte auch diesen Eintrag und schrieb auf Seite 1 seines Profils bei SG.:

Ich bin:
Verliebt

... und wenn ich etwas hasse auf dieser eigentlich so wundervollen Welt, dann sind das fractale Subjekte*, die mir durch ihre "Stalkerei" die Welt zur Hölle machen.

Auf Seite 7 des Profils folgte die Anmerkung zur Fußnote:

* ... aber was will man von einem Stück Sch... auch schon groß verlangen?

Ich beschwerte mich in einer Message über Rafa bei den Admins von SG.:

Dieser User hat mich beleidigt.
Der User schreibt auf Seite 1 seines Profils, er hasse "fractale Subjekte". Mein Benutzername ist "fractal", der User und ich kennen uns seit 14 Jahren, demnach gehe ich von einer Art Racheakt seinerseits aus und möchte, daß er diesen Satz aus seinem Profil streicht.
Ich habe auf Seite 7 des Profils von diesem User entdeckt, daß er seiner Fußnote, die er auf Seite 1 hinter "fractale Subjekte" gesetzt hat, den Satz folgen ließ:
"* ... aber was will man von einem Stück Sch... auch schon groß verlangen?"
Da auch dies eine Beleidigung meiner Person (Username "Fractal") darstellt, möchte ich, daß der User auch diesen Satz aus seinem Profil entfernt. (Der User kennt mich gut genug, um zu wissen, daß ich im Zweifelsfall auch nicht vor einer Strafanzeige wegen Beleidigung zurückschrecke, allerdings nicht gegen euch, sondern nur gegen ihn; er heißt übrigens Rafa Dawyne).

In Rafas "Nachtkuss"-Gästebuch schrieb ich als "dein Gewissen":

Dein Interview im DS. war mal wieder eines jener Interviews mit einem Wahrheitsgehalt auf Bildzeitungsniveau. Du solltest übrigens den Gebrauch des von dir inflationär verwendeten Begriffs "integer" einstellen. "Integer" bedeutet "rechtschaffen" und "geradlinig". Du bist aber weder das eine noch das andere. Wenn du dich selbst als "integer" präsentierst und von anderen verlangst, "integer" zu sein, wirkt das unglaubwürdig, ja peinlich. Aber nun ja, für Peinlichkeiten warst du dir noch nie zu schade.
Ach, nochmal zu deinen Äußerungen bei SG.:
Wenn ich mich überhaupt noch mit einem emotionalen Schrotthaufen wie dir befasse, dann liegt es daran, daß ich mir nicht aussuchen kann, wer mir etwas bedeutet im Leben - nur weil ich, im Gegensatz zu dir, ehrlich bin und nicht käuflich, ärgere ich mich mit dir herum, und ich muß gestehen, manchmal ist es ja auch ganz amüsant.
Jedenfalls habe ich das letzte Wort, denn aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich dich um mehrere Jahrzehnte überleben.

Rafa löschte daraufhin das "Nachtkuss"-Gästebuch. Auf dem Titel der "Nachtkuss"-Website ist nur noch ein gelbes Dreieck mit schwarzem Rand zu sehen, auf dem prangt eine stilisierte rechte Hand mit einem abgetrennten Ringfinger. Vielleicht soll das eine Drohung sein.
Auf meinem "Fractal"-Profil bei SG. schrieb ich:

Ich bin:
Single

... und wenn ich etwas verabscheue auf dieser Welt, dann ist es das Verhalten mancher Menschen, die Lügen zur Wahrheit erklären, ihre Freundinnen betrügen und bei ihren Exgeliebten rumstalken.

Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.
Mir tun wahrhaft die Menschen leid, die mit sich selbst nicht klarkommen.

An Aramis schrieb ich:

Stell dir vor ...
Rafa beleidigt mich neuerdings in seinem Profil. Ich habe schon eine Beschwerde abgesendet und werde ihn ggf. anzeigen, wenn er die Beleidigungen nicht entfernt.

Aramis schrieb:

Ach du Schande,
verzeih mir, aber als Erstes fuhr mir ein Grinsen übers Gesicht und ein "was für ein Kindergarten" durch mein Gehirn.
Schon komisch, eigentlich dachte ich, Rafa würde über so etwas stehen und es mit Ignorieren versuchen, vor allem, da du ihn in letzter Zeit ja nicht wirklich bedrängt hast.
Oder er hat Kapitel 32 von "Im Netz" gelesen und findet das Gespräch zwischen euch am Ende nicht so toll.
Man kann eigentlich nur den Kopf schütteln.

Ich schrieb:

Ja, Rafa kann mit Kritik so schlecht umgehen, daß er nicht in der Lage ist, drüberzustehen und konstruktiv zu reagieren. Er hat eine so schwere Selbstwertstörung, daß er das Peinliche und Infantile in seinem Verhalten nicht bemerkt.
Es wäre schön, wenn Rafa sich eines Tages weiterentwickeln würde und sich zu einer reiferen Persönlichkeit entwickeln würde, doch diese Hoffnung habe ich mittlerweile aufgegeben. Zu lange schon entwickelt er sich immer mehr zum Destruktiven, weg vom Konstruktiven; ich kann ja seine Persönlichkeitsentwicklung seit 14 Jahren wie in einer Langzeitstudie beobachten.
Rafa beobachtet seinerseits, wie seine Altersgenossen beruflich und auch persönlich an ihm vorbeiziehen und er gegenüber der Mehrheit der Altersgenossen weiter und weiter zurückfällt. Am Ende wird er nur noch sehr naive, unreife Persönlichkeiten beeindrucken können. Er ist im Grunde wütend auf sich selbst, doch er will diese Wut, die ihn ja weiterbringen könnte, nicht wahrhaben, und sie verwandelt sich in Haß, und für diesen Selbsthaß braucht er eine Zielscheibe, und hierzu verwendet er mich, als eine Person, die ihm etwas vorlebt, das er nicht erreichen wird.
Rafa wäre wahrscheinlich selbst gern Akademiker und hätte wahrscheinlich selbst gern einen Beruf, in dem andere auf ihn hören. Diese Möglichkeit jedoch hat er versäumt, seit fast 13 Jahren ist er ohne feste Arbeit, hat auch die Möglichkeit von Umschulung, 2. Bildungsweg etc. nicht genutzt. Es hätte für ihn ja auch bedeutet, daß er etwas tun muß, was andere von ihm verlangen, und er wollte nur noch Befehle verteilen, anstatt welche auszuführen. Doch wer vorwärtskommen will, muß bereit sein, zuzuhören, wenn andere reden, und zu akzeptieren, daß andere Leute einige Dinge besser wissen als man selber.
Im Grunde hat er sich selbst in einer Sackgasse festgefahren, und mich macht er nun für alles verantwortlich, was ihn an seinem Leben stört.
Rafa sollte einem leidtun, es fällt aber schwer, wenn man bedenkt, was er anderen Menschen bereits angetan hat.
Rafa scheint sich möglicherweise tatsächlich auf unser Gespräch am Ende von Kapitel 32 zu beziehen. Er droht mir in dem Kapitel ja, mir alle Finger abzuschneiden. Nun hat er seine "Nachtkuss"-Seite umgestaltet; guck mal dort nach und schau dir die Grafik an. Tz, tz.
Rafa ist ja bekannt als aggressiv (er hat Berenice zweimal dieselbe Rippe zertreten); nichtsdestoweniger habe ich den Eindruck, seine Haß-Attitude nimmt immer groteskere Formen an.

Berenice mailte zu Rafas Entgleisungen in seinem Profil bei der Online-Szene-Kontaktbörse SG., über die ich mich beschwert habe:

Tja, da hast Du wohl sehr gut seinen Nerv getroffen :)))) Bin gespannt, ob die Beschwerde etwas bringt.

Zu meinem Bericht, daß Rafa sein "Nachtkuss"-Gästebuch aufgelöst hat und stattdessen eine Hand präsentiert, der ein Finger fehlt, mailte Berenice:

Oh. Das ging ja nun alles ziemlich weit. Rafa ist eben so, wie er ist - man kann ihn nicht ändern. Und anderen mitzuteilen, wie er ist, bringt auch nichts, es sei denn, diese Leute erfahren es am eigenen Leib.

Isis mailte, auf welche Weise ihre Ehe mit Kiron zerbrochen ist. Kiron habe Isis wiederholt mißhandelt. Den gemeinsamen Sohn Gahan habe Kiron hingegen stets geschont, die beiden seien "ein Team". Kiron habe seine Frau mehrfach aus der gemeinsamen Wohnung geworfen. Er habe in der letzten Zeit mit Isis kaum noch Zärtlichkeiten ausgetauscht und betrunken mit anderen Frauen geflirtet, vor den Augen seiner Frau. Isis fand ein Gegengewicht zu ihrer frustrierenden Ehe mit Kiron: die Zusammenarbeit mit dem Musiker Steve N., der sie zur Leiterin seines Fan-Forums machte. Ende Juli des vergangenen Jahres habe Kiron mit Isis zur Abriß-Party der Discothek "Verlies" gehen wollen, die einer Shopping Mall weichen mußte. Es sei die Nacht zu ihrem Hochzeitstag gewesen. Gahan habe bei der Mutter von Isis übernachtet. Kiron sei an dem Abend so betrunken gewesen, daß er zu Bett gehen wollte. Er sei damit einverstanden gewesen, daß Isis mit den gemeinsamen Freunden zu der Party ging. Als Isis sich aber auf den Weg zu der Party machen wollte, sei Folgendes passiert:

Kiron sprang aus dem Bett auf und packte mich ... schmiss mich gegen eine steinbeklebte Säule im Flur ... ich schnappte sämtliche Schlüssel und sah zu, dass ich flüchtete ... In dieser Nacht starb meine Liebe zu Kiron endgültig ... es war heiss, ich tanzte, der Schweiss lief und die Tränen auf der Tanzfläche ... alles dunkel, niemand sah etwas, und ich hörte nicht auf zu weinen ... in mir starb etwas ... danach waren es noch weitere Dinge dieser Art ...
Eine Freundin bekam eines Abends so etwas mit, wo Kiron mich rauswerfen wollte ... ich rief die Polizei, nachdem ich hölzerne Hosenspannbügel an den Kopf bekam, wo Kiron meinte, mich rauswerfen zu wollen ... meinen Kleiderschrank ausräumte ... er wurde der Wohnung verwiesen bis zum nächsten Mittag ...
Ein sehr guter Freund von mir, Aeneas, nahm mich dann Anfang Oktober für eine Woche bei sich auf ... ich brauchte Ruhe.
Mittlerweile habe ich mich in Aeneas ziemlich verliebt. Er ist bestimmt, ruhig und intelligent und hat es geschafft, mich komplett zu verändern ...

Anfang Februar habe Kiron seine Frau endgültig hinausgeworfen. Isis schrieb:

Kiron ging wieder über meine Leute her, beleidigte viele, und ich wurde dann doch mal sauer. Aeneas sagte:
"So, jetzt reicht es ... der dreht wieder durch ..."
Kiron rief bei Aeneas an und drohte ihm (wie schon einmal) mit Gewalt:
"Ich zertrümmere dir deine Kauleiste."
Dann ging Kiron auf mich los, und Aeneas rief die Polizei an ... Ich wurde in dieser Nacht unter Polizeischutz aus der Wohnung geholt, konnte noch einen Koffer und ein paar Sporttaschen mit Kleidung usw. bestücken, wurde zur Wache gebracht ...

Isis konnte vorübergehend bei Siro in der Innenstadt von H. logieren. Siro hat eine geräumige Wohnung, in der ich schon viele Parties mitgefeiert habe. Isis berichtete, sie werde am kommenden Tag zu Aeneas ziehen. Die beiden wollen in der Nähe von AC. leben. Gahan werde bei Kiron und dessen Mutter bleiben:

Zu sagen hatte ich schon lange nichts mehr, sondern organisierte bloss alles an Tests, geeignete Schule ... Gahan bekommt zusätzlich eine Betreuung vom Jugendamt (Tagesmutter), denn offengestanden, meine Nerven sind am Ende ... Ja, es ist eine Flucht, es sieht rücksichtslos aus ... doch ich gehe sonst langsam vor die Hunde ... schaffe es nicht mehr, mit Gahan fertigzuwerden, wogegen Kiron und seine Mutter ja schon immer BESTENS und alles besser wussten ... Gahan ist gut aufgehoben und muss in seiner Schule bleiben (Förderschule, 2 Pädagoginnen für 5 Kids), denn dort wird sein soziales Verhalten gut trainiert ... er hat viel an Unterrichtsstoff übersprungen, muss aber eben sozial noch viel lernen, wie das beim Asperger-Syndrom nun einmal der Fall ist ... Ich habe lange überlegt und bin nun zu diesem Schritt gekommen ...
Ich muss nach einem Job suchen usw. ... das wird im Moment nicht ganz einfach werden ... aber ich muss diesen ungewissen Sprung ins kalte Wasser wagen ...
Fazit:
Viele Männer haben eine Totalklatsche, und denen ist nicht mehr zu helfen ... Lieben sollte man nur dann, wenn man merkt, dass es jemand auch will und etwas zurückkommt ... Fall Rafa wie auch Fall Kiron: unmöglich!!!

Ich schrieb:

Das mit eurer kaputten Ehe, das wußte ich wirklich noch nicht. Ich finde deine Entscheidung, zu gehen, sehr, sehr richtig! Gahan ist versorgt, um den brauchst du dir keine Sorgen zu machen; kümmern mußt du dich jetzt vor allem um dich selbst, und das tust du ja nun.

Azura hat Jobsorgen. Sie mailte, sie habe im vergangenen Jahr einen Traumjob gehabt, doch der Firma sei es schlecht gegangen, und man habe Personal abbauen müssen. Nun habe sie Depressionen. Zum Jahreswechsel schloß außerdem Azuras Lieblings-Location in M. Azura und ihre Freunde nahmen noch mehrere Parties mit, bevor alles zu Ende war und die Einrichtung versteigert wurde. Azura ersteigerte unter anderem das Hausnummernschild. Es sei ein bitterer Anblick gewesen, die Location ausgeschlachtet zu sehen:

Innen nichts mehr drin als der nackte Putz, die Bars und DJ-Pult rausgerissen und nur noch verbeulte Rohre, hängende Drähte und Staub und Dreck. Und mittendrin lag im Schutt noch auf der Tanzfläche ein einsamer Knicklichtarmreif von der letzen Party. Das taugte nicht mal für ein "cooles" Ruinenfoto, das hab ich mir erspart, denn ich fand es zu traurig. Das ist alles, was von 9 Jahren Heimat übriggeblieben ist.

Die Location soll abgerissen werden. Eine Nachfolgelocation gebe es bisher nicht.
Azura erzählte von Sidon, der ihr sagt, daß er sie liebt:

Wir werden nie ein Paar sein, aber es ist gut so, wie es ist und daß ich ihn kenne. Und im Gegensatz zu ihm habe ich ja immer noch einen treuen Partner, der immer für mich da ist und bei dem ich zuhause bin und mich geborgen fühle.

Shara mailte sinngemäß, Rafa habe recht, wenn er sich über mich aufrege. Ich würde Rafa nur "stalken" und könne froh sein, wenn Rafa mich nicht strafrechtlich verfolgen lasse. Ich müsse krank sein, wenn ich glaubte, ihn zu lieben. Ich sei ein "intelligentes, aber dummes Kind".
Für mich ist es interessant, zu beobachten, wie Menschen sich ereifern können, wenn es um eine fremde Beziehung geht. Shara kennt Rafa nicht, und mich kennt er nur flüchtig, dennoch ist er überzeugt, die Beziehung zwischen Rafa und mir verstanden zu haben. Er versucht voller Leidenschaft, mir meine Liebe zu Rafa auszureden oder sie als etwas Krankhaftes darzustellen. Er überschreitet dabei private Grenzen und scheint das nicht zu bemerken. Mit einem solchen Verhalten steht Shara nicht alleine da. Seit ich Rafa kenne, habe ich öfters erlebt, daß Menschen verständnislos auf meine Liebe zu ihm reagieren, mir Rafa ausreden wollen oder mich für krank halten, nur weil ich Rafa liebe, ohne mit ihm zusammenzusein. So manche scheinen es unerträglich zu finden, wenn ihnen jemand vorlebt, daß es möglich ist, einen anderen Menschen bedingungslos zu lieben und sich selbst treu zu bleiben, gegen alle Konventionen. Die Gesellschaft erwartet anscheinend, daß man innerhalb eines bestimmten Zeitraums mit einem Menschen zusammenkommen muß, den man liebt. Wenn dies nicht der Fall ist, wird erwartet, daß man sich von dem Menschen abwendet, den man liebt.
Allmählich glaube ich, daß Menschen häufiger eine Beziehung beginnen, weil sie nicht allein sein wollen, als daß sie eine Beziehung beginnen, weil sie sich einander verbunden fühlen. Und daß sie zu sich selbst und zueinander stehen, scheint die große Ausnahme zu sein.
Als ich Shara meine Sicht der Dinge zu erklären versuchte, mailte er unter anderem, mein "Analysevermögen" habe "schlappgemacht". Die Beziehung zwischen Rafa und mir sei "hoch pathologisch". Ich hätte es Sharas Ansicht nach versäumt, Rafa anzuzeigen. Ich sei deshalb "in der Defensive" und hätte "das sichere Territorium längst verlassen", und es gebe "ein böses Erwachen", was immer damit gemeint sein sollte.
Für mich geht es vor allem darum, mich von der Vorstellung zu befreien, daß jeder meine Argumente verstehen und respektieren muß. Wenn mich jemand in eine Diskussion hineinziehen will, will ich in der Lage sein, jederzeit reibungsfrei die Diskussion aufzulösen.
Am Samstag waren Constri und ich auf Clarices Geburtstagsparty. Ein Gast erzählte von seiner Studienzeit. Er war in einer katholischen Verbindung. Die christlichen Verbindungen seien nicht "schlagend", jedoch dem Alkohol ebenso zugeneigt wie die übrigen Verbindungen. Bei rituellen Veranstaltungen, die zwei- bis dreimal im Semester stattfanden, habe es einen offiziellen und einen inoffiziellen Teil gegeben, und der inoffizielle Teil habe in einem systematischen Gruppenbesäufnis bestanden. Im Rahmen von Spielen sei dafür gesorgt worden, daß jeder Student eine beträchtliche Menge Bier zu sich nahm. So etwa habe ein Student eine Geschichte erzählt, in der die Spitznamen aller Studenten in der Runde vorgekommen seien, und jeder, dessen Name fiel, habe aufstehen und eine Halbe Bier auf ex leeren müssen. Wenn er nicht sogleich aufgestanden sei, habe er in der Ecke stehen müssen, bis ein anderer ihn "freigetrunken" habe. Die übrigen Spiele seien in ähnlicher Weise abgelaufen.
Aviora, Clarices bisherige Mitbewohnerin, erzählte, daß das H.F.-Bandmitglied Herr Lehmann eine Zeitlang in sie verliebt gewesen sei, sie habe jedoch kein Interesse an ihm. Einer von Avioras Bekannten sei eine Zeitlang in Darienne verliebt gewesen; ihn habe beeindruckt, daß sie "Model" sei. Inzwischen habe er eine Freundin und wohl kein Interesse mehr an Darienne. Aviora mag weder Darienne noch Rafa. Im "Mute" trat vor einiger Zeit eine Band namens Ncor auf. Rafa stand am DJ-Pult. Aviora findet, daß es zwischen Rafa und dem Sänger von Ncor viele Ähnlichkeiten gibt. Auch der Sänger von Ncor soll ein narzißtischer Frauenheld sein. Er soll versucht haben, Aviora zu verführen, sie habe jedoch keine Lust auf ein One Night Stand gehabt. Aviora gegenüber habe der Sänger behauptet, mit Sadomasochismus nichts im Sinn zu haben. Einem anderen Mädchen gegenüber soll er jedoch behauptet haben, zu Hause habe er einen Käfig, in den er sich gerne einsperren lasse.
Nachts waren Constri und ich bei "Low Frequency", der Industrial-Partyreihe in BI. Dieses Mal wurden vom Thekenpersonal Mini-Schaumküsse im Publikum verteilt. Kaum ein "Low Frequency" vergeht, ohne daß es eine kleine Leckerei als besonderes Extra geschenkt gibt, angepaßt an die jahreszeitlichen Verhältnisse.
Ein Mädchen trug ein besonders ausgefallenes Kostüm. Es hatte einen weiten knielangen Lackrock an, schwarz, am Saum verziert mit weißen Linien und Quadraten. Um den Hals trug es einen Elizabeth-I.-Kragen, gemacht aus durchsichtiger Plastikfolie, gesäumt mit einer weißen Borte. Das Haar hatte das Mädchen rotgetönt und rechts und links zu hoch angesetzten Knoten aufgesteckt.
Ungewöhnliche Garderoben werden in der Industrial-Szene typischerweise nicht hinterfragt. Individualität ist hier die Regel, nicht die Ausnahme. Ein Partygast ging mit grüngelbem Papierblütenkranz um den Hals, ein Mädchen trug ein lindgrünes Fleecekleid mit orangefarbenen Punkten in der Taille, ein Mädchen trug ein flatterndes schwarzweißes Minikleid, feminin und zart, in einer Mischung aus Empire-Stil und Sechziger-Stil.
Tanzflächen-Highlights waren unter anderem "Butchers Ball" vom Cannibal Cooking Club und "Störfall" im Asche-Remix von Oszillotom.
Die Industrial-Konzerte, die es heute gab, waren sehr ähnlich einem DJ-Set, und die Menge tanzte dazu auch fast so wie zu einem DJ-Set. Es gab kein Gerempel, kein Gedrängel vor der Bühne, alles ging gesittet zu, und das Publikum gab sich dem Rhythmus hin.
Am Rosenmontag feierte die vierjährige Denise im Kindergarten Karneval. Sie ging als Braut und trug ein zartviolettes Taftkleid mit Perlenstickerei, das ich ihr gekauft habe. Noch ist das Kleid bei ihr knöchellang, es bietet Platz zum "Reinwachsen". Im Haar trug Denise einen mit zartviolettem Satin bespannten Reif.
"Denise war die Einzige, die ein richtiges Kleid trug, kein Karnevalskostüm", erzählte Constri. "Den Unterschied sah man auch. Und das sah so witzig aus, die große Denise zwischen den kleineren Mädchen ..."
Kleid und Reif waren nach der Feier etwas ramponiert, doch Denise hatte viel Spaß.
Im Kindergarten übernimmt Denise gern die Führungsrolle, und die anderen lassen sich gern von ihren Ideen mitziehen und anregen. Denise fügt Gruppen zusammen und stellt Kontakte unter den Kindern her. Wenn es nach ihr ginge, würde sie jeden Tag noch länger im Kindergarten bleiben.
Darien teilte in einer E-Mail seinen Eindruck mit, Constri komme mit ihrer Tätigkeit als Multimedia-Künstlerin auffallend langsam voran. Ich bin mit ihm einer Meinung. Constris Produktivität hat bereits während ihres Studiums sehr nachgelassen. Ich hatte gehofft, daß sie nach dem erfolgreichen Abschluß des Studiums in Gang kommen würde, jedoch bleibt es bisher bei symbolischen Projekten oder Projekt-Fragmenten. Ein Einkommen im eigentlichen Sinne erzielt sie nicht. Eine von Constris größten Schwächen ist das zögerliche Schneiden von Videos. Die Ergebnisse der meisten Videodrehs landen in der Schublade. Ich hoffe, eines Tages die Zeit und die Kraft zu finden, um das Schneiden selbst in die Hand zu nehmen. Bisher schlage ich mich mit überlangen Wochenarbeitszeiten herum, die immer länger werden, weil immer mehr Kollegen kündigen. Die Konzernleitung hat entschieden, sich nicht nach den neuen Arbeitszeitregelungen zu richten. Das treibt die Kollegen nach und nach in die Flucht. Es ist nur eine Frage der Zeit, daß ich ebenfalls den Job wechsele.
Eigentlich ist es absurd, daß ich als Mehr-als-Vollzeit-Beschäftigte darüber nachdenke, Constris Filme zu schneiden, während Constri Tag für Tag nichts oder fast nichts zustandebringt - obwohl ihre Tochter Denise einen Ganztags-Kindergartenplatz hat.
Darien hat für seinen Sohn Ciaran eine eigene Abteilung auf seiner Website eingerichtet, wo niedliche Kinderfotos zu sehen sind. Darien ist durch seine chronische Erkrankung deutlich belastet. Er hatte in diesem Winter mit Erkältungen zu tun und konnte deshalb bei der letzten "Stahlwerk"-Party nicht dabei sein.
Denises Vater Derek aka Missratener Sohn hat mir viele neue Tracks geschickt, die ich auf seine Internetpräsenz stellte.
Der langjährige "Stahlwerk"-DJ Rega mailte, er werde in Zukunft nicht mehr bei den "Stahlwerk"-Parties auflegen, weil ihm die weite Fahrt zuviel werde. Er wohnt inzwischen mehr als dreihundert Kilometer von HH. entfernt. Er hat eine Erinnerungs-Doppel-CD mit "Stahlwerk"-Tanzboden-Hits zusammengestellt und sendet sie auch mir.
Weil Rafas Beleidigungen gegen mich in seinem "Chromglanz"-Profil noch nicht verschwunden sind, schrieb ich am Mittwoch ein weiteres Mal an die Admins von SG.:

Dieser User hat mich beleidigt.
Der User "Chromglanz" äußert sich in seinem Profil beleidigend gegen mich (User Fractal), und zwar mit dem Satz auf Seite 1:

"...und wenn ich etwas hasse auf dieser eigentlich so wundervollen Welt, dann sind das fractale Subjekte*, die mir durch ihre "Stalkerei" die Welt zur Hölle machen."

und mit dem Satz auf Seite 7:

"* ...aber was will man von einem Stück Sch... auch schon groß verlangen?"

Ich möchte, daß diese Sätze umgehend aus dem Profil dieses Users entfernt werden.
Bereits am 16.02. hatte ich mich über den User beschwert, ohne jedoch bisher eine Antwort bzw. Reaktion erhalten zu haben. Ich bitte um eine baldige Antwort. Ggf. bin ich sonst zu juristischen Schritten gezwungen.
Mit Dank im Voraus für eine rasche Beseitigung der genannten Sätze bzw. eine Antwort auf diese Beschwerde

Fractal

Freitags im "Roundhouse" hatten Joujou und Marvel ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk für mich, Süßigkeiten aus Weingummi und Schaumzucker und eine selbstgebrannte CD mit Industrial-Titeln, die ich mir gewünscht hatte.
"Das ist immer so schön, wenn du im 'Roundhouse' bist", sagte Marvel.
Joujou ist in ihrer Firma aufgestiegen. Sie ist Abteilungsleiterin und muß repräsentieren. Sie bekommt ihre Tank-Kosten ersetzt, vielleicht demnächst auch einen Dienstwagen, und ihr wird der Krippenplatz für Jeanne bezahlt. Sie freut sich sehr über diese Entwicklung.
Max begrüßte mich freundlich. Er möchte nun doch erst im September sein Studium der Politikwissenschaften beginnen, in den Niederlanden. Ganz so sicher bin ich mir nicht, daß er diese Pläne umsetzt. Sein Vorhaben, Bundeskanzler zu werden, ist ein Running Joke geworden, und auch kleinere, realistische Vorhaben scheitern häufig bei Menschen, die großspurige Zukunftspläne schmieden.
Max wunderte sich, weil ich mir vieles zu merken versuche, was andere Leute mir erzählen. Ich meinte, es könne zur Gewohnheit werden, sich etwas merken zu wollen. Die Schwierigkeit bestehe darin, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen, und dabei könne einem manchmal nur noch der Instinkt helfen. Max verwechselte den Instinkt mit dem Zufallsprinzip. Ich erklärte ihm, daß der Instinkt keineswegs dem Zufallsprinzip unterliegt, sondern daß es sich vielmehr um ein vektorisiertes Auswahlverfahren handelt, das es einem ermöglicht, auf unbewußt wahrgenommene Nuancen zurückzugreifen und in kurzer Zeit große Datenmengen umzusetzen. Ohne solche Techniken sei es beispielsweise nicht möglich, ein komplexes Vorhaben wie eine Großveranstaltung zu organisieren. Wer nur nach bewußten verstandesmäßigen Abwägungen zu handeln versuche, könne komplexe Aufgaben nicht bewältigen.
"Er verzettelt sich", folgerte Max.
"Genau, er verzettelt sich", bestätigte ich. "Deshalb ist es so wichtig, daß man seinen Instinkt einsetzen kann. Dieses vektorisierte Verhalten ist etwas Ähnliches wie ein Autopilot."
Max ist mit der wesentlich strukturierteren, weit mehr der Wirklichkeit verhafteten Yara zusammen. Yara erzählte von ihrem Studium. Wenn sie weiter so fleißig ist, kann sie mit vierundzwanzig Jahren promovieren. Sie möchte als Dozentin an der Universität bleiben. Eine nachlässige Phase hatte sie nur im ersten Semester, danach arbeitete sie sich rasch und konsequent vorwärts.
Yara beobachtet den Werdegang der zwei Jahre jüngeren Darienne. Eigentlich soll Darienne vorgehabt haben, Visagistin zu werden. Sie entschied sich dann aber für eine Ausbildung zur Friseurin. Zeitweise hat Darienne sich darauf zurückgezogen, sie verdiene als Sängerin in zwei Bands genug, um auf eine Ausbildung verzichten zu können. Dann begann sie ein Praktikum in einem Friseursalon, was nach einem Monat endete. Im Sommer des vergangenen Jahres, ein Jahr nach dem Abbruch der Oberstufe, begann sie mit der Ausbildung.
Yara erzählte, Darienne habe immer auffallen wollen. Über Dariennes Art, sich zu schminken, sagte Yara, viele hätten diesen Stil als Vorbild genommen.
"Darienne schminkt sich so wie schon viele Hunderte vor ihr", meinte ich. "Sie hat diese Art des Schminkens nicht erfunden. Sie kann damit auch nicht mehr auffallen, denn viele andere sind genauso geschminkt."
Yara gefällt Dariennes heutiger Stil nicht:
"Das ist nicht mehr Darienne."
Yara findet, Darienne wirke inzwischen maskenhaft, starr, leblos.
"Früher war sie ein nettes kleines Mädchen", erinnerte sich Yara. "Heute ist sie nur noch arrogant."
"Sie will damit wahrscheinlich ihre Unsicherheit verdecken", meinte ich. "Aber dieser Schuß geht nach hinten los. Je arroganter sie ist, desto einsamer wird sie, und mit der Einsamkeit nimmt auch die Unsicherheit zu. Rafa kommt das entgegen, denn sie ist ihm umso mehr ausgeliefert, je weniger Freunde sie hat."
Yara ist auch aufgefallen, daß Darienne sich mehr und mehr isoliert.
Schon mit vierzehn soll Darienne auf Szene-Parties gegangen sein. In diesem Alter soll sie auch ihre ersten Beziehungen gehabt haben, damals wie heute bevorzugt mit deutlich älteren Männern. Darienne soll allerdings immer wieder betont haben, Sex mache ihr keinen Spaß.
"Zu Tyra hat Rafa gesagt, daß Sex mit Darienne für ihn nichts anderes ist als Essen bei 'McGlutamat'", erzählte ich. "Er sei mit Darienne zusammen, weil er gerne bei 'McGlutamat' ißt."
"Rafa und Darienne sind wahrscheinlich beide nicht glücklich", vermutete Yara.
"Da bin ich mir sicher, daß sie beide nicht glücklich sind", sagte ich.
"Wenn jemand so viel Haß in sich hat, kann er nicht glücklich sein", meinte Yara.
"So ist es!" bestätigte ich. "Genauso ist es. Wer haßt, ist niemals glücklich."
Am Samstag war ich mit Heloise und Barnet in Clh., wo eine Party stattfand, die Goa und Gothic zusammenführen wollte. Das gestaltete sich vor allem deshalb schwierig, weil die Goa-Jünger mehrheitlich große Mengen von Drogen genommen hatten und in nachlässiger Kleidung tierhaft herumhüpften oder -schlichen. Gespräche waren mit ihnen nicht führbar, sie brachten kaum mehr als ein abwesendes Grinsen zustande. Die Leute aus dem Elektro-Wave-Gothic-Bereich - mehrheitlich in gepflegter und phantasievoller Garderobe - waren wesentlich nüchterner und in der Lage, Gespräche zu führen. Ein "Mittelding" bildete Ellyna, ein kleines, rundliches, burschikos gestyltes Geschöpf im schwarzen T-Shirt. Sie kannte mich von den "Stahlwerk"-Parties in HH., war auch im "Zone" heimisch und heute voller Drogen. Sie wunderte sich, daß ich fror, und ich meinte:
"Es ist hier wirklich kalt, aber es kommt sicher auch darauf an, was man genommen hat."
Ellyna erzählte, daß sie sich einmal im Monat "zuhaut". Ich erzählte, daß ich weder rauche noch Drogen nehme und auf Feiern kaum mehr als ein Glas Sekt und einen Likör trinke.
"Ich rauche auch nicht und trinke auch nicht", lallte Ellyna. "Jedenfalls finde ich dich irgendwie putzig."
Die Veranstalter hatten sich viel Mühe mit der Deko gegeben. Es gab viele Schwarzlichtröhren und Wandbilder, die an einen Halluzinogen-Trip denken ließen. In dem Raum, der für den Gothic-Anteil bestimmt war, hingen künstliche Spinnweben. Am Eingang durfte jeder Gast zwischen einem Vampirgebiß aus Plastik und einer Lecksonne wählen.
Chrysa, eine Bekannte von Heloise und Barnet, trug ein Kleid von Cyberdog, das mit großen, seitlich aufgebrachten Spinnweben verziert ist. Die Spinnweben sind aus einem gummiähnlichen Material hergestellt, das im Schwarzlicht leuchtet. Chrysa sieht mit ihren zweiunddreißig Jahren ohne Weiteres zehn Jahre jünger aus. Über Rafa sagte sie, der sehe entsetzlich verbraucht aus und deutlich älter, als er ist. Auch Darienne findet sie schon ziemlich verbraucht, über die Jahre hinaus.
"Das macht auch der Gesichtsausdruck", meinte ich. "Wer freundlich guckt, sieht auch dann noch nett und angenehm aus, wenn er älter ist. Darienne guckt aber starr, arrogant, mit heruntergezogenen Mundwinkeln."
"Stimmt."
Chrysa meinte, sie könne nicht verstehen, wie Rafa es immer wieder schafft, junge Mädchen zu beeindrucken.
"Das ist eine Masche", meinte ich. "Der weiß genau, was er den Mädchen erzählen muß. Er sagt ihnen genau das, was sie hören wollen. Damit kriegt er sie. Allerdings sucht er sich vor allem unsichere, unbedarfte Mädchen aus, bei denen er es leicht hat. Und er kriegt keineswegs jedes Mädchen 'rum, das er angräbt."
Chrysa wunderte sich über den Erfolg, den Rafa sich mit W.E erarbeitet hat:
"Das war doch mal ein ganz kleiner Act, die wurden doch überhaupt nicht ernst genommen."
"Rafa hat sich einen Fankreis geschaffen", bestätigte ich, "er ist konsequent immer wieder aufgetreten, so hat er schließlich seine Fans gefunden. Eine Zeitlang bewegte er sich auch vorwärts, brachte jedes Jahr ein Album 'raus. Inzwischen stagniert er musikalisch, ihm fällt kaum noch etwas ein, und er schafft nur noch alle viereinhalb Jahre ein Album."
"Das kann er nicht bis zur Rente weitermachen."
"Kann er auch nicht", war ich sicher. "Und leben kann er davon auch nicht. Er kommt nur zurecht, weil er immer noch bei seiner Mutter wohnt."
"In dem Alter."
"Ja. Und er muß zusehen, wie seine Altersgenossen ihn einer nach dem anderen überholen. Umso mehr zieht er sich zurück. Ich lebe ihm ja auch etwas vor, das er selbst gern erreicht hätte. Ich bin Akademikerin und verdiene mehr, als er jemals verdienen wird. Das ist wohl einer der Gründe, warum er mit mir nichts mehr zu tun haben will."
Chrysa hat sich in ihrem Leben bisher in zwei Männer verliebt. Mit dem ersten war sie fünf Jahre lang zusammen, bis die Beziehung scheiterte. Mit dem zweiten war sie danach zusammen, deutlich kürzer, und sie ist über die Trennung noch nicht hinweggekommen. Der Mann sei ein Junkie und habe sie belogen in vielfacher Hinsicht, somit sei eine Fortführung der Beziehung unmöglich gewesen.
"Ich habe alles falsch gemacht", seufzte sie. "Ich wollte ihn von den Drogen wegbringen, und ich glaube, ich habe es in jeder Hinsicht falsch angestellt."
"Du konntest gar nichts falsch machen", meinte ich, "denn egal, was du getan hättest, du hättest es eh nicht geschafft, ihn von den Drogen wegzubringen."
"Ich habe mich richtig aufgeopfert für ihn."
"Das sollte man allerdings nicht tun. Es hilft niemandem, wenn man sich aufgibt."
Barnet hat Rafa vor einigen Monaten in Bad N. gesehen, auf einem Flohmarkt, der immer am letzten Sonntag eines Monats auf dem Parkplatz eines Möbelhauses stattfindet. Rafa trug eine enge längsgestreifte Hose und spitze schwarze Schuhe. Er suchte in alten Vinylplatten herum. Niemand war bei ihm, er stöberte allein.
"Mann, sah der fertig aus", meinte Barnet.
Marvel soll so ziemlich das Gegenteil von Rafa sein. Rafa ist hektisch und zittrig, Marvel ist ruhig und besonnen. Als DJ wird auch Marvel umschwärmt und angebetet, doch er fühlt sich davon eher genervt. Er hat kein Verlangen nach Abenteuern. Er möchte nur eine verläßliche Beziehung.
Bevor Marvel mit Joujou zusammenkam, war er mit Sylphide zusammen. Die war ihm zu hektisch und zu hochfahrend. Er trennte sich von ihr. Kurz danach lernte er Joujou kennen. Sylphide ist auf Joujou seitdem nicht gut zu sprechen, obwohl Joujou ihr Marvel nicht "weggenommen" hat.
Charlize und Darius traten heute als Das P. auf und boten eine abwechslungsreiche Bühnenshow. Zwei Glasgefäße standen auf der Bühne, mit in Spiritus eingelegten Schweineherzen darin. Ein Mädchen lag zugedeckt auf einem Tisch, und Darius - in Einweg-Kittel und Handschuhen - tat so, als würde er ihr das Herz herausnehmen; er hielt schließlich ein Schweineherz in die Höhe.
Charlize - ebenfalls im Kittel - ging mit einer Tablettenschachtel herum, in der sich Roxithromycin befunden hatte, und zog Bonbons heraus, die sie den Leuten in Publikum in den Mund steckte. Dann ging sie mit einer Perfusorspritze voller Kirschsaft herum und verteilte auch diesen in die Münder des Publikums.
Darius und Charlize spielten viele neue Stücke ihrer Band und auch "Tanz mit deinem Gefühl" aus der Zeit, als Rafa noch dazugehörte. Im Frühjahr soll das neue Album erscheinen, das erste ohne Rafa.
Als ich mich Ende Februar nochmals an die Admins von SG. wandte und auf Rafas Beleidigungen in seinem "Chromglanz"-Profil bei der Online-Szene-Kontaktbörse aufmerksam machte, tat sich endlich etwas. Ich bekam eine freundliche Message:

Hallöchen Fractal,
deine Beschwerden wurden zum einen registriert und ich habe mich heute darum gekümmert. In dieser Sache müsste nun Ruhe herrschen. :-)
Es ist aber so, dass wir nicht sofort auf jede Beschwerde dieser Art reagieren können. Rasch hat man mal eine Meinungsverschiedenheit mit einem anderen User und schreibt vorschnell eine Beschwerde. In deinem Fall lag es jedoch anders und eine Reaktion unserseits war notwendig.

Ich bewertete diese Antwort mit "sehr gut / hilfreich" und einem deutlichen "Danke!".
Rafa änderte nun den Eintrag auf Seite 7 seines "Chromglanz"-Profils:

* ... ahh schon wieder am "Stalken"?! Kümmer' dich verdammt nochmal um dein eigenes Leben. Da hast du weiss Gott genug zu tun!

Den Spruch von Seite 1 meines Profils löschte ich danach. Rafa hatte seine Beleidigungen ja auch gelöscht.
Anfang März verschwand Rafas "Chromglanz"-Profil. Es steht zwar noch online, ist aber versteckt und nur gezielt über eine URL anwählbar. Man kann das Profil über die SG.-Website und deren Suchfunktionen nicht mehr finden. Ich bin überaus erleichtert. Als ich diese erfreuliche Entwicklung Aramis mitteilte, schrieb er:

Und nu is der Rafa wieder weg :P

Ich schrieb:

Warum mußte er mich auch beleidigen ...

Minya kommentierte die Ereignisse um Rafas Beleidungen:

Oh, was ist denn da los?
Mensch, dass Rafa nen Schaden hat, ist bekannt, aber ich hätt keine Lust an deiner Stelle auf so nen Kindergarten ...

Am ersten Freitag im März waren Constri und ich im "Mute". Dort gibt es noch immer Parties mit Kappa, eine Art Ersatz für die "Halle", die vor neun Jahren für immer geschlossen wurde.
Als wir aus dem "Mute" kamen, begegnete uns Saverio, der auf dem Weg nach Hause war und nicht ins "Mute" wollte. Er wohnt jetzt mit Clarices ehemaligem Freund Damian zusammen, in der Nähe des "Mute". Saverio schwärmte von einer Gabba-Party auf einem internationalen Techno-Festival, dessen Hymne "Insomnia" von Faithless ist. Wenn man zur Gabba-Party hineinkomme, sei es, als würde man sich im Inneren einer Bass-Box befinden.
Am Samstagnachmittag besuchte ich meine Mutter zum Geburtstagskaffee. Constri hatte die Tische mit Efeuranken und Blüten dekoriert. Die Gäste gingen umschichtig zu Wilf ins Pflegezimmer; sie besuchten ihn einzeln, um ihn nicht zu überfordern. Wilf ist vor wenigen Tagen sechsundachtzig Jahre alt geworden, nun schwer dement, nicht mehr mobil und dauerhaft ein Pflegefall.
Abends war ich bei Mal und Dedis in HH. Sie hatten die "Stahlwerk"-Stammgäste Irvin, Heyro, Samantha und Dagda zu Gast. Mal spielte uns Tonträger mit elektronischer Minimal-Musik vor und verkaufte mir zwei ungewöhnliche Vinyl-Werke. Das eine war eine 7'' mit historischen Stücken von Notstandskomitee - darunter das charmante "Interstellare Liebe" und das schräge "Einbauküchen" -, das andere war eine 12'' aus gelbem Vinyl, ein Sampler, auf dem außer Mals Projekt Konform auch Stücke anderer Minimal-Bands wie File not found vertreten sind.
Nachts gegen halb eins fuhren wir zu "Stahlwerk". Dedis, die erkältet war, blieb zu Hause, wir anderen stiegen zu sechst in mein Auto.
"Das ist ein Zermedes, da geht das", wußte Mal.
Diddo macht sich immer femininer zurecht; sie trug dieses Mal eine schlichte schwarze Kombination aus einem schmal geschnittenen Oberteil und einem überknielangen Rock. Ihr Haar trug sie offen, und sie war nur dezent geschminkt. Sie ist schlanker als früher und wirkt sehr damenhaft.
Sirio machte viele Fotos, vor allem von Diddo, in die er seit Langem verliebt ist. Für Diddo ist Sirio aber nur ein guter Freund, und das scheint er inzwischen akzeptiert zu haben.
Sasso tanzte mit mir eine Art Foxtrot. Sirio tanzte mit mir Tango, wobei ich den Eindruck hatte, daß er diesen Tanz wirklich beherrscht; ich jedoch kenne mich damit nicht aus.
Ivco mailte am Montag, er habe am Samstag - während ich bei "Stahlwerk" war - in seinen Geburtstag hineingefeiert. Es sei eine große Party gewesen, zu der irgendwann auch Rafa erschienen sei. Das muß nach Rafas DJ-Set im "Memento Mori" gewesen sein, also erst gegen Morgen.
Artemis war am Samstag im "Memento Mori", wo ich auch gern gewesen wäre, doch ich gab "Stahlwerk" den Vorrang. Artemis mailte, Rafa habe "geil aufgelegt".
Darien bedankte sich in einer E-Mail für meine Geburtstagsgrüße. Er berichtete, er habe es wieder nicht zu "Stahlwerk" geschafft:

Habe vor dem Computer gesessen und programmiert. Bin gerade an einer Neuauflage meines Klangstudios. Möchte doch gerne wieder mal einen Auftritt im "Barcode" haben und setze den langen, langen Weg des Künstlers zu seinem Weg weiter fort.

Berenice mailte:

Ich habe jetzt in einem Buch gelesen, dass jeder Mensch anders ist zu jeweils anderen Leuten. Ich denke, Tyra wird dasselbe sagen wie ich: Rafa war anders zu uns, wenn wir alleine waren. Und so ist er sicher auch zu Darienne: nett, fürsorglich, sorgend etc.
An Rafa und unsere Zeit kann ich schon kaum noch denken, weil alles größtenteils verschwommen ist. Ich bin heute nur noch riesig froh, ihn los zu sein und mein Leben mit einem Menschen teilen zu dürfen, der mich so sehr liebt und der mich so nimmt, wie ich bin (ohne Gemecker, wie eben von Rafa) - der sogar liebevoll über mein Gezicke lacht und mich so damit auffängt :) Anstatt mir eine zu knallen ;)
Rafa kann nicht lieben, nur sich selbst. Rafa ist ein Künstler darin, Mädchen zu umwerben - sogar ich habe ihn anfangs geliebt. Dachte ich. Im Vergleich zu heutigen Gefühlen war das damals sicher keine echte Liebe, aber zu mehr war ich früher nun mal nicht fähig.
Vielleicht erwartest Du zuviel von der Liebe? Ich habe sehr lange gebraucht, und viele, viele Fehlversuche hinter mich gebracht, um heute endlich mal so empfinden zu können :)

Zu Rafas wiederholt geäußertem Wunsch, die Menschheit auszurotten, mailte Berenice:

Menschheit ausrotten. Er will das ausrotten, was er selber täglich darstellt. Wie einfallsreich. Kritik. Hm, ein Thema in seinem Leben anscheinend. Er hat ja früher immer schon die Realität zu seinen Gunsten verdreht ("nein, habe nicht mit ihr geschlafen" - obwohl ich genau wusste, dass er es doch getan hat, weil er es mir selber gestanden hat - aber er glaubte fest daran, dass er es nicht getan hat) - aber heute ist jeder Kritiker sein persönlicher Feind.

Ich mailte, daß Rafas Profil bei der Online-Szene-Kontaktbörse SG. inzwischen gelöscht ist. Berenice kommentierte:

Aha! Na, erlebt er es auch noch, in seine Schranken gewiesen zu werden ;) Kann ja nur gut für ihn sein :)

Shara erzählte von seinen drei Katzen. Die älteste ist einundzwanzig Jahre alt und hat vor anderthalb Jahren eine große Operation überstanden. Ich erzählte, daß meine Katzen gerne neben meinem Kopfkissen schlafen. Shara erzählte von den Konzerten, die er gesehen hat. Es gibt mehrere Bands, die wir beide gesehen haben, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten. Dazu gehören Love is colder than Death, die Legendary Pink Dots und Napalm Death.
Am Freitag war ich bei Heloise und Barnet. Heloise feierte ihren Geburtstag. Das liebevoll renovierte uralte Stadthäuschen erinnert an eine Puppenstube und wird immer wieder anders dekoriert. Auf der Innentreppe steht eine Schaufensterpuppe. In einem Regal sind Miniaturen aus "Nightmare before Christmas" von Tim Burton ausgestellt.
Joujou war auch auf der Party. Die sechzehnjährige Felicity hatte ihren Freund zu Besuch. Er ist in ihrem Alter. Felicity ist dabei, sich selbst zu finden. Beruflich interessiert sie sich für Design.
In der Samstagnacht war ich im "Radiostern". Ein Spaßvogel hatte das Holz neben einem der Kamine in Brand gesetzt, wohl weil er das Holzlager mit einem Kamin verwechselte. Deshalb gab es Löscharbeiten.
Zu den Tanzflächen-Highlights gehörten "Half Life" von ORPHX und "Epoch" von This morn' omina.
Morgens waren Timon und ich bei "McGlutamat" zum Frühstücken, und es gesellten sich mehrere "Übriggebliebene" aus dem "Radiostern" zu uns. Den Salat kann man dort durchaus essen, finde ich. Zum Wachbleiben bestellte ich eine Mischung aus Cappuccino, Espresso und heißer Schokolade.
Im Schein der Morgensonne fuhr ich über die A7 und dachte:
"Eigentlich geht es mir so gut, daß andere nur davon träumen könnten; ich brauche mich also gar nicht zu beschweren."
Wieviele Menschen haben sich in unglücklichen Ehen selbst gefesselt, wievielen Menschen gelingt es nicht, Verantwortung zu delegieren, um wenigstens gelegentlich am Wochenende die Nacht durchzufeiern.
Nein, ich hätte es nicht vorgezogen, die Nacht auf Rafas schmutzigem Kellersofa zu verbringen. Nein, ich hätte es nicht vorgezogen, ihm beim Computerspielen oder DVD-Gucken Gesellschaft zu leisten. Genauso sieht aber der Part aus, den Rafa seinen Freundinnen zuweist. Sie sollen devot und anspruchslos sein, sie sollen keinen eigenen Freundeskreis besitzen, keine enge Bindung an ihre Verwandten haben und keine sinnvolle Lebensaufgabe haben, nicht einmal Kinder sollen sie bekommen. Und sie sollen allzeit verfügbar sein, wie Gummipuppen.
Am Sonntagnachmittag war ich bei meinem Vater, der seinen Geburtstag vorfeierte. Er erzählte von seinem Klassentreffen zum 50. Jubiläum des Abiturs. Von denen, die noch am Leben sind, waren fast alle erschienen.
"Einige sind schon so alt geworden", meinte er. "Da fällt einem ein, daß man ja schon fast siebzig ist."
Constri hat festgestellt, daß mein Vater sich von seiner früheren Freundin Bellatrix in schmutzige Geschäfte hat verwickeln lassen; augenscheinlich versucht sie, ihre marode Firma auf seine Kosten zu erhalten. Mein Vater scheint sich von Bellatrix regelrecht ausnehmen zu lassen. Er läßt jedoch nicht zu, daß an ihrer Person Zweifel angemeldet werden. Bellatrix ist ein Mensch, der überredet, statt zu überzeugen, und mein Vater ist ein Mensch, der leicht auf Überredung hereinfällt - umso leichter, je dreister sie angewendet wird.
Mitte März war Constri bei Kappa und plante mit ihm eine Videoperformance in der "Neuen Sachlichkeit" für ein Sommerfestival. Der zweite Teil des Festivals soll im "Read Only Memory" stattfinden. Constri will zwei der hohen Fenster in der "Neuen Sachlichkeit" mit Leinwänden verhängen und darauf Videosequenzen projizieren, außerdem sollen Videos auf der großen Leinwand laufen.
Im "Roundhouse" traf ich Joujou. Wir unterhielten uns über Tyra, die immer schlechter zu erreichen ist und sich regelrecht zu verkriechen scheint. Joujou hat Tyra auf deren katastrophale finanzielle Situation angesprochen:
"Du solltest allmählich zu den Leuten gehören, die ihr Geld selber verdienen können."
Tyra entgegnete, sie wisse nicht so recht, wie sie ihre berufliche Zukunft gestalten könne.
"Du hast so viele Möglichkeiten", mahnte Joujou, "du mußt sie nur nutzen! Ich habe ein Abitur von 1,6 - und ich habe mich ab Sommer für BWL und Chinesisch eingeschrieben."
"Oh, das hätte ich nicht von dir gedacht."
Joujou erlebt wahrscheinlich in Tyras Verhalten eine Wiederholung dessen, was sie mit Darienne erlebt hat. Für beide ist sie bereit, sich zu engagieren, und von beiden fühlt sie sich enttäuscht.
Darius traf ich auch im "Roundhouse". Er meinte, es sei eine lustige Party gewesen in Clh. Es sei zwar nicht sehr viel los gewesen, dennoch habe es Spaß gemacht, dort mit Das P. aufzutreten.
"Das wäre was, wenn wir eher unser Album herausbringen als H.F.", merkte Darius an.
"Das kann durchaus sein", meinte ich. "Wenn euer Album im Mai erscheint, ist das Album von H.F. wahrscheinlich noch nicht draußen. H.F. scheint eine Totgeburt zu sein ... Rafa scheint kaum noch in das Projekt zu investieren. Er wollte ja unbedingt etwas völlig Neues schaffen, doch bei dem Konzert von H.F. von einem Jahr im 'Lost Sounds' wurden fast keine Stücke gespielt, die wirklich von H.F. waren, sondern fast nur Stücke von Das P. und W.E."
"Was, ehrlich?"
"Ja."
"Na ja, guck' dir an, was er sonst aus sich macht und aus seinem Leben ..."
Die Musik, die Marvel auflegte, fand ich wieder einmal hinreißend. Um die späte Stunde, wenn ich ins "Roundhouse" komme, läuft fast ausschließlich Elektro-Industrial. Über abgründigen Rhythmen schweben entrückte Soundlinien. Zu den Highlights gehörte heute ein Stück, dessen alberner Text einen Gegensatz zu der extrem tanzbaren Musik bildet: "One Night in New York City (Chris Liebing Remix)" von The Horrorist. Die Nacht klang aus zu dem dahinfließenden Instrumental-Stück "Clubbed to Death (Kurayamino Mix)" von Rob Dougan, das Marvel gerne zum Schluß spielt.
Am Sonntag gab ich das diesjährige Osterkränzchen. Wir unterhielten uns über das Einschlafen in Vorlesungen. Layana erzählte, wie sie in einer Vorlesung in der ersten Reihe saß und immer wieder einnickte. Das nächste Mal setzte sie sich weiter nach hinten, damit es nicht so auffiel. Rixa erzählte, wie eine Kommilitonin in einer Vorlesung schlafend in sich zusammensackte, mit dem Kopf auf eine Holzlehne schlug und mit einem langgezogenen "Aua" erwachte. Da hatte sie die Lacher auf ihrer Seite.
Layana erzählte von der Gleichmacherei in ihrer Kindergarten- und Schulzeit. Den Kindern wurde vorgeschrieben, was sie wann zu lernen hatten, und sie durften nicht mehr und nicht weniger in der vorgeschriebenen Zeit lernen. Es war ausdrücklich verboten, lesen zu lernen, ehe man zur Schule kam. Wer es dennoch tat, galt als "schlecht". Layana galt deshalb als "schlecht". Dazu konnte auch ich etwas erzählen - von der Grundschullehrerin, die mit mir nichts anzufangen wußte, weil ich bei der Einschulung lesen und schreiben konnte. Das war nicht vorgesehen im Lehrplan. Weil ich es für sinnlos hielt, Aufgaben zu bearbeiten, mit denen ich unterfordert war, galt ich als verhaltensauffällig und sollte auf die Sonderschule. Clarice erzählte, daß man sie ebenfalls auf die Sonderschule schicken wollte, auch wegen angeblicher Verhaltensauffälligkeiten. Die Verhaltensauffälligkeiten bestanden darin, daß sie aufhörte, sich im Unterricht zu beteiligen. Das lag daran, daß die Lehrerin Clarices Mitschülern erlaubte, Clarice zu verprügeln, wenn sie im Unterricht eine verkehrte Antwort gab. Um nicht verprügelt zu werden, sagte Clarice überhaupt nichts mehr.
Eher durch Zufall kamen Clarice und ich dann doch nicht auf die Sonderschule.
Clarice erinnerte sich daran, wie Rafa vor elf Jahren auf meiner Geburtstagsfeier versucht hat, etwas mit ihr anzufangen:
"Damals kannte ich Rafa nicht. Wir waren im Garderobenzimmer. Erst habe ich ihn den Kerl sein lassen, aber irgendwann habe ich den Spieß umgedreht. Ich mag es nämlich nicht, das Mädchen zu spielen. Da hat er es mit der Angst zu tun gekriegt. Er hat gemerkt, daß ich nicht das unbedarfte kleine Mädchen war, für das er mich gehalten hat. Und dann kam auch noch Hetty 'rein, da war es ganz aus. Und nachher hat Hetty mir erklärt, daß er das Ganze sowieso nur abgezogen hat, um sie zu ärgern. Da habe ich ihm im 'Elizium' eine Predigt gehalten, die er wohl nie vergessen wird."
Clarice ist immer noch beeindruckt von Dariennes Makeup:
"Die sieht wirklich so aus, als sei sie mit Plastik überzogen."
Tyra ist kaum noch erreichbar und meldet sich auch von sich aus nicht mehr. An Berenice mailte ich:

Als ich Tyra im Januar darauf angesprochen habe. daß sie manchmal wochenlang nicht erreichbar, ja "nicht vorhanden" ist, hat sie bestätigt:
"Manchmal löse ich mich auf wie eine Aspirintablette."
Das Sich-Auflösen hat, da bin ich sicher, neurotischen Charakter, d.h. unbewußt wird es gezielt herbeigeführt als selbstnegierendes Verhalten ("ich bin wieder viel zu sehr da, ich muß mich endlich mal wieder auflösen") bei einer Selbstwertstörung. Auch daß Tyra immer wieder vergißt, was andere Menschen (respektive Rafa) ihr angetan haben, hat, vermute ich, neurotischen Charakter.
Heute hatte ich eine "Begegnung der 3. Art". Ich rief Tyra mal nicht über mein Handy an, sondern übers Festnetz, wie Rafa das zu tun pflegt. Da ging sie sofort dran! Und sie drückte das Gespräch sofort weg, kaum daß sie meine Stimme hörte. Was sie auf einmal gegen mich hat, weiß ich nicht. Ich kann es mir nur so erklären, daß der schwer manipulative Rafa, erbost über seinen Rauswurf bei der Szene-Kontaktbörse SG., Tyra irgendeinen gequirlten Unsinn über mich erzählt hat, den sie, labil, wie sie ist, sogleich geglaubt hat, neigt sie doch dazu, alles immer wieder zu vergessen, was er ihr angetan hat. Vielleicht gaukelt er ihr wieder einmal vor, eigentlich wolle er ja gar nichts von Darienne, sondern er liebe nur Tyra und und ...
Daß das für Tyra letztlich zum Desaster wird, ist leicht vorauszusehen für jemanden, der die Geschichte von außen betrachtet. Tyra hingegen fällt es schwer, Rafas Verhalten aus einer heilsamen Distanz zu betrachten. Sie kann sich keine sachlichen Notizen machen, ohne durch das pure Lesen schon in einen depressiven, selbstnegierenden Strudel zu geraten. Somit ist ihr diese Möglichkeit, ihre Beziehung zu Rafa sachlich zu bearbeiten, verwehrt, und angesichts ihres ohnehin selektiven Gedächtnisses ist sie dann sehr schnell seinen Manipulationen ausgeliefert.
Also - Tyra gibt es noch, doch hat sie sich offenbar wieder einmal in eine äußerst ungesunde Selbstisolation begeben, zerstört ihre eigenen sozialen Bezüge und hält sich möglicherweise wieder für Rafa als "Stand-by-Sklavin" zur Verfügung.
Anstatt das Gespräch zu suchen und sich mit möglichst vielen Leuten über Rafas Äußerungen zu unterhalten, zieht sie sich zurück und bildet für jemanden, der sie nach seinen Wünschen manipulieren will, eine leichte Beute.

Berenice mailte:

Ist wirklich eine komische Sache. Und sie vergisst, was ihr andere angetan haben? Hm, hört sich an wie bei mir ;) Aber ich kenne wenigstens die Ursache und kann damit umgehen und es auch anderen Menschen erklären - aber ob Tyra das auch alles über sich weiß???
Dass Tyra auf Rafas Gequatsche reinfällt, klar! Sie ist weder die Erste, noch wird sie die Letzte sein!!! Er ist einfach zu gut und überzeugend. Ich glaube, so dreist kann man nur lügen, wenn man gar kein Gefühl für die Person gegenüber besitzt.

Über Liebe mailte ich:

Rafa kann nicht lieben, und zwar deshalb, weil er sich selbst nicht liebt. Er hat eine frühe Störung, eine narzißtische Persönlichkeitsstörung. Die in ihm eigentlich angelegte Fähigkeit, zu lieben, wurde nicht ausgebildet bzw. kann nicht ausgelebt werden. Die unbewußte Sehnsucht nach Liebe versucht er durch Selbstüberhöhung und Entwertung anderer Menschen zu kompensieren.
Liebe kenne ich ja aus meiner eigenen Erfahrung; man kann, so habe ich erlebt, gar nicht genug von ihr erwarten, sie übertrifft immer alle Erwartungen. Wenn man jemanden liebt, erfährt man ein Gefühl der Unverletzbarkeit und ein Gefühl wie "hier gehöre ich hin", "das bin ich wirklich", und man hat einen unerschöpflichen Energiequell zur Verfügung. Man hat das Gefühl, sein Gegenstück getroffen zu haben, seine zweite Hälfte. Es fügt sich so selbstverständlich aneinander, wie ein Schlüssel in ein Schloß paßt. Man muß nicht darüber nachdenken, wen man liebt, es ist eindeutig.

Zwei Tage später mailte ich ein Postscriptum an Berenice:

Tyra meldete sich nun endlich per SMS und betonte, alles sei in Ordnung; sie wolle nur gerade niemanden sehen + hören. Na, bin gespannt, was (wer) dahintersteckt.
Ach ja, was mir zu dem schwer beschreibbaren Phänomen "Liebe" noch einfällt:
Es ist etwas, das dem Leben Farbe und Struktur gibt und Sinn und Inhalt.

Berenice mailte:

Ich sehe in der Liebe keinen Lebensinhalt oder Sinn. Im Gegensatz zu Dir erwarte ich gar nichts von ihr. Ich staune nur jeden Tag, was mir widerfährt, und bin sehr glücklich darüber. Dennoch fühle ich mich nicht unverletzlich dadurch, wie Du es schreibst. Ich kann mich 100%ig auf Baryn verlassen, aber die Liebe / Partnerschaft hat nicht einen so hohen Stellenwert für mich, dass ich dadurch die Probleme und Sorgen des Lebens vergessen oder auch nur leichter ertragen kann.

Auf meiner Website gibt es inzwischen die Kurzgeschichte "Egoshooter", die von einer Art Blaubart in Türkis handelt, einem Mädchenmörder, der durch einen Androiden unschädlich gemacht wird. Berenice kennt die Geschichte auch schon. Ich mailte:

Schön, daß dir "Egoshooter" gefällt. Es wird noch mehr solcher Stories geben, ich habe ja sonst nichts, wo ich meine Wut unterbringen kann.

Berenice mailte:

Ich finde das klasse, wie Du das machst!!! Ich schlucke meine Wut immer noch hinunter, was die Tatsache angeht, dass W.E immer noch meine Stimme vom Band benutzen. Trotz ausdrücklicher Aussage von mir, dass ich das nicht will. Da machst Du das schon besser.

Ich mailte:

In den Shortstories, die stets frei erfunden sind, geht es darum, belastende Inhalte unter immer wieder anderen Aspekten zu beleuchten, zu überzeichnen, auf die Spitze zu treiben und hin- und herzudrehen, denn das gehört zu dem Prozeß der Verarbeitung. Und weil die Shortstories frei erfunden sind und nicht selten surrealistisch-märchenhaft, kann ich mich da so austoben, wie ich will. Niemand kann mir den Vorwurf machen, ihn diffamiert zu haben.

Sándor erzählte in einer E-Mail von seinem Leben in Ungarn. Er studiert Bibliothekswissenschaft. Er ist Werkstudent und als Berufsberater beim Arbeitsamt tätig. Wenn er die Zeit findet, fährt er mit Freunden nach Budapest zu Konzerten oder Parties. Er schrieb:

Meine Freundin und ich machen oft Ausflüge, und wenn wir an einer Industrial-Landschaft vorbeifahren oder ein interessantes Objekt oder Gebäude sehen, anzuhalten und zu fotografieren ist ein absolutes Muss! Leider ist meine Freundin nicht so hochbegeistert und mutig wie ich, aber kommt mit, das ist die Hauptsache. Ich vergesse deine Worte nicht, aber ich habe wieder nicht aus der Szene gewählt. Ich bin doch trotzdem zufrieden und glücklich mit ihr, besonders wenn wir einen riesengrossen Bagger auf einer Baustelle sehen, und sie sagt plötzlich und total unerwartet sowas:
"Ey, guck mal, echt schön!"
oder:
"Stell' dich mal hin, ich mach' ein Foto!"
Manchmal gibt es sehr viel zu berichten, aber keine Möglichkeit, manchmal passiert gar nix, was empfehlenswert wäre. Ich zitiere dich hier aber regelmässig, und mit Nostalgie erzähle ich die tollen Erlebnisse, als wir unterwegs mit deinem alten Mercedes (hast du den noch?) unterwegs in der Nacht waren und du niemanden im Auto schlafen gelassen hast oder deine Supergedanken und geistreichen Ideen, für die ich dir immer dankbar sein werde. Ich vermisse diese Periode meines Lebens, ich habe sehr gern in H. gelebt und finde immer noch sehr grossartig, dass diese Freundschaft uns verbindet.
Ich vermute, du hörst und liest einiges in den Medien heutzutage über Ungarn, Politik, Attacken, Krise der Demokratie und ähnliches. Wir beobachten diese Prozesse mit Sorge und Angst. Wir sehen das sehr tragisch, was alles in der Hauptstadt abgeht und wie die Reaktionen dazu kommen, wir leben hier aber in Ruhe und im Frieden, so sollt ihr euch das vorstellen.

Ich schrieb:

Super, wieder von dir zu hören! Und schön, daß du eine Freundin hast, mit der du dich gut verstehst und die dich auf deine Ruinen-Safaris begleitet!
Ja, ich war auch schon wieder in einigen Ruinen, ich muß unbedingt mal wieder Fotos online stellen!
Ja, den Mercedes habe ich noch, der fährt noch, hat schon mehr als 500.000 km auf dem Kilometerzähler!

Ende März gab es ein kleines Elektro-Festival im "Endstation", einem ehemaligen Schlachthaus in WOB., dessen gruseliges Aussehen noch weitgehend erhalten ist. Unter anderem traten Dive und Timon auf. Timon präsentierte sein Projekt Decibel. Im Publikum waren Dyan - eine Krankenschwester aus Kingston - und ihre jüngere Schwester Gwyn, die mir ihre neue Lebensgefährtin vorstellte. Gwyn hatte eine unglückliche Beziehung mit einem Mann hinter sich und berichtete, nun endlich gehe es ihr gut. Dyan hat vor Kurzem geheiratet. Ihr Sohn Cohen ist das Patenkind von Ginger, die als Krankenschwester in HE. arbeitet.
Ein betrunkener Security-Mann saß auf der Bühne und schwärmte, mein Outfit sei so super und auch mein Tanzstil. Ich hielt etwas Abstand, weil ich es nicht mag, wenn Menschen dem Alkohol verfallen. Neulich in "Mute" hat mich schon ein Betrunkener angesprochen; er wollte mit mir tanzen. Ich habe zu ihm gesagt, nächstes Mal sollte er nüchtern sein, dann könnte ich seinen Wunsch erfüllen.
Das Konzert von Dirk I. aka Dive fand ich wie immer phantastisch. Dirk hatte Probleme mit der Technik, das Mikrophon setzte nach etwa acht Stücken aus. Als das Mikrophon wieder funktionierte, spielte Dirk nur noch ein weiteres Stück und hörte dann auf. Zu Constri sagte er:
"I better forget that day!"
Constri und ich besuchten Dirk im Backstage und versicherten, das Konzert sei hervorragend gewesen, dem könnten technische Probleme keinen Abbruch tun.
Auf der Rückfahrt setzen Heloise, Barnet, Constri, Ray und ich uns auf einem Autohof in den "Bürgerkrieg" zum Frühstücken. Das Gespräch kam darauf, daß der IKEA-Werbespruch "Wohnst du noch oder lebst du schon?" sich so eingeprägt hat, daß er in abgewandelter Form überall auftaucht, etwa bezogen auf das schwierige Aufbauen von IKEA-Möbeln:
"Schraubst du noch oder wohnst du schon?"
Eine Fluglinie plakatierte:
"Suchst du noch oder fliegst du schon?"
Ich meinte, das könne man genauso gut als Schild über den Eingang des Arbeitsamts hängen.
Beatrice simste am Montag, es sei kaum zu glauben, aber seit drei Stunden sei sie geschieden. Ich gratulierte ihr. Vor acht Jahren hat sie sich nach nur gut zweijähriger, sehr unglücklicher Ehe von Miles getrennt, und jetzt erst wurde die Scheidung ausgesprochen. Das hing damit zusammen, daß Miles bestimmte Unterlagen, die für die Scheidung erforderlich waren, jahrelang nicht vorlegte. Endlich kann Beatrice nun ihren Tagor heiraten, mit dem sie seit vier Jahren zusammen ist.
Berit mailte, sie habe ihre Freundschaft mit Madeleine beendet, da gebe es nichts mehr zu retten. Wie es dazu gekommen war, ließ sie im Dunkeln. Berit und Madeleine sind jahrelang miteinander auf Parties unterwegs gewesen.
Azura mailte, mit ihrer Jobsuche gehe es allmählich voran, sie werde wohl bald etwas Geeignetes finden. Im Zuge dessen habe sich auch ihre Stimmung verbessert.
Mit Berenice unterhielt ich mich in E-Mails über die Sängerinnen von Rafa. Ich meinte, Rafa lege vor allem Wert auf das Aussehen seiner Sängerinnen, außerdem sollten sie devot sein. Die Stimme sei für ihn weniger wichtig.
Berenice schrieb:

Lucy ist devot, auf der ganzen Linie! Zudem kann sich Rafa keine richtige Sängerin leisten, denn die wollen angemessen entlohnt werden, was ihm sehr zuwider ist. Er will Dankbarkeit, er will als "Held" angesehen werden, er will respektiert werden als Oberhaupt etc. etc. etc. Kitty war auch devot. Und Dolf - na ja, manchmal tobt er sich aus, aber das ist selten, und gewinnen tut er nie, weil Rafa viel skrupelloser ist. Ich werde nie vergessen, wir haben am 23.12. irgendwo in der Schweiz gespielt. Dolf, Kitty und ich wollten dort schlafen, Rafa wollte nach Hause fahren nachts. Als ich mich weigerte, weil ich genau wusste, dass ich die gesamte Strecke würde fahren müssen, während die drei ruhig schlafen würden im Auto, haben Dolf und Kitty doch wirklich kein einziges Wort gesagt. Bevor Rafa kam, posaunten sie herum, dass sie auf keinen Fall jetzt noch losfahren würden - kaum war er da, ließen sie mich mit ihm streiten, ohne mir auch nur ein Stück weit zu helfen. Das werde ich nie vergessen - nicht weil ich enttäuscht war, sondern weil es mich erstaunte, wie die Menschen sind. Na ja, und dann kam es, wie ich es vorausgesehen hatte: Berenice fuhr die ganze Strecke nach H.
Erwähnte ich schon, dass ich froh bin, dieses Leben hinter mir zu haben? ;)
Dolf macht, was Rafa sagt, klar - aber oft mit Diskussionen, und selten zu Rafas völliger Zufriedenheit. Wie die beiden es all die Jahre miteinander aushalten können, ist mir ein Rätsel - für mich ist das keine Grundlage einer Zusammenarbeit!

Berenice und ich sind uns darüber einig, daß Rafas Verhalten teilweise seinen Ursprung in seiner Kindheit haben dürfte, daß er aber vollkommen selbst für sein Verhalten verantwortlich ist.
Meine Kollegin Mina mailte, ihr rechtes Bein sei amputiert worden. Sie sei in einer Reha-Klinik. Ich will sie bald besuchen. Mina hat seit Jahren ein Tumorleiden. Eine vollständige Heilung ist ausgeschlossen.
Am letzten Montag im März machten Constri, Denise und ich uns auf den Weg nach S. zu unseren Verwandten. In WÜ. aßen wir in der Mainmühle zu Abend, dem urigen Gasthaus an der steinernen Mainbrücke, das früher eine Wassermühle war. Wir hatten einen Tisch mit Blick auf die Statuen der Fürstbischöfe und die Festung, die hoch über der Stadt von Natriumdampflampen angestrahlt wurde. Mit Victoire, die in WÜ. lebt, konnten wir nur telefonieren, sie nicht treffen, denn sie mußte bis spätabends im Labor bleiben, wo sie mit ihrer Promotion beschäftigt ist.
"Das ist Forschung", seufzte Victoire. "Ich könnte nicht mein Leben lang Forschung machen."
Sie wird wahrscheinlich in September promovieren. Es soll schwer sein, danach Arbeit zu finden. Auch für promovierte Biologen soll es meistens nur befristete Stellen geben, mit ungünstigen Arbeitszeiten.
Constri, Denise und ich kamen spätabends in S. an. Wir logierten in dem Haus unseres Onkels Irmin und seiner Frau Jana. Am Dienstagvormittag ging ich mit Denise spazieren. Wir kamen an der Kirche vorbei, wo ich getauft wurde und die jetzt renoviert wird. Unterhalb des Gartens von Irmins Haus befinden sich ein Wingert und ein weiteres Grundstück von Irmin, auf dem ein Gartenhäuschen steht. Das ist erst zehn Jahre alt. Die schwere Metalltür hat meine Cousine Lisa kunstvoll bemalt. Auf weißem Grund sieht man in zartem Grün vier übereinanderstehende Bilder, die das Leben in der Landhaussiedlung darstellen. Man sieht die Weinlese, Handwerker bei der Arbeit und fröhliche Wein- und Gartenfeste. Alles wird umrahmt von Weinlaub und heimischen Blumen.
Auf dem Vorplatz des Häuschens spielte Denise in der Sonne. Sie malte mit einem roten Kreidestein auf den Betonplatten.
Nachmittags gab es einen Geburtstagsspaziergang und Geburtstagskaffee für meine Cousine Lisa in Irmins Haus. Während Lisas vierjährige Tochter Amaryllis mit der gleichaltrigen Denise herumtobte, saß die achtjährige Ida auf einem Sofa und las. Das Lesen ist Idas neue Leidenschaft.
Amaryllis verkaufte Denise eine Garnrolle ihrer Mutter. Denise wollte Lisas gesamte Familie heiraten.
Lisas Jüngste, die sechzehn Monate alte Lilia, ist ein neugieriges Kind, das Tische abdeckt und Schränke ausräumt. Sie ist dabei schnell und geschickt und muß dauernd beaufsichtigt werden. Dabei guckt sie so unschuldig, daß man ihr nicht böse sein kann.
Am Mittwoch kamen Constri, Denise und ich um die Mittagszeit nach EM. Während Constri und Denise im Auto schliefen, war ich bei Shara oben und begrüßte seine drei Katzen. Shara ist ebenso Police-Fan wie ich. Er geht mit seiner Freundin Marli zu dem Police-Konzert in MA., ich sehe die Band in HH. The Police wollte ich schon Anfang der achtziger Jahre sehen, doch damals fand ich keine Konzertinformationen über sie. Eigentlich gibt es The Police nicht mehr, dort für diese Tour machen sie eine Reunion.
Marli hat vor einiger Zeit die Dachkammer in dem Mehrfamilienhaus bezogen, wo Shara lebt; demnächst will sie in eine Wohnung im Erdgeschoß ziehen. Die Dachkammer ist eng und niedrig. Neben einigen halbleeren Regalen befindet sich ein großes Meerschweinchengehege darin, das so viel Platz einnimmt, daß man das Zimmer kaum noch bewohnen kann. Wenn Marli da ist, hält sie sich meistens in Sharas Wohnung auf.
In dem chinesischen Restaurant in FR., wo ich schon vor drei Jahren mit Shara gewesen bin, aßen Constri, Denise, Shara und ich zu Mittag. Es gab Mittagsbuffet. Shara war betroffen, als Constri erzählte, daß sie sich von Derek getrennt hat. Er klagte, kaum ein Mann sei in der Lage, treu zu sein, das liege an der männlichen Veranlagung als "Jäger und Sammler". Es sei schade, wenn eine zwölfjährige Beziehung an Untreue scheitere.
Shara erkundigte sich, ob Constri Rafa kennt. Constri erzählte, daß sie ihn nur sehr flüchtig kennt und bisher nur einmal mit ihm geredet hat, nämlich auf meiner Geburtstagsparty vor elf Jahren. Sie wisse nicht viel über Rafa, nur daß Derek wesentlich beziehungsfähiger sei als Rafa, so viele Schwierigkeiten Derek auch habe und mache.
Nach dem Essen gab es für jeden einen Glückskeks. In meinem stand:
"Eine Wende zum Guten erwartet dich in naher Zukunft."
Meine Cousine Vivien wohnt mit ihrer Familie im idyllischen Dnz., eine bevorzugte Wohngegend für Pendler nach FR. Mit Vivien und ihrem Sohn Jay machten wir einen Spaziergang im nahegelegenen Wald. Die Sonne schien, überall blühten Anemonen; der Wald sah aus, als hätte es geschneit. Wir gingen ein Stück bergan und kamen zu der Ruine einer mittelalterlichen Waldkapelle aus rotem Sandstein. Daneben, einige Stufen hangabwärts, befindet sich ein kleiner, halbverfallener Friedhof. Shara legte sich auf der Friedhofsmauer in die Sonne, und Denise tat es ihm nach.
Jay und Denise verstehen sich sehr gut. Denise findet den zweijährigen Jay süß, und er bewundert die große Denise.
Bei Vivien gab es Apfelkuchen von einem Bäcker, der noch alles Gebäck selbst herstellt und nichts von einer Großbäckerei halbfertig anliefern läßt.
Während Denise und Jay im Kinderzimmer spielten, konnten Constri und Vivien sich von Frau zu Frau und von Mutter zu Mutter unterhalten.
Shara stellte mir allerlei Fragen und wunderte sich, als ich ihm erzählte, daß ich die Menschen auch kennenlernen kann, indem ich sie beobachte und ihnen zuhöre. Shara fragte mehr, als daß er zuhörte.
Als Viviens Mann Alban nach Hause kam, machte er Abendbrot für die Kinder und einen feinen Auflauf für die Erwachsenen. Als Shara gehen wollte, um das Familientreffen nicht zu stören, sagte Alban, daß er für das Abendessen eingeplant sei. Shara und Alban unterhielten sich über Software. Auch mit Vivien hatte Shara ein Gesprächsthema - Universitäten. Vivien und Shara haben auf demselben Elite-Kolleg Kurse besucht. Vivien hat sich viel mit internationalem Recht befaßt, und so hatten Shara und sie ein weiteres Thema - Multinationalität und Begegnung der Kulturen. Shara erzählte von seiner multinationalen Herkunft und von seinem Leben in verschiedenen Ländern. Er ist unter anderem in einem englischen Internat gewesen. Sharas leibliche Mutter, eine Tscherkessin, sei als Sechzehnjährige von seinem Vater geheiratet worden. Er habe sie als seinen Besitz betrachtet, sie drangsaliert und mißhandelt. Sie habe versucht, ihre Schwangerschaft abzubrechen, was aber nicht geglückt sei. Den neugeborenen Shara habe sie umbringen wollen, weil sie ihn vor seinem Vater habe schützen wollen. Schließlich sei sie geflohen und habe Shara zurückgelassen. Der Vater sei mit Shara nach B. gezogen und habe wieder geheiratet - die Frau, die für Shara die Mutterrolle übernommen hat. Sie habe sich besser gegen den Vater durchsetzen können als seine leibliche Mutter.
In Istanbul sei eines Tages einem Bankmitarbeiter Sharas Nachname aufgefallen. Er stand auf einem Formular, das Sharas Halbschwester einreichte. Der Mitarbeiter sprach die Halbschwester darauf an, und es stellte sich heraus, daß er der Bruder von Sharas leiblicher Mutter war. So konnte der Kontakt zwischen Shara und seiner Mutter wieder hergestellt werden, doch erlebte Shara sie als fremd. Sie soll kein besonders glückliches, kein besonders erfülltes Leben führen.
Vivien arbeitet in Teilzeit als Richterin und wurde auf Lebenszeit verbeamtet. Sie verdient nicht viel; es wird erst dann wieder mehr sein, wenn sie in Vollzeit arbeitet.
Alban erzählte, daß Jay begeistert mit seiner kleinen Kinderküche kocht, die in der Erwachsenenküche aufgebaut ist. Jay hat schon viele Holztiere gebraten, danach kam das Holzobst an die Reihe, und schließlich hat er auch noch den Gärtner und die Gießkanne gebraten. Er soll in dem Gärtner und der Gießkanne gewaltig herumgestochert haben.
Während des Abendessens schlief Denise auf dem Sofa ein. Constri legte Decken über Denise und sich und schlief ebenfalls. Es wurde halb eins, als wir aufbrachen.
Am Donnerstag gingen Constri, Amaryllis, Denise und ich in Rh. einkaufen, dem Stadtteil von S., wo ich meine ersten beiden Lebensjahre verbracht habe. Wir besuchten Friederike, eine Cousine meiner Großmutter Karoline. Friederike hat sich von einem Schlaganfall erholt und hofft, daß sie noch länger so rüstig bleibt, daß sie sich selbst versorgen kann. Sie ist jetzt siebenundachtzig Jahre alt.
Ida hatte nach dem Mittagessen Flötenunterricht. Sie möchte als Nächstes Querflöte lernen. Constri und ich hatten früher nie Lust, Flöte zu spielen; es war nur das Anliegen unserer Mutter, nicht unser eigener Wunsch.
Ida geht gern zur Schule. Für mich war die Schule bis zur 10. Klasse ein Alptraum. Für Lisa war die Grundschule in Rh. ein Alptraum, deshalb hat sie ihre Tochter zur Waldorfschule in ES. geschickt. Lisa hat in ihrer Schulzeit die Waldorfschüler beneidet, weil die so viel Kreatives machen durften.
In Lisas Wohnzimmer ist aus Stühlen und einem abgeschliffenen, lackierten Brett eine Rutsche gebaut worden. Amaryllis und Denise rutschten auf verschiedene Arten: verkehrt herum oder mit dem Kopf nach unten.
Am Nachmittag waren wir auf dem Stückle, einem uralten Gartengrundstück, wo Obstbäume stehen. Irmin verbrannte Grünschnitt. Vor allem für die Kinder war das Feuerchen ein Fest. Gelegentliche Schauer und Gewitter mit Donnergrollen konnten das Vergnügen nicht schmälern. Aus Nebelschleiern tauchte immer wieder die Sonne auf. An dem steilen Hang blühten Forsythiensträucher und Obstbäume. An den Blüten hingen Regentropfen.
Als die Glut genügend Hitze hergab, wurden Rotwürste auf lange Stöcke gespießt und gegrillt. Wir hatten Getränke und Senf mitgebracht, außerdem gab es Laugenbrezeln und belegte Brötchen. Nach dem Festmahl waren alle etwas naß geworden, aber bestens gelaunt.
Abends trank ich in dem oberen verglasten Erker mit Irmin und Jana Rotwein. Von dem Erker hat man die schönste Aussicht, die S. zu bieten hat - über Wein- und Obstgärten, hinunter ins Tal und zum gegenüberliegenden Hang. Man kann den Flugsicherungs-Strahlern am Fernsehturm zuschauen. Die weißen Strahler drehen sich, was aber so aussieht, als würden sie in regelmäßigen Abständen über dem Fernsehturm einen Bogen schlagen. Es gibt auch rote Lampen, die drehen sich nicht, sondern blinken langsam.
Das baufällige Nachbarhaus steht immer noch. Die Dame, die darin wohnt, lebt immer noch. Sie ist mittlerweile sechsundneunzig Jahre alt und läßt sich von einem Pflegedienst, einer Haushaltshilfe und einem Senioren-Besuchsdienst versorgen. Sie genießt das Alter und die schöne Aussicht.
Eine Hausreihe dahinter wohnt eine Dame, die das Haus der Hochbetagten schon gekauft, das Grundstück vermessen und einen Architekten beauftragt hat; das alte Haus soll abgerissen, ein neues Haus gebaut werden, es ist fertig geplant. Nur hat eben die Sechsundneunzigjährige ein lebenslanges Wohnrecht in dem alten Haus.
"Die stirbt grad' net, weil sie der anderen das Grundstück nicht gönnen will", ist die Vermutung der Nachbarschaft.
Thea lebt auch noch, die Dame, deren Möbel und Kleider Irmin bei sich unterstellt, weil sie im Seniorenheim dafür keinen Platz hat. Thea hat Irmin eine Beteiligung am Erbe in Aussicht gestellt. Sie ist einundneunzig Jahre alt.
Friederikes Schwester Margarethe soll übrigens nicht immer ohne Partner gewesen sein; sie soll einen Freund gehabt haben, der aber im Krieg geblieben ist, genauso wie Friederikes Ehemann. So wurden durch den Krieg unzählige Familien zerstört oder gar nicht erst ermöglicht.
Irmin meinte, Friederike habe keine rechte Freude mehr am Leben, seit Margarethe tot sei. Er glaubt nicht, daß Friederike ein so hohes Alter erreicht wie Margarethe, die fast sechsundneunzig Jahre alt wurde.
Als ich Irmin erzählte, daß mein Vater keineswegs das streßfreie Leben eines Pensionärs führt, das er sich eigentlich hätte geschaffen habe müssen, rückte Irmin Details über die Machenschaften von Bellatrix heraus. Irmin bestätigte, daß mein Vater schon immer einen Hang zu gewissen Damen hatte - gebildet, gutaussehend und einige Jahre jünger als er - und daß er nur zu gern ihren Schmeicheleien nachgibt. Bellatrix gegenüber soll er ein geradezu devotes Verhalten an den Tag gelegt haben. Irmin habe ihn darauf hingewiesen, daß ein solches Verhalten nicht recht und sinnvoll sei. Er unterstütze meinen Vater nun dabei, aus den geschäftlichen Verstrickungen herauszukommen, in die er sich von Bellatrix habe hineinziehen lassen. Bellatrix habe eine Immobilienfirma in den Sand gesetzt, sie daraufhin unter anderem Namen wieder auferstehen lassen und sie ihrem Bruder übergeben, der sie neuerlich in den Sand gesetzt habe. Jetzt habe Bellatrix Probleme mit der Bank, und mein Vater habe Probleme mit den Objekten, die Bellatrix ihm aufgeschwatzt hatte.
Am Freitag kamen Lisa und ihre Kinder zum Frühstück herauf zu Irmin und Jana. Lisa richtete Grüße von ihrem Lebensgefährten Chandra aus, der sich während der Tage, die wir in S. verbrachten, nie hatte sehen lassen, nicht einmal bei Lisas Geburtstagskaffee. Chandra versteht sich nicht mit Lisas Vater Irmin.
Lisa gestand zu, daß sie fast allein für sich und die Kinder sorgt. Chandra verbraucht das Geld, das er verdient, überwiegend für sich selbst, oder er schickt Geld zu seinen Verwandten nach Indien, damit ein Onkel einen Tempel bauen kann oder eine Cousine eine Mitgift bekommt. Für Lisa und die gemeinsamen Kinder kauft Chandra nur gelegentlich ein oder fährt Tanken. Er unterstützt Lisa kaum bei der Hausarbeit und der Kindererziehung. Lisa wagt nicht, etwas von ihm einzufordern; sie befürchtet wohl offene Konflikte.
Irmin und Jana vermuten, daß Lisa als Erstgeborene an den Rand geriet, nachdem ihr jüngerer Bruder Garret zur Welt kam. Irmin war damals mit dem Aufbau seiner Selbständigkeit beschäftigt, und Jana hatte viele Sorgen mit Garret, der vermutlich an einem Asperger-Syndrom leidet. Lisa könnte in dieser Zeit ihre Verlustängste entwickelt haben und deshalb Konflikte meiden.
Mittags wollten wir uns auf den Weg nach Hause machen. Denise und Amaryllis versteckten sich oben auf dem Speicher unter einer Decke. Denise konnte nicht an sich halten und quiekte, daher fanden wir die beiden schnell. Denise schlug vor, wir könnten Amaryllis mitnehmen. Die beiden Mädchen ließen sich durch die Aussicht trösten, daß es Ende Juli ein Wiedersehen bei der goldenen Hochzeit von Susanna gibt, der ältesten Schwester von meinem Vater und Irmin.
Mittags waren wir bei Viviens Eltern Britta und Wilko, wo wir mit Maultaschen bewirtet wurden. Die beiden leben seit etwa fünfundzwanzig Jahren in S. und erzählten, daß sie nach FR. ziehen wollen, wo inzwischen nicht nur Vivien mit ihrer Familie, sondern auch ihr Sohn Corell wohnt, der dort Arbeit gefunden hat. In der Nachmittagssonne gingen wir spazieren und kamen an vornehmen Villen und verwilderten Gärten vorbei. Es gibt einen Garten, der geht von der Straße aus hangabwärts, sehr steil. Einst führte eine Treppe dort hinunter. Die Treppe ist aber nur noch im Ansatz da, sie läuft ins Leere. Der Zaun ist verrostet, das Zauntor zugeschweißt. In S. gibt es viele Treppen, die öffentliche Fußwege darstellen und Abkürzungen bieten, denn die Straßen an den Hängen verlaufen häufig in Serpentinen. "Staffeln" heißen diese Treppen.
Abends waren Constri, Denise und ich auf dem Fernsehturm von S. Die meiste Zeit saßen wir im Bistro, denn es war draußen schon recht kalt geworden. Wir betrachteten S. von oben, in der malerischen Dämmerung, mit aufblinkender Straßenbeleuchtung. Denise spielte mit einem Jungen, der etwas jünger war als sie.
Auf der Heimfahrt hörten wir Kinderkassetten, die Vivien uns mitgegeben hatte. Denise schlief dabei ein, ich blieb dabei wach, so hatten sie für jeden ihren Nutzen.
Am letzten Samstag im März waren Clarice, Carl, Constri und ich in HB. auf Giuliettas Geburtstagsfeier. Rufus berichtete, er habe sich von Geneviève getrennt. Sie habe zu oft nicht daheim übernachtet. Irgendwann sei das Maß voll gewesen, und am Valentinstag habe er mit ihr Schluß gemacht. Das gemeinsame Haus könnten sie aber nur behalten, wenn sie weiter zusammenlebten, als Wohngemeinschaft, denn keiner habe genügend Geld, um den anderen auszuzahlen.
Giulietta hat weiterhin unstete Liebeleien. Ihr Verhältnis mit einem Opernsänger hat sie schon vor einiger Zeit beendet. Er soll sich in selbstverliebter Weise als Sexprotz inszeniert haben.
In ihrer Jugendzeit lebte Giulietta in einer Eigentumswohnung ihrer Eltern in ES. Sie holte sich einen Mitbewohner herein, der zum Drogenmilieu gehörte. Statt ihn hinauszuwerfen, als es ihr zu bunt wurde, überließ sie ihm die Wohnung. Er holte nun seine heroinabhängigen Freunde herein. Daß Giuliettas Eltern getobt haben, ist leicht vorstellbar. Wie durch ein Wunder gelang es ihnen, die Heroinabhängigen allesamt aus der Wohnung zu befördern.
Rufus erzählte von der "Chaos-WG" in HB., an die ich mich selbst noch erinnere. In der Küche standen zwei Kühlschränke. Einer gehörte WG-Mitglied Darth, der andere war für die übrigen WG-Mitglieder bestimmt. Der Kühlschrank von Darth soll in einem unbeschreiblichen Zustand gewesen sein.
"Wenn man die Tür öffnete, sprangen einem die weißen Pferde entgegen", erinnerte Rufus sich mit Grausen.
"Weiße Pferde?" fragte Giulietta verständnislos.
"Wie nennt man denn weiße Pferde noch?" half Constri ihr auf die Sprünge.
"Schimmel. Aahh!" hatte Giulietta verstanden.
Folter erzählte, daß er im Altenheim sehr darauf achtet, daß die Senioren genügend trinken - etwas, das in vielen Heimen nicht ausreichend beachtet wird. Viele Senioren haben kein Durstgefühl mehr und lehnen es ab, zu trinken. Folter konnte sie - auch die dementen - noch zum Trinken motivieren, indem er ihnen Pils anbot. Dafür waren sie fast alle zu begeistern. Doch weil es sich um Alkohol handelt, darf er das nicht mehr.
"Die merken genau, wenn du ihnen alkoholfreies Bier anbietest", wußte Folter. "Damit kannst du denen nicht kommen."
Carl erzählte von den schwulen Kontaktkneipen, in denen er unterwegs ist. In einer "Lederkneipe" gebe es einen Raum, der sei begrenzt durch eine Holzwand. In dieser Holzwand gebe es sogenannte "Glory Holes" in verschiedenen Größen. Einige "Glory Holes" reichen gerade, um das "beste Stück" hindurchzuschieben, andere sind so groß, daß die Kehrseite hindurchpaßt. Auf der anderen Seite der Holzwand, im Nachbarraum also, befinden sich diejenigen, die auf der Suche nach einem "passenden Anschluß" sind.
Clarice erzählte von ihrem Andreaskreuz im Schlafzimmer.
Eine Freundin von Giulietta erzählte, eine ehemalige Lebensgefährtin des "Blödelbarden" Otto W. habe ihr erzählt, Otto verhalte sich im Privatleben ähnlich wie auf der Bühne, immerzu müsse er herumalbern. Das halte auf Dauer niemand aus, daher würden seine Liaisons allesamt kaputtgehen.
Folter erzählte von H.P., einem Stammgast der Discothek "Base" in H., wo sich in den achtziger Jahren die Wave- und Independent-Szene traf. Das "Base" gibt es leider schon seit 1988 nicht mehr. Im "Base" habe ich H.P. öfters gesehen; er machte sich ungefähr so zurecht wie der Sänger von Duran Duran, im Glamour-Look des New Wave. Unser alter Kumpel Brinkus soll mit H.P. bekannt gewesen sein, doch H.P. soll sich von ihm abgewendet haben, als Brinkus' Erscheinungsbild immer schäbiger und H.P. immer elitärer wurde. H.P. machte später mit der Band Scooter Karriere. Zu Scooter soll auch der ehemalige Keyboarder von Remain in Silence gehören, den Constri und ich 1986 im Probenraum getroffen haben.
Nachts war ich bei Revil, der ebenfalls seinen Geburtstag feierte. Er ist in eine größere Wohnung gezogen, renovierter Altbau und sehr schick. Revil richtete mir Grüße von Rafa aus.
"Wie kommt das denn?" fragte ich und war sehr überrascht.
Revil berichtete, er sei am Freitag im "Read Only Memory" gewesen. Gavin habe aufgelegt. Ivco habe erzählt, er sei die ganze Woche über beruflich in BN. gewesen und freue sich, heute abend noch ausgehen zu können. Rafa habe zu Revil gesagt:
"Ein Abend ohne Hetty? Das gibt's doch nicht. Eine Party, ohne daß die mich verfolgt? Das gibt's doch nicht. Grüß' sie mal schön von mir."
Rafa scheint sich nach wie vor in der irrigen Annahme zu befinden, ich hätte nichts Wichtigeres zu tun, als ihm hinterherzulaufen.
Mauricia, eine Bekannte von Revil, ist unglücklich verliebt. Der Mann scheine nur Sex von ihr zu wollen und betone immer wieder, Gefühle habe er für sie nicht. Ich meinte, es sei vor allem wichtig, für das eigene Wohlergehen zu sorgen und sich nicht von einem Mann abhängig zu machen. Mauricia erzählte, so verhalte sie sich bereits, und sie sei mit sich selbst auch zufrieden. Sie kümmere sich um sich selbst und ihr Wohlergehen. Manchmal allerdings wäre es ihr schon lieber, wenn sie ihr Herz fortwerfen könnte, um nicht unter ihrer unerfüllten Sehnsucht leiden zu müssen.
"Man sollte seine Gefühle nicht als etwas Fremdes, von außen Kommendes betrachten", meinte ich, "sondern als etwas, das zu einem selbst gehört. Oberflächlichkeit macht das Leben zwar bequemer, aber wenn man oberflächlich ist, kann man nie den Reichtum erfahren, den das Leben einem bieten kann."
Mauricia hofft, sich in einen anderen Mann zu verlieben, um ihre unglückliche Liebe vergessen zu können.
Ivco bestätigte in einer E-Mail, Rafa und er seien am letzten Freitag im März spontan im "Read Only Memory" gewesen, bis zwei Uhr nachts seien sie gelieben und gemeinsam nach Hause gefahren. Die Musik sei gut gewesen.
Beatrice mailte, daß Tagor und sie am 01. Juni heiraten wollen. Zur Feier bin auch ich eingeladen.
Anfang April waren Constri, Gesa, Berit und ich im "Mute". Wir unterhielten uns über Alzheimer.
"Noch lachen wir darüber", meinte Constri. "Aber wenn es erst soweit ist ..."
"Ach, das haben wir dann doch sowieso längst vergessen", kicherte Berit.
Mein Stern ist wieder einmal geklaut worden. Ich kaufte mir sogleich einen neuen, der zum Glück nicht teuer war. Weil Mercedes-Sterne in dem neu aufgelegten Punk-Look eine wichtige Rolle spielen, werden sie öfter geklaut als in den Jahren zuvor. Ein Mercedes-Mitarbeiter hat von einem Mercedes-Stern erzählt, der versenkt wird, sobald ihn einer berührt. Am wirksamsten wäre es, den Stern mit einem Elektroschocker auszustatten, doch das soll verboten sein.
Berit und ich unterhielten uns über noch mehr technische Neuerungen, etwa einen Geldautomaten, der laut lacht, wenn jemand Geld abheben will, dessen Konto gesperrt ist. Dies dürfte freilich ebenso verboten sein.
Im "Mute" traten Combichrist auf, elektronisch-rhythmisch, Musik zum Tanzen. Nach dem Konzert ging es weiter mit rhythmusbetonter elektronischer Musik, darunter "Das Ende der Welt" von Noisuf-X, "Blutiges Kinderherz" von Missratener Sohn, "Jede Nacht" von Shnarph! und "One eyed man" von This morn' omina.
Claudius war mit seinem Adoptivbruder da und mit Saaras Schwester Danielle und deren Mann Miles. Danielle erzählte, daß sie das erste Mal seit der Geburt ihres Sohnes wieder ausgeht. Ihre Tochter kommt dieses Jahr bereits zur Schule.
Sarolyn ist schon lange nicht mehr ausgegangen. Constri hat ihr neulich beim Umzug ins Einfamilienhaus geholfen. Sarolyn meinte, so viele junge Familien um sie herum würden in Einfamilienhäuser ziehen, deshalb sei es an der Zeit, daß auch sie mit ihrer Familie in ein Einfamilienhaus ziehe. Sarolyn spricht - vielleicht unbewußt - das aus, was in vielen Menschen vorgeht. "Keep up with the Joneses" sagt man in den USA.
Magenta erzählte von ihrem Umzug nach Awb. Sie ist in das Haus gezogen, wo Odette lange Zeit wohnte und wo jetzt Odettes Schwester wohnt. Magenta macht Jugendberatung für Schulen, das macht ihr Spaß, doch ist diese Stelle auf nur ein halbes Jahr befristet.
Duncan fragte mich, ob ich zum W.E-Fanclubtreffen nach Thüringen fahre.
"Das ist mir zu weit weg", antwortete ich. "Außerdem will Rafa mich sowieso nicht sehen, der haßt mich ja leidenschaftlich. Ich kann mir vorstellen, daß er sich irgendwas ausdenkt, daß er z. B. ein Schild an die Tür nagelt mit meinem Bild und der Aufschrift:
'Kein Zutritt für Elektro-Betty!'"
"Ach, das glaube ich nicht", entgegnete Duncan.
"Zuzutrauen wäre es ihm aber", meinte ich. "Ich bin gespannt, wann er an die Tür irgendeiner Disse, wo er auflegt, ein Schild hängt mit der Aufschrift:
'Kein Zutritt für Elektro-Betty!'"
"Damit kommt der nicht durch", war Duncan sicher. "Er denkt vielleicht, er kann alles bestimmen, aber nur weil er etwas will, heißt das noch lange nicht, daß alle machen, was er will."
"Das ist auch wieder richtig. Aber ich kann mir trotzdem vorstellen, daß er mich bei seinem Fanclubtreffen nicht 'reinläßt."
"Warum sollte er dich nicht 'reinlassen?"
"Er haßt mich doch."
"Und Dolf haßt mich", erzählte Duncan. "Ich bin gespannt, was der mit mir macht."
"Ach, stimmt ja, du hast mit Eden geflirtet, und sie war mit Dolf schon gar nicht mehr zusammen, und er wurde trotzdem eifersüchtig."
"Der ist auf mich losgegangen."
"Also, wenn ich je zu einem Fanclubtreffen gehen würde, dann nur, weil ich da Leute treffen kann, die ich sonst nicht treffe."
"Aus diesem Grund gehen wir ja auch hin", betonte Duncan. "Wir gehen nicht wegen W.E hin, sondern wegen der Leute. Kaum einer geht wegen W.E hin. Rafa bildet sich vielleicht ein, die Leute würden nur wegen W.E kommen, aber das stimmt nicht."
Berit wollte länger im "Mute" bleiben als Constri und ich, und wir gingen mit Gesa weg. Als wir gegen halb zwei das "Mute" verließen, hatte Constri die Idee, gegenüber beim Türken Lahmacun zu holen. Ich wollte das auch, allerdings nicht zum Mitnehmen, sondern zum dort Essen. Constri und ich frühstückten Lahmacun und türkischen schwarzen Tee. Gesa aß und trank nichts, wie es ihre Art ist. Der türkische Imbiß war voll mit Gästen des "Mute", darunter zwei Sachsen, die sich zu uns setzten und sich wohl Hoffnungen auf uns machten. Ich fand sie lustig und genoß den Smalltalk mit ihnen. Constri fand sie auch lustig, drängelte aber zum Aufbruch. Gesa sagte nichts.
Laris - auch ein Stammgast der Parties im "Mute" - war mit seiner Freundin im türkischen Imbiß und erzählte, daß sie beide immer nach dem "Mute" hier einkehren. Allerdings sei es heute wohl ihr letzter Abend im "Mute" gewesen, denn sie hätten vor, im nächsten Monat nach Mallorca auszuwandern. Laris will dort als Bäcker arbeiten, seine Freundin als Bäckereifachverkäuferin. Sie haben schon zwei Gothic-Electro-Szene-Locations auf Mallorca gefunden und einen Laden mit Underground-Mode.
Haute-Couture-Modeschöpfer spielen inzwischen vermehrt mit Anleihen bei der Wave- und Gothic-Szene. Es tauchen stählerne Miedergürtel mit Schlössern auf, schwarze Spitze und Colliers aus mehreren Ketten mit vielen kleinen Kreuzen daran. Was allerdings noch immer ein Tabu bleibt, sind die Undercuts, die Szene-Frisuren mit Rasur über den Ohren und im Nacken. Dazu hat sich noch kein Hairstylist der Haute Volée durchringen können, es hat sich wohl noch keiner getraut. Kahlrasur hingegen gab es schon mehrfach - man denke an Sinéad O'Connor, Britney Spears oder Lori Petty.
Am Ostersamstag waren Constri, Denise und ich bei Merle. Elaine kam mit Tanee dazu; während der Osterferien macht Elaine eine Art Kurzurlaub bei Tanee. Beide Mädchen trugen goldbraun glitzernde Ballerina-Schuhe. Elaine trägt ihre Haare lang, in der Schule sind aber schulterlange Stufenschnitte nach Art der magersüchtigen Victoria Beckham angesagt. Als Elaine gefragt wurde, wann sie ihre Haare abschneidet, antwortete sie:
"Gar nicht."
Tanee ist schon richtig verliebt. Sie erzählte, daß sie deshalb oft sehr aufgeregt ist und dann herumalbert und kichert, das sei ihr peinlich.
"Das finde ich gerade sympathisch", bestärkte sie Constri.
Elaine denkt immerzu an die Welt der Discotheken und daran, daß sie uns mit dreizehn endlich in eine Discothek begleiten will. Ich schlug vor, daß die Mädchen in diesem Sommer zum Festival im "Read Only Memory" mitkommen, das seine Pforten am Sonntag auch für Kinder öffnet. Tanee interessiert sich sehr für die Outfits in der Szene.
Als Ostergeschenk brachte ich für Merle und Elaine ein Bild mit, das gleich aufgehängt wurde. Es ist die Vergrößerung eines der Bilder, wo ich Elaine im hohen Gras vor der uralten, efeuberankten Bruchsteinmauer hinterm Haus fotografiert habe. Elaine trägt ein helles Sommerkleidchen und Zöpfe. Das Bild sieht sehr romantisch aus.
Elaine erzählte von einem Computerspiel, das handelt von einer Horrorfigur, einem untoten Mädchen mit dem Aussehen eines Monsters. Das Mädchen heißt Samara. Elaine hat sich so sehr mit Samara beschäftigt, daß sie ihr in ihren Alpträumen begegnet.
"Mit der habe ich noch eine Rechnung offen", meinte Elaine.
Sie prügelt sich im Traum mit Samara und möchte endlich gegen sie gewinnen.
Elaine hat zwei Internetseiten, auf denen befinden sich Fotos, die sie aus dem Netz heruntergeladen hat. Ihre eigenen Bilder gibt es dort noch nicht zu sehen. Die Seiten sind mit vielen Glitzermotiven und viel Rosa verziert und erinnern mich an die Sammelalben mit Aufklebern und Liebesmarken aus meiner Kindheit. Und ähnlich wie in den "Meine Freunde"-Büchern und Poesiealben kann man in ein Gästebuch schreiben, dort trug ich mich auch ein.
Am Ostersonntag frühstückte ich bei meiner Mutter frischgebackene Hefesemmeln und mit Naturfarben gefärbte Ostereier. Meine Mutter hatte ausgepustete Ostereier in ein Körbchen gelegt, die aus dem Jahr 1985 stammen. Damals hatten Constri und ich Scherzbildchen und -sprüche auf die Eier gemalt und geschrieben. Auf ein Ei hatte Constri Kästchen zum Ankreuzen gezeichnet, wo man jeden Tag ankreuzen konnte, an dem das Ei noch nicht kaputtgegangen war. Auf ein Ei hatte Constri "Ei" geschrieben und auf die Rückseite in kleinerer Schrift noch einmal "Ei". Auf ein Ei hatte ich Bruchlinien gezeichnet und ein Opernzitat aus "Sly" von Wolf-Ferrari verballhornt:
"Oh Ei, kannst du mir vergeben?"
Auf ein Ei hatte ich ein Türschloß gezeichnet und darum herum lauter Schlüssel. Dazu hatte ich geschrieben:
"Eier-Suchbild: Welcher paßt?"
Am unteren Ende des Eis stand:
"Die Lösung:"
Darunter war ein Hammer gezeichnet.
Auf ein Ei hatte ich ein Diagramm gezeichnet mit einer abwärts verlaufenden Linie. Oben auf der Ordinate stand "heile", unten stand "Matsch". Die Abszisse stellte den Zeitstrahl dar. Das Diagramm zeigte den "Lebensweg eines Eis".
Das österliche Suchen fand für Constri, Denise und mich im Garten statt. Constri und ich suchten eher zurückhaltend und ließen Denise die bunten, mit Süßigkeiten und Ostereiern gefüllten Schmuckeier finden. Von mir bekam Denise einen Schmink- und Schmuck-Kasten für Kinder, mit echter Schminke. Sie ließ sich sogleich von Constri die Fingernägel lackieren. Sie legte Lippenstift auf und Lidschatten.



Am Ostersonntag um vier Uhr nachmittags traf ich Aramis auf dem Kiesparkplatz beim Gasometer in OB. Aramis erzählte, er mag am liebsten Autos, die älter als zehn Jahre sind, weil er sie schöner findet und praktischer. Da sind wir uns einig. Aramis hat seinen Kombi von einem Onkel bekommen, das Auto ist ungefähr so alt wie meines - sechzehn Jahre.
Aramis und ich kehrten in der großen Shopping Mall von OB. in einem Bistro ein. Aramis erkundigte sich, ob Rafa wußte, daß ich heute Nacht ins "Ferrum" mitkam. Als ich verneinte, sagte Aramis:
"Oh, das wird für ihn aber heavy sein."
"Er wird es nicht zeigen", meinte ich. "Er wird sich nichts anmerken lassen."
"Stimmt."
Aramis kennt Rafas Zittrigkeit und seine innere Anspannung. Freilich kann Rafas Unruhe nie eindeutig einer bestimmten Situation zugeordnet werden, er ist immer hektisch und fahrig.
"Rafa klammert sich immer an seiner Zigarette fest", meinte ich.
Aramis sagte über seinen eigenen Zigarettenkonsum:
"Ich rauche gern."
Er habe schon versucht, mit dem Rauchen aufzuhören. Es gebe Ersatz-Zigaretten in der Apotheke, die würden aber so ähnlich wie Haschisch riechen. Daher sei ihm einmal, als er eine solche Zigarette geraucht habe, von der Polizei vorgeworfen worden, Haschisch zu konsumieren. Diesem Streß wolle er sich nicht mehr aussetzen.
Auf dem Rückweg zum Parkplatz hörten wir aus einem Lokal "Ganz in Weiß" von Roy Black herüberschallen. Sowohl Aramis als auch ich dachten sogleich an Rafas Coverversion von diesem Stück. Wir mögen diese Version beide. Aramis hat es nur als mp3, die Original-CD - den Sampler "Scanning ... Vol. 1" - hat er nicht.
"W.E erinnert mich vor allem an meine Kindheit", erzählte der sechsundzwanzigjährige Aramis. "Es erinnert mich an die Sachen, die damals im Radio gelaufen sind."
"Neue Deutsche Welle", sagte ich. "Das ist es ja auch, worauf Rafa sich bezieht."
Aramis meinte, Rafas Musik werde nie eine Intensität wie beispielsweise U2 erreichen. Bei "Bloody Sunday" erlebe er die Tragödie mit, die das Stück beschreibt; so etwas gelinge Rafa nicht.
"Das kann ihm auch gar nicht gelingen", meinte ich. "Er läßt Gefühle nie an sich heran und will Musik ohne Gefühle machen. Dabei kann natürlich keine emotional intensive Musik herauskommen. Kunst entsteht immer auf dem Boden von Emotionen, und Rafa blockiert sich selbst für seine Emotionen. Damit blockiert er seine Kreativität."
"W.E klingt immer irgendwie gleich, es sind immer die gleichen Melodieläufe, nur neu arrangiert. Das wirkt auf die Dauer eintönig."
"Und Rafa klaut viel", meinte ich. "Wenn er neue Ideen braucht, guckt er sie anderswo ab. Der Refrain von 'Die Fahne hoch' ist beispielsweise von 'Eclipse' von Kirlian Camera abgekupfert."
"Wo du es sagst! Stimmt."
"Rafa hat 'Eclipse' viele Male gehört und aufgelegt, es ist also sehr wahrscheinlich das Vorbild von dem Refrain von 'Die Fahne hoch.'"
Aramis macht selbst Musik, bezeichnet sich aber nicht als hoch inspirierten Künstler, sondern als Musikliebhaber. Er erzählte, daß er Sozialpädagogik studiert und mit seinem Studium eher langsam vorankommt. Die Universität in E. sei wenig einladend. Auf den Klappstühlen der Hörsäle habe schon sein Vater gesessen. Nichts werde erneuert, nichts renoviert, die Vorlesungen seien überfüllt. Er halte sich mit Nebenjobs über Wasser und hoffe, mit dem Studium in nicht allzu ferner Zeit zum Ende zu kommen.
DJ's im Ruhrgebiet sind - so erzählte Aramis - fast alle nicht berufstätig; sie verdienen ihr Geld mit Jobs, wie etwa der Tätigkeit als DJ. Das trifft auch auf Beatrices geschiedenen Mann Miles zu. Seit dem Niedergang der Industrie im Ruhrgebiet sind reguläre Arbeitsstellen dort selten geworden.
In der Ruhrgebiets-Szene soll es viel Konkurrenz geben, so daß einige DJ's und Geschäftsleute sich schon gegenseitig vernichtet hätten.
Über die Geschichte des "Ferrum" erzählte Aramis, der Laden sei gegen alle Abwärtstrends im Ruhrgebiet während der letzten Jahre etabliert worden. Die DJ's, die anfänglich dort auflegten, hätten ihr Handwerk besser verstanden als die jetzigen. Daß es zum Wechsel kam, habe an einer Art Ränkespiel gelegen.
Aramis und ich fuhren mit zwei Autos zum "Ferrum". Aramis ließ sein Auto dort stehen, und wir fuhren mit meinem Auto weiter. Im Landschaftspark DU. kletterten wir auf einen der Hochöfen. Die schmale Treppe wurde so hergerichtet, daß sie der Öffentlichkeit zur Verfügung steht. Man kann bis in etwa siebzig Meter Höhe hinaufsteigen. Aramis, der seit dem letzten Jahr fotografiert, macht gerne Modelfotos von Mädchen in freizügigen Outfits, und er fotografiert sie besonders gern in historischen Industriekulissen. Allerdings, meinte er, könne er kaum eines dieser Mädchen mit auf den Hochofen nehmen, die hätten fast alle Höhenangst. Aramis hat keine Höhenangst, fürchtet sich aber davor, ihm könnte aus großer Höhe etwas hinunterfallen. Vor allem sorgt er sich um seine teure Fotoausrüstung. Aramis verwendet eine digitale Spiegelreflexkamera. Das sei eines der wenigen Dinge, die er sich leiste.








Aramis erinnerte sich an eine österliche Fotosession in einem Profi-Studio, an der er als "absoluter Nope" - was soviel heißt wie "absoluter Niemand" - habe teilnehmen dürfen. Die Models seien wie Ostereier bemalt und entsprechend fotografiert worden.
Im Ruhrgebiet gibt es bedauerlicherweise immer weniger fotogene Industrieruinen. Die meisten werden abgerissen oder renoviert und umgenutzt. Die U-Boot-Halle in H., in der sich einst die Veranstaltungs-Location "Halle" befand, ist auch umgenutzt worden. Wenigstens wurde sie nicht abgerissen.








Im Landschaftspark DU. wurde ein großes Areal mit Industrieruinen erhalten, ähnlich einem Freilicht-Museum. Früher befand sich dort ein Hüttenwerk.








Hinter dem Industriegelände gibt es eine Reihe von Bunkern, die stehen aufgereiht nebeneinander, und allen fehlt das Dach. In den annähernd quadratischen Bunkern sind zierliche Gärtchen angelegt, auch Bänke gibt es da. Ein Bunker ist mit Wasser gefüllt. Von einer Brücke aus kann man in die Bunker hineinsehen. Die Gärtchen heißen "Sintergärten" oder "Bunkergärten" und sind in dieser Form weltweit einmalig.
Aramis erhielt gegen Ende unseres Spaziergangs immer öfter SMS-Nachrichten von seiner Lebensgefährtin Saphira. Er meinte, ihm gehe Saphiras Kontrollsucht auf die Nerven. Neulich habe er wegen ihres klammernden Verhaltens mit ihr Schluß gemacht, da habe sie beteuert, sich zu bessern. Eine Zeitlang habe sie sich auch beherrschen können, jetzt aber gehe es schon wieder so los wie damals. Eine Therapie wolle Saphira aber nicht machen. Sie betrachte sich nicht als psychisch gestört.
Aramis rief Saphira schließlich an und bat sie, ihm nicht mehr dauernd SMS-Nachrichten zu schicken. Da war vorerst Ruhe.
Wir unterhielten uns über Beziehungen und über Paare, die sich zu zweit isolieren.
"Rafa verlangt von Darienne, daß sie ihm uneingeschränkt zur Verfügung steht", meinte ich. "Sie hat den Kontakt zu ihren bisherigen Freunden abgebrochen und sitzt nur noch mit ihm gemeinsam in seinem Keller 'rum. Rafa möchte nur Leute um sich haben, die alles tun, was er befiehlt."
"Aber Diktatur ist sch...", erinnerte Aramis an Rafas Behauptung, sich gegen Diktaturen und totalitäre Systeme zu stellen.
"Das ist es ja", bestätigte ich. "Rafa wettert gegen Diktaturen und totalitäre Systeme, benimmt sich aber selbst wie ein totalitärer Despot. Er will alles kontrollieren und beherrschen. Er gibt die Parole 'Benutze dein Gehirn' aus, will aber in Wirklichkeit, daß die Leute nur denken, was er denkt. Dadurch aber, daß er alles kontrollieren und beherrschen will, erreicht er letztlich nur, daß er sich isoliert. Wer eine gewisse Anzahl von Fans hat, muß damit rechnen, daß sie untereinander Kontakt aufnehmen und sich untereinander organisieren. Und diese Organisationen sind ab einem gewissen Grad nicht mehr kontrollierbar. Rafa will aber alles kontrollieren. Er gibt lieber seine Fans auf, als die Kontrolle abzugeben. Wahrscheinlich hat er deshalb auch das W.E-Forum geschlossen. Dabei hat er sich um eine der besten Werbe- und Informationsmöglichkeiten gebracht, die eine Band haben kann. Das Forum war gut besucht und sehr lebendig. Der Wegfall des Forums dürfte Rafa einige Fans gekostet haben."
"Das gibt es ja auch nur sehr selten, daß eine Band ein Forum hat, wo sie selbst präsent ist."
"Eben."
Aramis vermutet, daß das W.E-Forum unter anderem wegen der Diskussionen um Rafas Stück "Deutsche Jugend" geschlossen wurde. In dem Stück heißt es unter anderem:

Wir sind die deutsche Jugend
Mein Weltbild verändert sich
Wir sind die deutsche Jugend
Intelligenz wird jetzt zur Pflicht

Rafa gibt martialische Sprüche von sich, die seltsam aussageleer daherkommen. Extremistische Äußerungen fehlen - immerhin.
"Das Stück läßt sich leicht mißverstehen", meinte Aramis.
"Rafa ist kein Nazi, aber er verwendet gerne den Jargon", meinte ich. "Er verwendet gerne Ausdrücke wie 'Ballast', 'Geschmeiß', 'ausrotten'."
"Das stimmt."
Aramis findet das Fahnenschwenken zu Rafas Stück "Hoch die Fahnen", das von Wave und seinen Freunden begonnen und von Rafa übernommen wurde, "grenzwertig". Ein gruseliges Gefühl habe ich dabei auch. Das Stück läßt mich an das verbotene Nazi-Lied "Die Fahne hoch!" denken. Wenn Rafa - wie ich vermute - ein eher oberflächliches Wissen über die NS-Verbrechen hat, könnte er sich umso leichter von martialischem Getue blenden lassen. Vielleicht glaubt Rafa, seinerseits mit martialischem Getue blenden zu können.
Narzißtisch gestörte Menschen neigen dazu, Blendgranaten und Nebelkerzen zu werfen. Je mehr Bühnennebel sie umwabert, desto weniger kann man ihre wahre Persönlichkeit erkennen - und desto sicherer fühlen sie sich vielleicht.
Als ich erzählte, daß Wave nicht mehr viel von Rafa hält, erinnerte sich Aramis:
"Rafa war furchtbar eifersüchtig, als Wave etwas mit Tyra hatte."
"Er hatte nichts mit Tyra, er stand nur auf sie."
"Jedenfalls hat das schon gereicht, daß Rafa eifersüchtig wurde."
"Und das, obwohl Rafa nie bereit gewesen ist, für Tyra auf Darienne zu verzichten", gab ich zu bedenken. "Rafa mißt immer mit zweierlei Maß. Er darf alles, die anderen dürfen nichts, außer ihm zu Diensten zu sein und alles gut zu finden, was er macht."
Auch Aramis ist aufgefallen, daß Rafa mit Kritik schlecht umgehen kann. Erst habe Rafa ihn sehr für seine Beiträge im W.E-Forum gelobt. Als Aramis jedoch Kritik habe anklingen lassen, sei Rafa ihm gegenüber sogleich deutlich kühler geworden.
"Das Gästebuch auf der W.E-Homepage ist neuerdings redigiert", wußte ich. "Da sind nur noch die Einträge zu lesen, die Lob enthalten, alle anderen erscheinen gar nicht erst."
"In dem Gästebuch, das Rafa bei SG. hatte, ist mir aufgefallen, daß Rafa alle Einträge gelöscht hat, die nicht von Frauen stammten", erzählte Aramis. "Er hat alle drei Einträge gelöscht, die ich hineingeschrieben habe, dabei war da gar keine Kritik drin."
Zuerst hat Aramis Rafa als Vorbild erlebt und ihn auf gewisse Weise verehrt. Er fand es "unverschämt", was ich ins W.E-Forum geschrieben habe; es muß auf ihn wie Blasphemie gewirkt haben. Aramis war aber neugierig auf die Hintergründe und las große Teile von meinen Online-Roman "Im Netz". Er meinte, die Geschichte sei so lang, die könne man gar nicht ganz lesen.
"Das stimmt", bestätigte ich. "Die ist mittlerweile schon etwa viertausend Seiten lang."
"Deshalb habe ich so lange daran gelesen", erkannte Aramis. "Das waren bestimmt hundert Stunden. Saphira wurde schon ganz ungehalten, weil ich immer nur gelesen habe."
"Wenn man die Geschichte ganz liest, könnte das mehrere Wochen dauern."
Aramis erinnerte sich an das Radio-Interview, das er im vergangenen November mit W.E geführt hat. Am schwierigsten sei Rafa zu interviewen gewesen:
"Ich mußte Rafa immer wieder erklären, was die Fragen bedeuten, die ich ihm stelle. Er schien den Sinn der Fragen gar nicht zu erfassen. Er hat immer nur Sätze heruntergelabert, die er in vielen anderen Interviews auch schon gesagt hat."
"Textbausteine."
"Ja, Textbausteine."
"Rafa drischt in Interviews immer dieselben Phrasen, er textet die Leute damit zu."
"Ich mußte immer einhaken:
'He, Rafa, ich habe eigentlich das und das gemeint ...'
Das war ganz schön anstrengend. Dolf war dagegen nett und auskunftsbereit. Lucy war so furchtbar erkältet, daß ich die nicht viel gefragt habe, nur warum sie damals bei W.E ausgestiegen ist und dann wieder zurückgekehrt ist."
"Und was hat sie geantwortet?"
"Daß sie ausgestiegen ist, weil sie nach F. gezogen ist, und daß sie dann von Rafa gefragt wurde, ob sie wieder mitmachen will."
Aramis war erstaunt, daß Darienne zu dem Interview wie ein unscheinbares Schulmädchen erschien, mit Brille, schüchtern und wortkarg. Er kannte sie bisher nur von Fotos und Auftritten, und da wurde sie als selbstbewußte Diva inszeniert.
An Rafa fiel ihm auf, daß er sich selbst als "Honey" bezeichnet, aber mit "o" statt - wie nach englischer Aussprache - mit "a". Dieses "o" soll Rafa sehr betonen.
"Das paßt doch hinten und vorne nicht", meinte ich. "Er will keine Anglizismen, 'Honey' ist aber einer. Er nennt sich 'Honey', spricht das aber mit 'o' aus."
Aramis erzählte, bei dem W.E-Konzert im November in KR., anläßlich dessen er W.E interviewt habe, habe Rafa lustlos und uninspiriert gewirkt. Etwa so sei auch das Publikumsecho ausgefallen.
"Ich bin froh, daß ich Silvester nicht im 'Ferrum' war", meinte Aramis. "Das soll auch überhaupt nicht gut gewesen sein. Rafa soll lustlos gewirkt haben und unmotiviert, das haben die Leute auf der Website des 'Ferrum' geschrieben."
"Es kann sein, daß ihm seine ewiggleiche Musik schon selbst zum Hals heraushängt."
"Ich habe den Eindruck, Rafa geht immer dann auf Tour, wenn er Geld braucht."
"Ja, so ist es. Er verdient damit sein Taschengeld."
Aramis und ich fuhren zu seinem Elternhaus, wo Aramis immer noch lebt; er hält sich jedoch meistens bei Saphira auf.
"Um jede Hochhaus-Siedlung gibt es einen Gürtel von Einfamilienhäusern", erzählte Aramis, "und in einem von diesen Häusern wohne ich. Man hat das so geplant, um Ghettos zu verhindern."
"Man kann dadurch keine Ghettos verhindern", meinte ich, "schon allein durch die Bauweise der Hochhäuser ist die Ghettoisierung vorprogrammiert."
Es kommt öfter vor, daß Aramis in der Nähe seines Elternhauses fragwürdigen Gestalten begegnet, die "Streß machen" wollen. Meistens sind es gewaltbereite Jugendliche voller Alkohol und Drogen.
In Aramis' Elternhaus war nur Aramis' jüngere Schwester anwesend. Sie war mit einem österlichen Party-Marathon beschäftigt und wollte heute Nacht auch noch weggehen.
Aramis' Mutter ist geschäftlich viel unterwegs, sie arbeitet als Betriebsratsvorsitzende für eine Firma mit bundesweiten Niederlassungen. Für Aramis und Saphira hatte sie im Schlafzimmer Osternestchen versteckt. Aramis suchte und fand sie beide; er wollte Saphira ihr Osternestchen mitbringen.
Ich machte mich zurecht fürs "Ferrum". Ich zog die graue Corsage mit den glitzernden Spinnweben an, dazu den langen, weiten, hochgerafften Rock in Metallic-Grau und die langen schwarzen Abendhandschuhe. Mein breites Halsband ist aus grauem Organza und mit dunkelgrauen Perlen bestickt, ich schloß es hinten mit einer Schleife. In mein Haarteil mit den Kordelzöpfchen steckte ich zwei blaue Leuchtstäbchen wie japanische Knotennadeln.
Aramis zog sich nicht um:
"Es ist eh dasselbe, was ich im Alltag und zum Weggehen trage."
Er hat fast keine Kleider und kauft nur dann etwas Neues, wenn etwas kaputtgeht.
"Wo kriegt Rafa eigentlich seine Klamotten her?" fragte Aramis. "Neulich, als ich ihn gesehen habe, hatte der voll das interessante Teil an ..."
Ich erzählte von Rafas Image, "korrekt gekleidet" zu sein. Dieses Image stehe teilweise im Widerspruch zur Realität.
"Rafa widerspricht sich dauernd", meinte ich. "Mal erklärt er sich zum Messias, dann wieder behauptet er, es sei sein größter Wunsch, die Menschheit auszurotten."
"Ja, das verstehe ich auch überhaupt nicht", meinte Aramis. "Wenn er die ganze Menschheit ausrotten will, dann wären doch so viele Unschuldige dabei, die nie jemandem etwas getan haben."
"Es ist immer verkehrt, zu pauschalisieren und alle und alles schlechtzumachen. Ich denke, wenn jemand unbedingt die Menschheit ausrotten will, dann soll er doch bei sich selbst anfangen, dann haben die anderen ihre Ruhe."
Nach dem Abendbrot fuhren wir zum "Ferrum". Unterwegs holten wir Saphira von einer Grillparty ab. Sie war ungehalten, weil Aramis ihr Osternestchen schon gesucht hatte. Aramis erklärte, es sei praktischer gewesen, denn sie seien doch nach der Party im "Ferrum" sowieso wieder nur bei Saphira.
Im "Ferrum" gibt es zwei Areas. In der Hauptarea standen die Resident DJ's am Pult, darunter Miles. In der zweiten, etwas provisorischen Area legte Rafa auf. Das DJ-Pult befand sich auf der Bühne. Rafa stand mit unbeteiligter Miene und lebloser Gestik da und wechselte mechanisch die CD's. Er sagte nie etwas durchs Mikrophon. Er trug ein langärmeliges schwarzes Oberteil, das war bedruckt mit vielen weißen Totenschädeln. Darüber trug er seine schwarze Weste mit den Silberknöpfen. Diese Kombination fand ich tatsächlich schick.
Rafa hatte durchgehend seine Spiegelbrille auf. Anderthalb Meter neben ihm saß Darienne, mit eingefrorener Miene und eingefrorener Haltung. Sie bewegte sich fast nie, hatte fast nie Kontakt zu anderen Menschen, es gab fast keine Kommunikation zwischen Rafa und ihr, und nie sah ich Zeichen der Verliebtheit zwischen den beiden. Auf der Tanzfläche sah ich Darienne nie. Sie trug eine Dauerwelle, eine Brille in Schmetterlingsform und eine ausgeschnittene rote Bluse. Damit wirkte sie fast ein wenig spießig auf mich.
"Ich habe nicht den Eindruck, daß Darienne sich unbedingt amüsiert", meinte Aramis.
Er ging hinauf ans DJ-Pult und redete zuerst mit Rafa und danach mit Darienne. Ich fragte Aramis später, was die beiden gesagt hatten. Er berichtete, Rafa habe nicht viel gesagt, sei allgemein wortkarg gewesen. Mit Darienne habe er schon etwas mehr reden können. Sie erinnere sich noch daran, daß er der Erste gewesen sei, der sie um ein Autogramm gebeten habe. Damals sei sie zum ersten Mal mit W.E aufgetreten.








Die Musik, die Rafa auflegte, war so, wie ich es von ihm kenne. Er spielte Titel, die ich nicht leiden kann - wie "Zauberstab" von Zaza oder "VW Käfer" von ihm selbst -, er spielte aber auch Titel, die mir sehr gefallen und zu denen ich auch tanzte, darunter "49 second romance" von P1E, "Going round" von Xymox und "Straßen" von ascii.disko. Und es gab Klassiker wie "Denise" von Blondie, die ich nach vielen Jahren gern wieder hörte. Härtere elektronische Titel spielte Rafa nicht, es gehörte freilich auch nicht zu dem angekündigten Programm. In der Hauptarea gab es härtere Elektronik, deshalb hielt ich mich abwechselnd in beiden Areas auf. Unter den Highlights in der Hauptarea waren "24 Stunden" von SAM, "Jezebel" von Noisuf-X und "Firestarter (Empirion Mix)" von Prodigy, außerdem der Klassiker "Join in the Chant" von Nitzer Ebb. Ich versuchte, die Ausgelassenheit, die durch Titel wie "24 Stunden" auf der Tanzfläche entsteht, innerlich mit hinüberzunehmen in die Area, wo Rafa auflegte. Dort war spürbar, wie die steife Atmosphäre die Ausgelassenheit schluckte.
Rafa war am DJ-Pult meist allein, nur manchmal kam jemand zu ihm hinauf und wechselte einige Worte mit ihm. Darienne erhielt fast keinen "Besuch".
Auf einer Leinwand zeigte Rafa Sequenzen aus C64-Spielen. Rechts vor der Bühne war ein Rechner aufgebaut, der einen C64 emulierte. Aramis erzählte, Rafa habe ihn gebeten, seinen C64 mit hierher zu nehmen und eine C64-Ecke aufzubauen. Er habe das jedoch abgelehnt, da es ihm zuviel sei, die ganze Zeit auf den Rechner aufzupassen und gleichzeitig zu fotografieren. Schließlich habe Rafa jemand anderen gefunden, der seinen Rechner hier aufgebaut habe.
Aramis gehört zu den Leuten, die im "Ferrum" fotografieren dürfen. Er stellt die Fotos auf eine Internetpräsenz, wo noch andere Partyfotos zu sehen sind.
Im "Ferrum" traf ich viele Leute; einige kannte ich, einige lernte ich kennen. Ein Rettungssanitäter erzählte mir, wie er einmal bei einer Bergrettungsübung abgestürzt ist. Er stürzte nicht völlig ab, sondern hing in einem Auffangseil.
Chrysa und Peggy begegneten mir, mit denen ich mich schon in Clh. unterhalten habe. Wir aßen Salat von dem kostenlosen Buffet, das in der Lounge aufgebaut war. Die Lounge befindet sich zwischen den beiden Areas. Ich erzählte von der Area, in der Rafa auflegte:
"Darienne hat jetzt eine Dauerwelle und eine Schmetterlingsbrille."
Chrysa ging mit mir in die Area hinüber, betrachtete Darienne und meinte:
"Die Dauerwelle sieht furchtbar aus."
"Rafa steht nur leblos am DJ-Pult und redet mit fast niemandem", kommentierte ich.
"Er redet auch nicht mit Darienne", beobachtete Chrysa.
"Darienne sitzt nur da, die bewegt sich überhaupt nicht."
"Stimmt, die saß eben schon ganz genauso da."
"Ja, wie eine Wachspuppe, völlig reglos."
"Was ist denn das für ein Leben?" fragte Chrysa.
"Das ist überhaupt kein Leben", meinte ich. "Das ist eine Hülse."
"Ich gehe wieder 'raus, das kann ich nicht mitansehen", sagte Chrysa.
Einmal nur sah ich Rafa mit Darienne sprechen. Kurz danach ging sie mit eingefrorener Miene aus dem Saal, kam mit einem großen Glas Bier zurück, brachte dieses hinauf und reichte es Rafa mit eingefrorener Miene, der das Glas mit eingefrorener Miene entgegennahm. Dann setzte Darienne sich wieder auf ihren Platz, anderthalb Meter von Rafa entfernt, und verharrte reglos wie vorher.
In der Lounge erzählte Chrysa von einer neuen Bekanntschaft. Der Mann sei so hübsch und so niedlich und so lieb ... sie habe sich gleich in ihn verguckt und er sich offenbar auch in sie. Und dann habe sie ihn auf dem Parkplatz nach seinem Alter gefragt -
"... und er sagte etwas ganz Schreckliches: 'Neunzehn.'"
"Ja, und?"
"Neunzehn, Mensch, neunzehn!" rief Chrysa. "Und dann hat er mich nach meinem Alter gefragt, und ich wollte schon 'dreiundzwanzig" sagen, dann habe ich aber doch die Wahrheit gesagt, daß ich zweiunddreißig bin, und er hat nur gesagt:
'Du siehst aber jünger aus.'"
"Ja, eben! Außerdem, wenn irgendein Fuzzi mit dreißig Jahren eine Freundin hat, die achtzehn ist, sagt keiner was, warum sollte das umgekehrt nicht auch gehen? Es ist unser Recht."
Gegen halb fünf Uhr morgens verließ ich das "Ferrum". Aramis und Saphira waren schon fort. Rafa und Darienne hatten sich nicht mehr von ihren Plätzen wegbewegt.
Am Ostermontag gab es ein festliches Brunch bei meinem Vater. Als ich von durchtanzten Nächten erzählte, gab er einen seiner Lieblings-Sprüche zum Besten:
"Du solltest mal für mehrere Wochen eine Survival-Tour machen."
Constri hatte mir ein geeignetes Argument genannt, das ich nun brachte:
"Und du solltest mal für mehrere Wochen als Barmann im 'Roundhouse' arbeiten."
Die anderen Gäste verstanden die Pointe nicht.
"Auf eine Survival-Tour passe ich ebensowenig wie Papa in das 'Roundhouse'", erklärte ich. "Papa kann laute Musik und Zigarettenqualm nicht ausstehen, und von alkoholischen Getränken versteht er auch nichts. Papa will aber, daß ich genau das mache, was nicht zu mir paßt, deshalb schlage ich ihm vor, daß er dann auch das macht, was zu ihm nicht paßt. Ich denke, wenn Papa so auf Survival steht, kann er doch die Survival-Tour machen, und ich gehe wie immer ins 'Roundhouse'."
"Auf einer Survival-Tour würde dein Vater niemals zurechtkommen!" waren mehrere Gäste sich einig. "Der ist viel zu penibel dafür. Wenn Hetty mitkommen würde, dann würde er es vielleicht schaffen. Mit seiner Penibilität und Hettys Kreatitivät würde es vielleicht gelingen."
Wave rief an und erzählte, daß er in der Osternacht von der Polizei nach Hause gebracht wurde, ohne etwas angestellt zu haben. Er war mit seinem Schwager in einer Kneipe und lernte eine Frau kennen. Als der Schwager aufbrach, wollte Wave noch bleiben, weil er sich auf die Frau Hoffnungen machte. Doch es sei so gekommen wie immer, die Frau habe ihn abblitzen lassen. Zu Fuß habe er sich auf den Weg nach Hause gemacht. Für ein kurzes Stück nur habe er trampen können. Mehrere Taxis seien an ihm vorbeigefahren, keines habe angehalten, und wenn er eine Nachtbus-Haltestelle erreicht habe, sei immer der Bus schon weggewesen, und er hätte noch lange auf den nächsten warten müssen, da sei er lieber weiter zu Fuß gegangen. Schließlich habe er sich vor Kälte kaum noch auf den Beinen halten können und wieder zu trampen versucht. Das Auto, das anhielt, war ein Polizeiauto, und die Beamten stellten fest:
"Ach, Sie laufen hier nachts auf der Straße! Sie sind das!"
Wave erzählte, daß kein Taxi ihn habe mitnehmen wollen. Die Polizisten erbarmten sich seiner und fuhren ihn nach Hause.
Wave berichtete, er sei von einigen Kumpels gefragt worden, ob er zum W.E-Fanclubtreffen will. Er habe entgegnet:
"Mit W.E verbindet mich nichts mehr. Warum sollte ich da hin?"
Mitte April waren Constri und ich bei meiner Schulfreundin Odette und ihrer Familie. Odettes acht Monate alter Sohn Darren erholte sich gerade von einer Mittelohrentzündung. Darren ist ein sonniges Baby, der Liebling der Kunden in dem Schreibwarenladen, den Odette und ihr Mann Quentin betreiben.
Odettes Schwester Celane wohnt inzwischen in der Eigentumswohnung, wo Odette jahrelang mit Quentin gewohnt hat, bis kurz vor Darrens Geburt.
Odette war bestürzt, als wir im Gespräch den Tod von Giuliettas früherem Freund Cyprian erwähnten. Odette erinnerte sich, wie Cyprian ihr einst in den "Katakomben" begegnete:
"Damals hatte ich Schuhe mit hohen Absätzen an und bin voll darüber gestolpert. Und Cyprian hat mich aufgefangen. Danach sind wir erstmal an die Bar gegangen, und ich, Odette, habe ihm gestattet, mir einen auszugeben."
Cyprians Bandkollege bei den Abstürzenden Brieftauben - Mic - war in Odettes Jahrgang und nahm an derselben Klassenfahrt teil wie Odette. Es ging nach Holland. Mic zog los, um etwas zu kaufen.
"Wie kann man nur mit einer Horde von Jugendlichen eine Klassenfahrt nach Holland machen?" seufzte ich. "Da kann man ja auch die Klassenfahrt direkt in den Coffeeshop machen."
Die Kifferei ist freilich nicht aufgeflogen. Vielleicht schaute man auch absichtlich weg.
Mitte April war ich im "Roundhouse". Joujou war erschöpft von ihrem Vollzeitjob:
"Es ist so anstrengend, weil ich zu Hause auch nicht abschalten kann. Es ist eine echte Doppelbelastung."
Die Parties und Festivals, die Joujou besucht, genießt sie als entspannende Ablenkung vom harten Alltag.
Sasso schickte mir SMS-Nachrichten:
"Maschinenmenschen züchten Computerviren, planen eine Weltverschwörung, wollen uns zu Internetsklaven machen, uns zu Replikanten machen."
Ich antwortete:
"Hu, das hört sich düster an. Woher weißt du denn das alles?"
Sasso simste:
"Ich hab es im Kaffeesatz gesehen, ein Dämon (Erdpinox) hat es mir orakelt."
"Dann weiß Erdpinox doch bestimmt auch, wann + wodurch der Weltuntergang stattfindet."
Sasso schien es allerdings nicht zu wissen.
"Erdpinox" ist ein wunderliches Wort. Das Internet weiß davon rein gar nichts.

In einem Traum wollten Rafa und ich miteinander ins Bett gehen. Einen geeigneten Platz hatten wir schon gefunden. Es handelte sich um eine fremde Wohnung in einem ansonsten fast völlig leerstehenden Hochhaus. In der Wohnung, zu der ich den Zugangsweg kannte, war fast nie jemand anwesend; sie wurde ähnlich genutzt wie die "Geisterwohnungen" in Monaco, die nur den Zweck erfüllen, einen Wohnsitz vorzutäuschen.
Rafa verhielt sich ruhig, fast schüchtern. In der länglich geschnittenen, geräumigen Küche bereiteten wir einträchtig unser Lunch zu. Rafa setzte Wasser auf, ich suchte Lebensmittel zusammen. Rafa bemerkte nebenbei, er habe schon in einer Stunde wieder einen Termin. Ich sagte nichts dazu, dachte mir nur:
"Das kenne ich schon; wenn er etwas mit mir vorhat, begrenzt er dieses, indem er behauptet, er habe schon bald seinen nächsten Termin."
Schritte erklangen. Ich spähte durch eine Öffnung in der Küchenwand und sah in der angrenzenden, gänzlich leeren Wohnung einen fremden Mann herumlaufen. Er entfernte sich schon bald wieder.
"So, wollen wir dann?" fragte Rafa, als wir aufgegessen hatten.
"Klar", sagte ich.
Der Traum zerfiel, ich wachte auf.

Kurz danach schlief ich wieder ein und träumte die Fortsetzung:

Rafa und ich waren ins Schlafzimmer gegangen, das war ähnlich geschnitten wie die Küche, aber ohne Öffnung in der Wand. Rafa hatte sich ins Bett gelegt, er war wie ich eher spärlich bekleidet. Hinter ihm war ein schmales Fenster in der Wand, das war verhängt mit einem Vorhang. Den zog ich etwas zurecht, damit das helle Tageslicht gedämpft wurde. Dann kroch ich zu Rafa unter die Decke.
"Oh, ich muß unbedingt noch Musik 'raussuchen", fiel Rafa ein.
"So ist das also", dachte ich. "Er sucht nach Ausreden ..."
"Jetzt machen wir fertig, dann kannst du die Musik 'raussuchen", sagte ich, und Rafa war einverstanden.
"So ist das ... er fürchtet sich ...", dachte ich. "Über jedes Mädchen steigt er ohne Zögern drüber, ganz gleich, ob sie vorher schon mit jemandem im Bett war oder nicht. Aber bei mir fürchtet er sich, als wäre er selbst noch nie mit jemandem im Bett gewesen."
Der Traum zerfiel, ich wachte auf.

Am Dienstag waren Beatrice und ich zum Abendessen im "Labyrinth". Beatrice gab mir eine festlich gestaltete Hochzeits-Einladung. Darauf waren Beatrice und Tagor zu sehen, lächelnd, verliebt. Daß ich dieses Foto im ehemaligen KZ Mittelbau-Dora vor dem Krematorium gemacht habe, ist in keiner Weise erkennbar, dennoch hat es eine gewisse Symbolkraft, wenn man an Beatrices katastrophale Kindheit denkt.
Lessa hat Beatrice erzählt, sie werde ebenfalls heiraten, drei Wochen später. Sie werde ihren langjährigen Freund heiraten. Es werde eine Fünfziger-Jahre-Motto-Party sein.
Beatrice hat eine Arbeitskollegin aus ihrer Praktikumszeit als Trauzeugin gewählt, die auch eine Kollegin von Tagor ist. Beatrice ist mit ihr seit Jahren eng befreundet. Als sie Lessa das erzählte, bemängelte Lessa:
"Aber als Trauzeugin nimmt man doch die beste Freundin."
"Eben", erwiderte Beatrice.
Da war Lessa ziemlich beleidigt und verkündete kurz darauf, daß sie ihrerseits Beatrice nicht als Trauzeugin ausgewählt habe.
Lessas Verlobter soll schon seit vielen Jahren im Rotlichtmilieu verkehren. Lessa kennt ihn von einem Besuch in einem Tattoo-Studio gegenüber vom "Mute". Sie ist mit ihrem Verlobten zum zweiten Mal liiert; während der ersten Beziehung mit ihm - 1996 - vermittelte er ihr den Kontakt zu der Domina Eliette, für die Lessa einige Zeit arbeitete, ebenso wie Aimée.
Eliette soll ihr Domina-Studio verloren haben, weil der Mietvertrag für das Gebäude auslief, ein ehemaliges Fabrikgebäude. Danach soll sie eine Zeitlang ein Wohnungsbordell betrieben haben, bis die Anwohner sie herausklagten. Inzwischen wohnt sie in Beatrices Nähe - auf dem Land -, und sie soll ein Reitpferd besitzen. Vielleicht hat Eliette durch eine Heirat ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Position verbessern können.
Beatrice hat Aimée zum letzten Mal gesehen, als diese mit ihrer Tochter Leana schwanger war. Zum letzten Mal hat Beatrice mit Aimée telefoniert, als Aimée anrief und ihr Leanas Geburt mitteilte. Aimée lebt in einem Wohnblock in der Nähe des Viertels in H., wo sie ihre Jugend verbracht hat.
Als Beatrice Aimée zum letzten Mal sah, soll Aimée regelrecht solariumverbrannt gewesen sein, und sie soll sehr übergewichtig gewesen sein. Ihre Garderobe soll einem profanen "Hausfrauen-Look" entsprochen haben.
"Wie Menschen sich verändern!" konnte Beatrice da nur denken.
Aimée soll zum dritten Mal schwanger sein, und mit einiger Wahrscheinlichkeit soll ihr Freund und Vater ihrer Tochter Leana nicht der Vater dieses dritten Kindes sein.
Beatrice erinnerte sich an die Zeit vor über zehn Jahren, als sie Aimée kennenlernte. Damals habe Aimée noch wie ein Fan der Kelly Family ausgesehen, was sie auch war, spielte doch diese Familie eine Zeitlang für Aimée die Rolle einer Ersatzfamilie. Als Aimée Ende 1996 mit Andras zusammenkam, dem Vater ihres Sohnes Allister, hatte Beatrice gerade Miles geheiratet und bekam in W. Besuch von Andras und Aimée. Sie staunte, als sie Aimée sah, und fragte sich:
"Wo hat Aimée nur so schnell die Szene-Klamotten her?"
Miles flocht Aimée Rasta-Zöpfchen, wie Beatrice sie trug. Eliette bekam später ebenfalls von Miles Rasta-Zöpfchen geflochten.
Andras trennte sich im Frühjahr 1997 von Aimée, während sie mit Allister schwanger war. Nach einigen Monaten als "Sklavin" in Eliettes Domina-Studio zog Aimée sich ins bürgerliche Leben zurück und soll seither nur noch Hausfrau und Mutter sein.
Andras soll mit seiner noch im Teenageralter befindlichen Freundin nach wie vor zusammen sein. Sie soll sehr eifersüchtig sein, was bisher aber kein Grund für Andras gewesen ist, sich von ihr zu trennen. Zu Beatrices Hochzeit sind beide eingeladen.
Beatrices Scheidung von Miles fand in W. statt, wo die beiden vor zehn Jahren als Ehepaar zusammengelebt haben. Die Scheidung soll ohne die befürchteten Reibereien und Schwierigkeiten abgelaufen sein. Miles soll ruhig und vernünftig gewirkt haben. Vielleicht hat er die Scheidung auch deshalb akzeptieren können, weil er gegenwärtig eine Freundin hat.
Beatrice erinnerte sich, wie Miles sie im Sommer und Herbst 1996 umworben hat. Wenn er sie einlud, war bei ihm zu Hause alles aufgeräumt und sauber, auch er selbst pflegte sich. Beatrice und Miles nahmen sich in W. eine gemeinsame Wohnung. Kaum aber waren die letzten Hochzeitsgäste fort, rührte Miles in dem ehelichen Haushalt keinen Finger mehr. Schon die Gläser, aus denen die letzten Gäste getrunken hatten, ließ er stehen. Tag für Tag frühstückte Miles nun mit Beatrice und legte sich anschließend aufs Sofa. Dort fand sie ihn immer noch vor, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam; sie hatte eine Vollzeitstelle bei einer Zeitarbeitsfirma. Miles hatte weder geduscht noch im Haushalt etwas getan. Er schien sich den ganzen Tag nicht vom Sofa wegbewegt zu haben. Beatrice machte zunächst all das, was Miles liegengelassen hatte, wurde dabei aber immer unmutiger und begann schließlich, mit Miles zu diskutieren. Miles beklagte sich, daß Beatrice sich zu wenig um ihn kümmere.
Während der Verlobungszeit war Miles Zivildienstleistender. Vorher hatte er eine Ausbildung abgeschlossen. Als er heiratete, war der Zivildienst vorbei. Anstatt sich um Arbeit zu bemühen, erfand er vielerlei Geschichten, mit denen er seine Untätigkeit zu rechtfertigen versuchte. Er jobbte nachts als DJ oder Tätowierer, hatte aber ansonsten mit Arbeit nichts im Sinn. Er ließ sich weitgehend von Beatrice aushalten. Nach gut zwei Jahren hatte sie genug davon und trennte sich von ihm.
Beatrices jetziger Verlobter Tagor arbeitet seit Jahren bei der Softwarefirma, wo Beatrice ihr Praktikum gemacht hat. Die Firma wird von einem Ehepaar geführt. Die Chefin soll durch Intriganz eine fähige, kompetente Mitarbeiterin aus der Firma gedrängt haben. Diese Mitarbeiterin soll inzwischen selbständig sein und sehr gut verdienen.
Über ihre Liebe zu Tagor sagte Beatrice, sie fühle sich in der Beziehung mit ihm sehr wohl. Es sei nicht die ganz große Leidenschaft, aber sie sei glücklich mit ihm.
Tagor hat sich im Herbst 2003 von seiner langjährigen Freundin Malvina getrennt, mit der er schon längere Zeit nur mehr geschwisterlich zusammenlebte. Beatrice hatte ihn gezielt auf seine Beziehung mit Malvina angesprochen, und er hatte sich eingestanden, daß für ein lebenslanges Glück von Malvina und ihm die Basis fehlte. Er entschied sich für Beatrice. Die Beziehung von Tagor und Beatrice scheint beiden viel Geborgenheit zu vermitteln.
Beatrice fragte mich, was ich an Rafa mag. Ich antwortete, daß es sich um Nuancen handelt, so vielschichtig und subtil, daß sie nicht bewußt erfaßt werden können. Und sehr viel habe es mit Pheromonen zu tun, die hier eine Entscheidung geradezu unausweichlich machen, also zwingend Rafa als den zu mir passenden Partner kennzeichnen.
Im "Reha-Bunker" gibt es - wie in anderen Krankenhäusern auch - immer wieder absurde Alltagsszenen, die für Heiterkeit sorgen. Im Speisesaal auf Station 7 warf Schwester Sue eine Orange nach Pfleger Tom. Die Orange traf ihn am Kopf und fiel anschließend in die Schublade, die er eben aufgezogen hatte.
"Volltreffer", freute sich Sue. "Früher habe ich Messerwerfen gemacht, deshalb kann ich gut zielen."
Während Sue ihr Frühstück aß, näherte Tom sich von hinten und goß ihr seelenruhig ein Glas Wasser in den Ausschnitt. Sue nahm es amüsiert zur Kenntnis:
"Ist eh bloß Wasser."
Als der Zivildienst der beiden Stations-Zivis endete, wurden sie von etwa acht Schwestern und Pflegern gepackt und zum hauseigenen Schwimmbad geschleppt. Sie wurden ins Wasser geworfen und zogen einen der Pfleger mit hinein.
Vor allem einer der beiden Zivis setzt sich gern in Rollstühle. Einmal sollen die beiden Zivis auf dem Stationsflur ein Rollstuhl-Wettrennen veranstaltet haben.
Etwa zwei Wochen nach Ostern trafen Constri und ich uns in BS. mit Marie-Julia, die ihre Tochter Hedy im Kinderwagen mitbrachte. Wir setzten uns in ein Bistro. Hedy ist mit ihren acht Monaten die Jüngste in der Kinderkrippe, sie ist aber gerne da. Die Krippe nimmt schon wenige Wochen alte Säuglinge auf, um den Müttern die rasche Rückkehr ins Berufsleben zu ermöglichen. Viele Berufstätige im Bereich der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze wohnen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, wo das Wohnen günstig ist und es gute Möglichkeiten der Kinderbetreuung gibt, sie pendeln jedoch zum Arbeiten in die alten Bundesländer, denn dort gibt es eine bessere Bezahlung.
Marie-Julia erzählte von den ersten sprachähnlichen Lauten ihrer Tochter. Constri erzählte, daß sie möglichst viel von Denises Kindersprache aufgeschrieben hat, um es nicht zu vergessen. Constri erinnert sich besonders gern daran, wie Denise mit zwei Jahren ihrem Plüsch-Marienkäfer die Zähne putzte und sagte:
"Rienkater, Beene putte! Rienkater, Beene putte!"
Dann putzte sie abwechselnd dem Marienkäfer und sich selbst die Zähne und sagte:
"Ein Rienkater ... und ein Denise."
Marie-Julia brachte Fotos mit von unserem Besuch in Mb. im vergangenen Herbst. Auf einem der Fotos war Tyra zu sehen. Ich erzählte, wie Tyra sich nach dem Benefiz-Festival in L. sowohl von Berenice als auch von mir zurückzog.
"Da kann eigentlich nur Rafa dahinterstecken", meinte ich. "Tyra kann sich eben immer noch nicht gegen Rafa abgrenzen und läßt sich immer wieder von ihm einwickeln."
Nachdem Marie-Julia mit Hedy losgezogen war, um Gardinen zu kaufen, gingen Constri und ich bummeln in einer neu eröffneten Shopping Mall. Die Ladenpassage beginnt hinter einer wiederauferstandenen historischen Schloß-Fassade.
In der Abendsonne machten Constri und ich einen Spaziergang an der Oker. Constri erinnerte sich, wie sie mit Rikka hier spazierengegangen ist. Über zehn Jahre ist das her. Sie machten Scherz-Fotos, doch der Film wurde nicht transportiert. Constri machte jetzt Erinnerungsfotos mit ihrem Handy.
In E-Mails unterhielt ich mich mit Berenice über die Nacht in der Schweiz, als Rafa von ihr verlangte, ohne Schlaf und ohne Ablösung eine Strecke von 750 Kilometern zu fahren. Ich mailte:

Hach, das hätte Rafa mal versuchen sollen, mich dazu zu bewegen, eine Marathon-Nachtfahrt zu machen, obwohl ich schlafen gehen will ... er hätte wahrscheinlich versucht, mich emotional (mit Liebesentzug) zu erpressen, wie er es bei Tyra gemacht hat, wenn sie nicht so wollte wie er. Bin ich froh, daß ich alle Verlustängte hintenanstelle, wenn es um mein Wohlbefinden geht. Ja, Rafa wußte schon, warum er mich nicht haben will. Ich hätte mich ihm nie untergeordnet, auch nicht in solchen Dingen.

Über das Verhalten von Kitty und Dolf - die Berenice in jener Nacht eher in den Rücken fielen, als sie zu unterstützen - schrieb ich:

Ouu, sind Kitty und Dolf aber devot! Huuu ... das glaube ich dir gern, daß du dich von einer solchen Struktur wie der bei W.E hast verunsichern lassen ... man hält sowas dann leicht für die Normalität, zumal Rafa ausgeprägte manipulative Fähigkeiten besitzt und eben dieses suggeriert ("Ich bin hier der Chef, noch Fragen?").

Berenice mailte:

Verunsichern? Na ja, man muss eben Kompromisse eingehen können ;) Habe ja nur allzu oft meinen Willen durchgesetzt, was sich dann ja körperlich für mich nachteilig ausgewirkt hat ;)))) Man muss auch abwägen können.
Zudem war, ist und bleibt Rafa der Chef von W.E. Ich sehe das so und habe ihn darin bestärkt.

Ich mailte:

Manchmal denke ich, vielleicht ist es für Tyra tatsächlich nötig, räumlichen Abstand zu Rafa zu kriegen, weil sie den Abstand seelisch nicht hinkriegt ... für dich war das ja auch die Rettung.

Berenice mailte:

Rettung ... Es war nie der Sinn - ich bin einfach nur meinen Weg gegangen. Dass ich hier auf einmal so viel Wärme und Geborgenheit erfahren würde, damit habe ich ja nicht gerechnet - Rafa sah dagegen und mit der Entfernung so kalt, leblos und abschreckend aus, dass ich einfach Schluss machen musste. Ich weiß noch genau, wie ich am Telephon saß ... Gut, dass ich die Kraft gefunden habe :)

Azura mailte, daß sie eine Stelle bekommen hat, die auf sie einen guten Eindruck macht. Sie wird dabei helfen, Impfstoffe zu entwickeln.
Azura erzählte von dem Nistkasten auf ihrem Balkon. Die Meisen hätten sich immer weniger um ihre Brut gekümmert. Azura habe in dem Kasten schließlich ein letztes noch lebendes Junges gefunden und es einer Vogelfreundin gegeben, weil sie nicht die Zeit hatte, das Tier zu versorgen. Azura macht sich keine allzu großen Hoffnungen, daß das Tier durchkommt.
Berenice erzählte in einer E-Mail von ihren beruflichen Plänen nach der Promotion. In der Forschung würde sie ungern arbeiten, weil sie unter dem Druck stehen würde, andauernd Drittmittel einwerben zu müssen.
In meiner Studienzeit habe ich als wissenschaftliche Hilfskraft Vorträge und festliche Buffets in teuren Hotels als attraktive Highlights erlebt und war mir nicht im Klaren darüber, daß es dabei um Geld ging und sonst um nichts.
Berenice ist beruflich ansonsten flexibel. Sie zieht gerne um und freut sich darüber, daß ihr Lebensgefährte ihr überallhin folgen würde.
In E-Mails unterhielten wir uns über Rafas Anspruch, als Alleinherrscher seine Band W.E zu regieren. Berenice findet Rafas Herrschaftsanspruch bei W.E angemessen:

Ein Chef ist schon wichtig, als Koordinator und so. Man kommt nicht drum herum. Es muss aber auch jemand sein, der zugunsten der Firma / Band zurückstehen kann - das kann Rafa nicht. Was aber auch in Ordnung ist, denn er hat sich seinen Traum erfüllt und kann damit tun und lassen, was er will. Ist zwar nicht das Beste für W.E, aber geht es denn darum??? Geht es darum, dass jede Tussi, die mal auf der Bühne steht, sich einbringen muss? Rafa ist W.E - seine Wünsche sind maßgeblich. Und wenn die Fans lieber öfter die Mädels hören / sehen wollen, Pech für die Fans. Rafa hat diesen Weg gewählt, und er hat jedes Recht dazu.

Berenice will ihr eigenes musikalisches Projekt anders führen. Sie will zurückstecken, wenn jemand etwas besser kann als sie. Sie findet Rafas Verhalten als "Chef" bei W.E in Ordnung, für ihre eigene Band jedoch sei es Gift:

Wir wollen doch viel, viel Spaß miteinander haben, etwas, was bei W.E Mangelware ist.
W.E ist nichts weiter als eine Erfahrung, eine Möglichkeit, viel von den Menschen, die man kennenlernt, zu lernen, ein Sprungbrett. Aber keine Möglichkeit, sich kreativ und künstlerisch zu entwickeln oder entfalten. Und ich habe so viele Kämpfe hinter mir, dass ich genau weiß, wovon ich spreche. Die Mädels, die bei W.E auf die Bühne kommen (bis auf Zinnia), sind doch eh alle keine Künstlerinnen / Sängerinnen o. ä. gewesen. Sonst würde das ja auch alles nicht so funktionieren ;)
Kitty ist ja wenigstens noch eine ehemalige Ballett-Tänzerin, doch auch das durfte sie ja nicht zeigen. Aber warum sollte W.E nicht als Denk-Anstoß, als Sprungbrett, als Inspiration dienen?
Nein, ich finde das alles völlig in Ordnung, und nicht nur, weil ich selbst Teil davon war. Meinst Du, ich wäre auch nur im Traum auf die Idee gekommen, mich mit Musik auseinanderzusetzen? Zu texten? Zu singen? Nein, nie :)))))))) Kitty würde ja heute auch noch singen, wenn sie Zeit hätte.
Wie gesagt, es wird sicher weitergehen mit den Mädels. Sie machen genau das, was von ihnen erwartet wird - wie lange sie dies tun und was sie als Erfahrung mitnehmen, ist ihre Sache :)

Ich mailte zu Rafas nachlassendem Output:

Rafa hat sein kreatives Pulver längst verschossen, kann sich nur noch selbst kopieren oder von anderen Bands abkupfern.

Berenice mailte:

Ist es nicht genau das, was sich die Fans wünschen? Es wird doch immer bemängelt, wenn ein Künstler sich weiterentwickelt, weil die neue CD nicht haargenau so klingt wie die davor (könnte mich immer darüber aufregen über solche "Fans"). Nein, Rafa wird seine Fans noch lange halten können.

Ich mailte:

Ein Unternehmen, das auf Kadavergehorsam aufbaut, ist anachronistisch und nicht auf Dauer wettbewerbsfähig.

Berenice mailte:

Wahrscheinlich. Aber auch das ist nur die Entscheidung von Rafa. Wenn er damit glücklich und zufrieden ist, ist es gut so. Und was Außenstehende davon halten, ist absolut uninteressant.

Ich erzählte von der Oster-Party im "Ferrum":

Geisterhaft war das Bild, das Rafa und Darienne am Ostersonntag im "Ferrum" abgaben.

Berenice meinte:

Oh ja, das hört sich ja alles furchtbar an!!! Vielleicht hatten die beiden einen Streit vorher??? Oh jeh ... Dennoch musste ich ein wenig schmunzeln: Darienne, die ja so stolz war, mit Rafa zusammenzusein, hat wohl endlich begriffen, in was für einer Hölle sie gelandet ist :)))) Hihi. Tja, herzlich willkommen in meiner Vergangenheit :) Dennoch kommen auch wieder gute Zeiten für sie - das weiß ich aus Erfahrung. Und dann ist der Streit / Stress / Enttäuschung vergessen ;) Ach, es gibt doch immer und überall Hochs und Tiefs. Und das war wohl ein Tief ;))))
Ich rede so, als wäre es das Schlimmste, mit Rafa zusammenzusein. Ist natürlich Blödsinn. Es kommt mir nur heute so vor ... Damals war es nicht so schlimm für mich, weil ich einfach ganz anders drauf war. Heute ist mir meine Beziehung wichtig, früher war es einfach ein Teil meines Lebens. Ich möchte nicht zurück, klar, aber damals war es in Ordnung für mich. Vielleicht ist es das auch für Darienne. Ihre Entscheidung, ihr Leben.
FALLS Darienne mit Rafa zusammengekommen ist, weil er Sänger blablabla ist, und sie sich ein aufregendes Leben vorgestellt hat (immerhin war sie vorher ja schon W.E-Fan), dann ist sie jetzt ganz schön enttäuscht. Lucy hat da einen immensen Vorteil: sie darf bei W.E dabei sein (auch ohne zu singen, aber der Schein ist ja auch schon mal was Schönes), ohne mit Rafa sein Leben teilen zu müssen.

Mit Tyra hat Berenice gelegentlichen E-Mail- und SMS-Kontakt. Tyra melde sich selten.
Ich erkundigte mich:

War das echt so, daß immer, wenn du mal "nein" gesagt hast und auch bei "nein" geblieben bist, daß Rafa dann handgreiflich wurde?

Berenice antwortete:

Nein, nicht immer handgreiflich. Doch gab es andere Art und Weisen, mir weh zu tun ;) Rafa ist ein Spieler, das Schlimmste für ihn ist, zu verlieren. Egal, wie.

Isis berichtete, daß sie wieder in H. ist und auf der Party zum 40. Geburtstag von Siro dabei sein will.
Cennet mailte, daß er mit seiner jungen Familie bald eine größere Wohnung beziehen wird.
Ende April bekam ich innerhalb von einer Stunde hohes Fieber und lag tagelang mit Influenza im Bett. Daß ich mich ansteckte, führte ich auch auf die sich verschlechternden Arbeitsbedingungen im "Reha-Bunker" zurück. Weil immer mehr Kollegen kündigen, müssen die, die noch da sind, mindestens für zwei arbeiten, was aber in keiner Weise honoriert wird, im Gegenteil. Nachdem der ärztliche Direktor in Rente gegangen ist, wurde er durch einen wesentlich Jüngeren ersetzt, der sich als verlängerten Arm der Geschäftsführung versteht und konsequent gegen seine Untergebenen arbeitet. Wohin das führt, ist klar: Noch mehr Kollegen kündigen. Auch ich werde in nicht allzu ferner Zeit den Absprung wagen. Ich bin es mir und meiner Gesundheit schuldig.
Mit Berenice unterhielt ich mich in E-Mails über die Party im "Nachtbarhaus" im Dezember, wo auch Rafa und Darienne waren. Berenice schrieb:

Ich weiß ja, dass Rafa beim DJing arbeiten muss und sich konzentriert und so - aber er hatte immer Zeit für mich, für Gespräche, für Neckereien o. ä. Und klar, es war auch streckenweise langweilig für mich, wenn er keine Zeit hatte und ich auch niemanden in der Disko kannte. Aber dann habe ich eben am Sekt genippt und bin tanzen gegangen oder sonstwas. Kann Darienne da also auch ein wenig verstehen, wenn sie sich langweilt. Na ja, IHR Leben - juchhu, nicht meins!!!!!!!!!!!!!!! :)

Ich mailte:

Wenn ich mir das Idyll von Rafa und dir vorstelle damals ... am Wochenende hat er mit dir über die Ehe und die Zukunft geredet, und in der Woche hat er übergangslos mit Tyra über die Ehe und die Zukunft geredet. Tyra war vollkommen überzeugt, daß Rafa ihr zukünftiger Mann ist. Deshalb ist sie auch so abgestürzt, als Rafa sie mit Darienne betrogen hat und sie wenig später durch Darienne ersetzt hat, freilich ohne sie als Geliebte aufgeben zu wollen.
Rafa ist so skrupellos, daß es ihm immer wieder gelingt, Menschen von seinen Lügen zu überzeugen.

Berenice mailte:

Armer, armer Rafa. Echte Gefühle sind so wertvoll, ach, was rede ich - er wird nie wissen, was ihm entgeht. Und dabei fühlt er sich noch so erhaben. Aber soll er - SEIN Leben, juchhu, nicht meins ;)
Arme Tyra, natürlich, ganz klar. Mir waren doch Rafas Zukunftspläne egal: Kinder kriegen, na sicher doch. Damit ich zu Hause bleibe, und er ... Na ja. Nein, eine gemeinsame Zukunft habe ich mit ihm nicht gesehen. Mann, warum kann er nicht einfach ehrlich und treu sein? Tyra hat ihn doch wirklich geliebt ...

Zu Rafas Neigung, seinen Sängerinnen Schmetterlingsbrillen aufzusetzen, mailte ich:

Eine Fensterglas-Schmetterlingsbrille macht eine Frau zu der Mutti, die Rafa anscheinend in jeder Frau sehen will.

Berenice mailte:

Ja, mit seiner Mutter hat er wirklich immense Probleme, vielleicht muss Rafa auch erst bedrohlich krank werden, um sich in Therapie zu begeben. Wer weiß. In dem "Chromglanz"-Profil, das Du mir geschickt hast, stand doch drin, dass er Frauen hasst - oder erinnere ich mich da falsch??? "Ich hasse alle Frauen - aber nein, Du bist keine Frau, Du bist meine Freundin." Aha, ja klar, Rafa. Alles wird gut, ganz bestimmt.

Ich mailte:

Rafa kann nicht verlieren, und wenn er doch mal verliert, dreht er es so hin, als habe er gewonnen. Das führt dazu, daß er am Ende als Verlierer dasteht. Der kann doch einer Frau nichts bieten.
"Komm, sei meine Braut, ich trage dich über die Schwelle meines Kellers."
Alles klar.

Berenice mailte:

Manchmal reicht es ja wohl schon, der Sänger von ... zu sein. Auch wenn das weder bei Tyra noch bei mir so war - als ich ihn kennenlernte, war ich gerade mit einem Sänger zusammen, der W.E für einen schlechten Witz hielt. Damals haben sie ja auch nur vor einer Handvoll Leute gespielt - lange her.

Berenice erzählte von Maje, die W.E-Fan ist und mit Berenice E-Mail-Kontakt hat. In einer E-Mail an Berenice erzählte Maje von einem W.E-Konzert zum Tanz in den Mai in B. Maje findet W.E-Sängerin Darienne aka "Plastik" nicht besonders anziehend. Sie schrieb:

Ich stand links an der Bühne, genau vor Plastik. Ich dachte eigentlich, sie steht rechts, wie letztens. Nun hatte ich natürlich die ganze Zeit diese Plastikfrau vor mir. Naa ja. Das neue Lied von IHR fand ich richtig schlecht. Daß sie nicht "singen" kann, ist ja bekannt ... aber so hatte das nichts, keinen wirklich sinnvollen Text - außer "Ich bin aus Plastik" - und naa ja ... aber hat man überlebt.

Anfang Mai träumte ich Folgendes:

In S. stellte ich mich in einer luxuriös ausgestatteten neurologischen Klinik vor, obwohl ich eine Stelle hatte und nicht zum Wechsel gezwungen war. Ich sollte einen Tag lang "probearbeiten". Mir fiel die Freundlichkeit der Schwestern und die Schüchternheit der Assistenten auf. In der Mittagspause fuhr ich zu Irmins Haus, wo mein Quartier war. Da klingelte es, und der Professor, bei dem ich mich vorgestellt hatte, kam in die Wohnung im ersten Stock. Ich begrüßte ihn, er antwortete jedoch nur mit einem aufgesetzten, falschen Grinsen. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich ohne Rücksprache die Klinik verlassen hatte, obwohl ich doch probearbeiten sollte. Ich suchte die Klinik auf dem Stadtplan, fand aber nur den nahegelegenen Berg "Heiligskreuz". Die Klinik konnte ich nirgends entdecken. Mit meinem Vater fuhr ich im strahlend weißen Sonnenschein zum "Heiligskreuz". Wir schlängelten uns über Serpentinen hinauf bis knapp unterhalb des höchsten Gipfels. Dort parkten wir. Ich stieg aus und ging die letzten Meter zum Gipfel zu Fuß. Auf dem Gipfel stehend, sagte ich zu meinem Vater:
"Der Berg heißt 'Heiligskreuz', es gibt aber gar kein Gipfelkreuz."
"Nein, das gibt es hier nicht."
"Ist das hier nicht alles Müll?"
"Ja, der Berg ist die Müllkippe von S."
Mehrere Gipfel krönten steil abfallende Hänge, und die gesamte Landschaft bestand nur aus zerkleinertem Müll und silbriggrauer Asche. Auf halber Höhe leuchtete weiß die luxuriöse neurologische Klinik. In der Ferne lag die Stadt im Dunst. Ich schaute auf die Karte und konnte die Klinik immer noch nicht finden.




Am ersten Samstag im Mai kam ich gegen halb eins ins "Daybreak", eine Discothek, die sich in einem alten Landgasthof befindet. Das "Daybreak" liegt an einer vielbefahrenen Bundesstraße in einem Dorf nördlich von H. Vermutlich handelt es sich um ein ehemaliges Weghaus, wie sie häufig an historischen Fernstrecken zu finden sind. Lexx hat zeitweise im "Daybreak" aufgelegt.
Im Hauptsaal ist die Tanzfläche recht groß. Am DJ-Pult standen Rafa und Gavin. Kurz nach meinem Erscheinen begann "This shit will fuck you up!" von Combichrist, und ich hatte gleich Musik zum Tanzen.
Rafa verhielt sich anders als im "Ferrum"; er wirkte aufgekratzt und lebendig. Er versprach durchs Mikrophon, es gebe CD's zu gewinnen.
Rafa sah so aus wie meistens. Er trug seine schwarze Weste mit den Silberknöpfen, das langärmelige Batik-Shirt und seine Sonnenbrille mit den runden Gläsern, die er auch heute nie absetzte. Ich hatte die schwarze, mit Spitzen und Pailletten verzierte Samtcorsage an, deren Träger die Schultern freilassen, und dazu trug ich das genau im selben Dekor verzierte Halsband. Außerdem trug ich die langen schwarzen Abendhandschuhe und den langen, weiten, mit Satinbändern und Spitzen verzierten Tüllrock, der in Wahrheit aus drei Röcken besteht. Wie immer trug ich die Haare zusammengebunden, mit Kordelzöpfchen und schwarzen Organzabändern verziert.
Rafa ging in der Nähe der Kasse dicht an mir vorbei, als ich mich dort erkundigte, ob es heute Lose gab.
Etwas später ging Rafa mit einigen Gästen an den Kicker. Ich begrüßte Gavin, der nun auflegte. Als ich ihn fragte, ob es Lose gab und wie die von Rafa angekündigte Gewinn-Aktion ablaufen werde, schenkte Gavin mir eine der CD's, die zum Gewinnen bereitlagen; es war Rafas aktuelles Album. Gavin meinte, es komme auf eine CD mehr oder weniger nicht an.
Neben mir stand ein betrunkener Junge in sehr legerer Garderobe, er hatte ein olivfarbenes T-Shirt und eine Jeans an. Er stellte sich vor als Alvar.
Wenn ich nicht tanzte, saß ich vor der Theke auf einem Barhocker. Rafa eilte mehrfach dicht an mir vorbei. Darienne sah ich nicht.
Alvar erzählte, er sei dabei, Abitur zu machen. Er wolle studieren und sei sich im Klaren darüber, daß H. der hierzu am besten geeignete Ort sei. Alternativen gebe es nur weit weg, etwa im Ruhrgebiet. Er wolle aber nicht nach H., denn so, wie er die Stadt kennengelernt habe, habe er sie nun in Erinnerung, und diese Erinnerungen würden ihn in H. immer belasten.
"Es kann sein, daß man, wenn man einmal da ist, die Stadt aus einem anderen Blickwinkel kennenlernt und unter neuen Aspekten", meinte ich, "so daß die schlechten Erinnerungen nicht mehr im Vordergrund stehen."
"Ja, das kann natürlich sein."
Alvar erzählte, heute werde er sich umbringen, denn er sei betrunken und wolle nachher mit dem Auto nach Hause fahren.
"Wie man sich bettet, so liegt man", meinte ich.
"Du bist ja eiskalt", klagte Alvar.
Er berichtete, daß sein Vater im regionalen Krankenhaus lag. Nach einer Gallenblasenentfernung habe er heute Abend noch einmal operiert werden müssen, weil es ihm schlechter gegangen sei. Nun machte Alvar sich große Sorgen.
"Das ist viel schlimmer, als wenn in einer Beziehung Schluß ist", meinte Alvar. "Das ist etwas Existenzielles. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich weiß gar nicht, wohin mit diesen Gefühlen."
"Am besten ist es, man redet darüber."
"Reden ist nicht so meine Sache", erzählte Alvar. "Ich trinke dann. Das weiß ich natürlich, daß das keine Lösung ist. Aber so, wie ich mich mit dir unterhalte, das kannte ich noch gar nicht, ich meine, in einer Bar, das gab es noch nie. Man labert halt so ein bißchen, das schon, aber so ein Gespräch, das hatte ich echt noch nie."
Ich sagte zu Alvar, daß ich einen Menschen eher ernst nehmen kann, wenn er nüchtern ist. Viele Menschen seien im nüchternen Zustand ganz anders, als man erwarte, wenn man sie nur betrunken kennt.
Rafa spielte "Boys don't cry" von The Cure, und Alvar zog mich auf die Tanzfläche. Er torkelte mehr, als daß er tanzte. Er erzählte, er versuche, mit mir in denselben Takt zu kommen, aber das schaffe er gerade nicht.
"Das macht doch gar nichts", versicherte ich. "Es geht doch nur darum, daß man Spaß hat."
Bei dem Gedanken an Rafa und seine legendäre Eifersucht mußte ich lauthals lachen. Dabei wußte ich nicht einmal, ob er eifersüchtig war.
Rafa spielte ein Lieblingsstück von mir, "Alle gegen alle" von DAF in der Version von Laibach. Alvar meinte, ich hätte einen besonderen Tanzstil, einen sehr schönen Tanzstil. Er gab mir Afri-Cola aus, und ich erzählte, daß Afri-Cola mich an das alljährliche Pfingstfestival in L. erinnert, weil ich dort immer Afri-Cola trinke. Alvar versuchte, seinen Alkoholkonsum zu reduzieren, und trank Wasser. Die guten Absichten hielten jedoch nicht lange vor, bald war er wieder bei Bier.
Rafa und Gavin wechselten sich am DJ-Pult häufig ab. Rafa lief oft dort herum, wo ich mich meistens aufhielt - vor der Theke. Er gab etliche Autogramme. Einige Male lief er mit einem zusammengerollten Poster an der Bar vorbei, das war dann wohl eines der Poster, auf die er Autogramme kritzelte.
Rafa stellte durchs Mikrophon die erste Frage, für deren richtige Beantwortung man eine CD bekam; er fragte nach der Band, von der das soeben gespielte Stück stammte.
"Subway to Sally!" rief ein Mädchen.
Es durfte ans DJ-Pult kommen und sich eine CD abholen. Das Mädchen war ziemlich übergewichtig.
"Oh, schööne Frauen gibt's hier sogar - hundertprozentig!" warf Rafa ein leutseliges Kompliment in den Saal.
Ich hatte den Eindruck, daß Rafa sich damit nur selbst in Szene setzen wollte.
Die nächste CD ging an denjenigen, der sagen konnte, zu welchem Dorf ("zu welcher gigantischen Weltstadt") die nächste Ausfahrt von der Bundesstraße abgeht, wenn man nach H. fährt. Das konnten diejenigen beantworten, die die Region kannten.
Alvar hat sich noch nicht an das Pflingstfestival in L. herangewagt. Auch sonst besucht er selten weiter entfernt stattfindende Veranstaltungen. Immerhin hatte er vor drei Wochen Napalm Death in HH. gesehen. Diese Band habe ich 1990 in BI. live gesehen. Sie spielen besonders schnellen Punk. Eines der Stücke, das sie 1990 darboten, bestand nur aus einem Sprung um 180 Grad, einem Gitarrenriff und einem Schrei.
Alvar machte mir Komplimente und meinte, ich würde sehr hübsch aussehen. Während Alvar und ich vor der Theke saßen, kam Rafa des Wegs, ein volles Bierglas in der Hand. Er warf mir ein schiefes Lächeln zu, aus zwei Schritt Entfernung, und ging weiter.
Rafa trank nicht nur ordentlich, er rauchte auch sehr viel und sehr hektisch.
Es liefen "Being boiled" von Human League und "Träume mit mir" von Grauzone. Zu "Träume mit mir" ging Rafa auf die Tanzfläche, dicht bei mir und mit dem Rücken zu mir. Beim Tanzen ergaben sich unwillkürliche Berührungen von uns. Als ich Rafas Rücken kraulte, drehte er sich entrüstet um, ich sah aber weg, und da drehte er sich auch gleich wieder weg. Ich konnte ihn am Ellenbogen kraulen, und als das Stück zuende war und er an mir vorbeiging, war das noch einmal möglich.
"Es kann ihm so schlecht nicht gefallen", dachte ich. "Er hätte jede Möglichkeit, mehr Abstand zu mir zu halten."
Rafa begann im "Elizium" vor vierzehn Jahren damit, mich im Vorbeigehen zu berühren. Diese Art der Kontaktaufnahme geht auf Rafa zurück und wurde von mir fortgesetzt.
Als ich zu "Snuff Machinery" von [:SITD:] tanzte, marschierte Rafa allein um die Tanzfläche herum. Er warf mir einen undurchdringlichen Blick zu.
Am DJ-Pult sprang Rafa mehrmals in die Höhe, warf die Arme hoch und klatschte in die Hände.
Alvar meinte, Rafa sei ein Exot, weil er aus dem Rahmen falle.
Nach dem sehr tanzbaren "Ihr redet und atmet" von Shnarph! fächelte ich mir Luft zu. Alvar meinte, ein Fächer sei sehr hilfreich und außerdem sexy:
"Ich mag diesen historischen Stil. Der hätte nie aussterben dürfen."
"Ist er auch nicht", versicherte ich. "Jedes Jahr zu Pfingsten in L. kannst du sehen, daß es ihn immer noch gibt."
Alvar meinte, auf dem Pfingstfestival würden sich die Leute nur zur Schau stellen.
"Es gibt da immer Leute, die sich zur Schau stellen", meinte ich, "aber das sind wirklich nicht alle."
Alvar fragte, ob ich lieber allein tanze oder paarweise. Ich erwiderte, ich hätte nichts dagegen, paarweise zu tanzen, doch sei das vom Alkoholpegel des Gegenübers abhängig. Alvar konnte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Er faßte meine Hände, schwenkte mich ein wenig hin und her und sagte:
"Ich will unbedingt nochmal richtig mit dir tanzen."
"Ja, wenn du nüchtern bist, geht das auch", erwiderte ich.
Als ich vom Nachschminken zurückkam, huschte Rafa vorbei. Ich war erleichtert, daß er nicht einen Augenblick später vorbeigekommen war, denn ich hätte ihn sonst mit der Tür erwischt.
Das letzte Stück war "Deine Augen" von Rafa. Danach verabschiedete ich mich von Gavin. Rafa verschwand. Alvar schien sich ebenfalls auf den Heimweg gemacht zu haben. Ich wollte nicht darüber nachdenken, ob er sich ans Steuer gesetzt hatte.

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