Lebenszeichen


                                                            
"Der Eishauch des frühen Morgens
dringt durch die offene Tür.
Mir ist, als wenn mich etwas rufen will, doch ich höre nichts.

Die Lebenszeichen sind vorhanden,
ich atme, und mein Herz schlägt,
doch meine Hände sind kalt.

Glitzernd und leer ist mein Blick,
von technischem Gleichmut mein Sinn.
Daten und Zahlen stehen vor meinen Augen.

Keine Leidenschaft fließt durch diese Adern,
kein Mitleid will sich einstellen
mit dem Elend, das ich schuf.

Nun knie ich nieder
vor einem Gott, den ich nicht kenne
und warte auf Antwort:

Bin ich ein Mensch?
Oder bin ich nur aus totem Material,
das Leben heuchelt, wo keines ist?

Mein Herz schlägt, doch es schlägt für niemanden,
ich atme nur für mich allein,
mein Leben berührt kein anderes Leben.

Kein Leid kann ich fühlen,
von jedem kann ich mich verabschieden,
nichts muß ich vermissen, nichts entbehren.

Warum knie ich nieder
vor diesem Gott, den ich nicht kenne
und bete um Antwort?

Bin ich ein Mensch?
Oder bin ich aus unsterblichem Material,
das sich erhebt über alles Leben?

Mein Respekt gilt der Tugend und dem Mitgefühl,
mein Beileid allem menschlichen Empfinden.
Ihr seid schwach und könnt nicht anders.

Sklaven der Sehnsucht, gefangen in romantischen Träumen,
ihr laßt euch immer wieder täuschen
und denkt, ihr braucht nur mich.

Ihr wollt mich, weil ihr mich nicht kriegt.
Wenn ihr mich hättet, wolltet ihr mich nicht.
Ich genieße, daß ich euch nicht will.

Ich lache über euch,
die Menschen brauchen, Menschen suchen.
Ich brauche niemanden ... außer mich.

Nichts zu fühlen ist das wahre Ziel.
Hinter Glas freue ich mich an eurer Verletzbarkeit.
Wenn ich nur wüßte, ob ich unverletzbar bin ...

Darum knie ich nieder
vor einem Gott, den ich nicht kenne
und warte auf Antwort:

Bin ich ein Mensch?
Oder bin ich aus Kunststoff und Stahl
und widerstehe jeder Veränderung?

Pfirsichblüten, rosig schimmernd,
welken bald und gehen dahin.
Sein ist Schein, Lebendigkeit ist Illusion.

Laßt mich gehen, ich bin kein Mensch,
und wenn doch, will ich's nicht sein.
Tod macht unsterblich. Leblosigkeit ist Stärke.

Darum knie ich nieder
vor einem Gott, den ich nicht kenne
und warte auf Antwort:

Laß' mich wissen - bin ich ein Mensch?
Oder ruhe ich in dem eisigen Frieden
einer künstlichen Existenz?

Es gibt keine Macht der Gefühle.
Es gibt nur die Macht der Gefühllosigkeit.
Wer ohne Sehnsucht ist, hat gewonnen, bevor er spielt.

Ich spiele Mensch. Ich spiele Liebe.
Ich spiele gut und geb' mich niemals hin.
Inmitten des Feuers bleibe ich kalt und lasse nur die anderen lieben.

Die offene Tür macht mich unruhig.
Es könnte sein, daß jemand hindurchkommt
und mich aus der technischen Ruhe bringt.

Schau' mich nicht an.
Ich bemühe mich auch, dich nicht anzuschauen.
Vertreibe mich aus deinem Herzen und schneide die Telefonschnur durch.

Hastig falle ich auf die Knie
vor einem Gott, den ich nicht kenne
und bete, daß ich kein Mensch bin und es auch niemals werde.

Nie soll das Feuer mich verzehren.
Kalt will ich bleiben wie der Eishauch des frühen Morgens.
Ungeschlagen will ich bleiben für die Ewigkeit."

freie Übersetzung von "Human" (The Killers)

                                                            





Das neue Autobahnrasthaus strahlte bunt aus großen, leicht schräggestellten Glaswänden. Neonschrift blinkte, Reklameschilder drehten sich unter der himmelhohen Decke. Abseits davon, in einem aufgegebenen Bereich, lag das frühere Rasthaus, verlassen und eingestaubt. Das Gras war in der Sommerhitze verdorrt. Vor einer Mauer, von der die weiße Farbe abblätterte, blühten Stockrosen, hochaufragend, in bleichem Rosa.






Eos ging auf das ehemalige Rasthaus zu, ihren Fotoapparat in der Hand. Sie hatte eine Leidenschaft für Gebäude, die nicht mehr genutzt wurden und dem Verfall überlassen blieben, bis zum Abbruch.
Der Flachbau hatte blinde Fenster und ein schäbiges Portal mit der Aufschrift "Rasthof", rechts und links davon war gekreuztes Besteck abgebildet.
"Das scheint zu sagen:
'Kommt her, ich will euch bewirten.'
Aber das kann es gar nicht, vielleicht will es das auch gar nicht können."
Dieser Gedanke ging Eos durch den Kopf, als sie die flachen Stufen zum Portal hinaufstieg und die Glastür öffnete. Im Eingangsbereich waren Verse an die Wand geschrieben, in groben, seltsam gezackten Buchstaben:


"Seht, was ich habe für euch.
Seht, ich bin für euch da.
Ich habe nichts für euch.
Ich bin nicht da.

Seht, wie ich sorgen will für euch.
Seht, wie ich warte auf euch.
Ich sorge für niemanden.
Ich warte auf nichts.

Jedes Geschenk ist eine Bitte.
Jede Bitte ist ein Geschenk.
Ich schenke euch nichts.
Ich bitte euch um nichts.

Nehmt, was ich euch schenke.
Ich schenke mich.
Nichts bekommt ihr.
Auch nicht mich.

Laßt mich euren Hunger stillen,
dann wird mein Hunger gestillt.
Ich werde euch hungern lassen,
denn ich hungere selbst."


Das Bild von dem gekreuzten Besteck mußte Eos immerzu vor sich sehen; es wollte nicht weichen, es schien ihr etwas sagen zu wollen.
Eos fühlte, es war ein Bild der Trauer, ein Bild der Verlassenheit. In dem Gedicht an der Wand schien die Erklärung versteckt zu sein, warum dieses nüchternde Piktogramm Trauer und Verlassenheit bedeutete.
Das Gedicht schien von einem Menschen zu handeln, der andere verließ und selbst verlassen wurde. Er fühlte den Wunsch, andere zu versorgen, doch er enttäuschte sie nur.
So war es auch mit dem verfallenen Gebäude. Es wollte die Menschen einladen, konnte sie aber nur enttäuschen.
"Wie schäbig muß ein Mensch sein, ehe er nichts mehr wert ist?" fragte sich Eos. "Ehe er es nicht mehr wert ist, daß man etwas für ihn empfindet?"
Eos fotografierte das Gedicht, um es nicht zu vergessen. Sie war sich im Klaren darüber, daß es unmöglich war, herauszubekommen, wer es an die Wand geschrieben hatte. Sie konnte nicht mit dem Menschen trauern, der hier in seiner Trauer allein gewesen war. Und weil sie es nicht konnte, entwarf sie das Ballett "Lebenszeichen". Darin ging es um die Frage, wieviel Lebendigkeit in einem Menschen war, der sich unmenschlich verhielt.






In dem Ballett gab es drei Hauptpersonen; das waren Dion, Ysos und Kathara.
Der erste Akt von "Lebenszeichen" wurde begleitet von einer Klavierversion der Ballade "The Lamb lies down on Broadway" von Genesis. Die Musik begann leise und silbrig, wirkte dann aufgewühlt, melancholisch und zugleich abstrakt, eine Versachlichung von Leidenschaft.
Am Anfang des ersten Akts stand Dion auf der Bühne, schwarzgekleidet. Dicht hinter ihm stand Ysos, weißgekleidet. Sie bewegten sich simultan, so daß kaum erkennbar war, daß sich zwei Menschen auf der Bühne befanden. Ysos war die Seele von Dion. Dion wirkte unzufrieden, schien etwas loswerden zu wollen. Allmählich schien er sich bewußt zu werden, was ihn störte. Er löste sich von Ysos, wandte sich gegen ihn, kämpfte mit ihm und warf ihn schließlich auf einen Steinsockel, wo er reglos liegenblieb. Der weißgekleidete Ysos lag so still auf dem weißen Stein, daß es aussah, als wenn er selbst aus Stein gemeißelt wäre. Dion lief davon.
Der Sockel wurde ans hintere Ende der Bühne gezogen. Von der Decke senkten sich mehrere durchsichtige, schleierähnliche Stoffe herunter, einer vor den anderen, jeder mit einem anderen Muster, einer anderen Struktur. Hinter den Stoffen war der auf dem Stein liegende Ysos nur noch als schemenhaftes Gebilde zu erkennen.
Vorne rechts erschien Kathara auf der Bühne, in einem Gewand, das der griechischen Mythologie entstammen konnte. Sie bewegte sich zwischen den Stoffen, von rechts nach links, von links nach rechts, Schicht für Schicht, wobei sie Ysos immer näher kam. Sie hatte ihn fast erreicht, als sich ein Gitter vor ihm niedersenkte und Kathara den Weg versperrte.






Der zweite Akt wurde begleitet von Garsons Klaviersolo aus "Aladdin Sane" von David Bowie, eine Mischung aus Irrsinn, Gefühlsaufruhr und Drogenrausch. Der Pianist erweiterte dieses Solo, damit es über die gesamte Zeit reichte.
Auf der Bühne stand eine schwarze Theke. Davor saßen auf acht Barhockern acht Mädchen. Sie trugen schwarzweiß gemusterte Kleider. Dion umwarb alle Mädchen gleichzeitig. Mit einem tanzte er, ein anderes umschlang er mit den Armen, eines küßte er. Die Mädchen feindeten sich immer mehr an; sie zogen sich an den Haaren und rissen sich an den Kleidern. Dions Verhalten wurde grob und erniedrigend. Am Ende schlug er auf die Mädchen ein. Zwei fielen zu Boden und blieben reglos liegen. Dion trat nach ihnen.
Die Bühne drehte sich. Nun war eine weiße Wand zu sehen, vor der standen acht Spielautomaten. Sie wurden verkörpert von acht Mädchen, die waren wie Spielautomaten kostümiert. Dion lief von einem zum anderen und spielte an allen Automaten gleichzeitig. Angstvoll und drängend versuchte er, aus den Automaten etwas herauszuholen, was er nicht bekam. Am Ende schlug Dion auf die Automaten ein, warf sich auf den Boden, schlug mit den Fäusten auf den Boden und trat gegen die Automaten.
Der dritte Akt spielte in einer Geröllwüste und wurde begleitet von einer Musik, die so still war wie die Luft - das atonale, hypnotische, fraktale "Bleeding" von Delerium.
Die Wüstenei war auf einer Großleinwand zu sehen; sie lief als Film am Betrachter vorbei, als wenn er dort selbst umherging. In der Mitte der Bühne lag der kreidebleiche Ysos auf dem Steinsockel, der in die Einsamkeit der Geröllwüste versetzt war. Ein Gitterkäfig verhinderte, daß Kathara zu Ysos gelangen konnte. Dion näherte sich und zeigte Kathara einen Schlüssel - stolz und triumphierend, weil sie ihm den Schlüssel nicht abnehmen konnte. Sie versuchte ihm zu erklären, daß sowohl er als auch Ysos sterben mußten, wenn nicht innerhalb einer Frist wieder beide miteinander vereint waren. Dion wollte um keinen Preis den Käfig öffnen. Lieber wollte er sich aufgeben, als seine Seele zurückzubekommen. Nach Ablauf der Frist fiel Dion tot in sich zusammen. Kathara nahm ihm den Schlüssel aus der Hand, den er auch im Tod noch umklammerte. Sie wollte den Käfig aufschließen und mußte erkennen, daß der Schlüssel nicht paßte. Ysos wurde endgültig zu Stein.


Die Rolle der Kathara spielte Élène, die manchmal mit Eos auf verwilderten Ruinengeländen spazierenging. Eines Morgens besuchten Eos und Élène das halbverfallene Rasthaus abseits der Autobahn. Die ersten blaßroten Sonnenstrahlen wagten sich durch den Nebel. Es herrschte strenger Frost. Verdorrte Blätter der Stockrosen waren auf die Betonplatten gesunken. Das Gelände lag in tiefer Stille. Von der Autobahn drang ein fernes Rauschen herüber.
"Es ist eine Stimmung wie auf einem Friedhof", meinte Eos. "Vielleicht hat das auch mit dem Gedicht im Eingangsflur zu tun."
"Das Gedicht?" fragte Élène und betrachtete die gezackte Schrift an der Wand. "Ich kann dir sagen, wer das geschrieben hat."
"Was?" staunte Eos. "Wer war das denn?"
"Einer aus meiner Nachbarschaft. Dennis hieß er."
"Hieß er?"
"Im letzten Sommer hat er sich umgebracht."







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