Wer einmal liebt, dem glaubt man nicht

April 2002.
Das Treppenhaus besteht aus frisch gegossenem Beton. An der Decke brennt eine einsame Leuchtröhre. In dem kalten Licht stehen sich zwei Menschen gegenüber. Was haben sie hier zu besprechen?


"Loos!" rief Katharins Schwester Constri.
Es war schon das zehnte Mal, daß Constris Stimme eintönig durch die Weite der Fabrikhalle klang. Constri stand auf einer Stahltreppe in fünfzehn Metern Höhe hinter der Kamera. Das Dach der Halle erhob sich noch weit über ihr. An diesem Drehtag wurde mit vier Kameras gefilmt; eine Kamera war auf einen der acht Sockel gestellt worden. Der schwarze Kasten mit den geheimnisvollen Zeichen war fort.
"Endless loop" hieß der Film, an dem Constri und Katharin arbeiteten. Es war ein Film über die Ewigkeit. Der Abschnitt "Ausgang zum Himmel" handelte vom Jenseits. Teile aus dem "War Requiem" von Benjamin Britten sollten ihn unterlegen, durchbrochen von atonalen Strukturen.




In einem Sonnenstrahl, der durch eines der hohen Fenster auf den Estrich fiel, drehte sich Katharin in einem hellgrauen durchsichtigen Kleid aus hauchfeinem, fließendem Material. Für das kühle Wetter war dieses flatternde Nichts viel zu leicht. Sie trug nur graues Dessous darunter.




"Hast du's jetzt endlich?" rief sie zu Constri hinauf.
"War schon gut, aber zur Sicherheit - nochmaal!"
Aus der Ferne war Constris Stimme kaum zu verstehen.
"Loos!"




In den folgenden Einstellungen stieg Katharin die stählerne Treppe nach oben bis zur Galerie unterm Dach, wo das umlaufende Gitter begann, das in schwindelnder Höhe an einer Fensterreihe entlangführte. Das Gitter hing schon etwas schief und war nur durch ein dünnes Stahlgeländer gesichert. Den Abgrund unter sich, ging Katharin auf dem Gitter zu einem der Fenster. Sie öffnete es weit.
"Ich hoffe, das ist was geworden", sagte sie danach zu Constri. "Nochmal laufe ich da nicht lang."

-   -   -


"Die Aufnahmen sind einfach sagenhaft", erzählte Katharin. "Wir hatten keine teure Technik, und doch ... Es ist genau das, was ich mir erträumt habe, und noch schöner. Aus einem Traum ist Wirklichkeit geworden. Etwas, das ich nur vor meinem inneren Auge gesehen habe, hat sich materialisiert."
"In einer Fabrikhalle", bemerkte Tain trocken.
"Staale hat mir angeboten, in der Halle zu drehen, als ich von Constris Projekten erzählt habe."
"In der Halle", sagte Tain in Gedanken. "Das hat er dir erlaubt."
"Das hat er. Die Halle ist wie eine Kathedrale, so hoch und weit, so schlicht und streng. Das ist die richtige Kulisse für einen Film über das Jenseits."
"Dreht ihr nur über das Jenseits?"
"Nein, auch andere Sachen, abstrakte Clips. Mein Kumpel Telgart hat auch eine Fabrikhalle, ein Stahlschneidewerk. Als wir da gedreht haben, hat er mich in Packpapier eingewickelt und ins Bild geschleppt und ausgewickelt und 'angeschaltet'. Das ist wie in 'Hoffmanns Erzählungen', eine Puppe, die tanzt."
"Wessen Idee war das?"
"Die von Telgart."
"Gar nicht so weit weg."
"Wir haben uns auch auf Stahlbleche gestellt, die hingen an Haken, und Telgart hatte die Fernbedienung in der Hand, und wir schwebten unter der Decke an einer Schiene durch die Halle. Und Constri hat sich mit einer Kamera nach oben ziehen lassen und von da heruntergefilmt ..."
"Wie ist das denn so mit Telgart?" wollte Tain wissen.
"Ach - das hatte ich vergessen", entschuldigte sich Katharin. "Auch mit Telgart habe ich nichts, nein, auch nicht mit ihm. Kein Grund zur Eifersucht."
"Woher weiß ich das?"
"Ich komme mir wirklich vor wie Desdemona", seufzte Katharin. "Ich habe mit niemandem etwas, es gibt keinen Grund zur Eifersucht."
"Ich bin nicht eifersüchtig."
"Du kannst mir nichts vormachen."
"Sieht er gut aus, dein ... Telgart?"
"Er sieht sehr gut aus. Es gibt aber viele, die sehr gut aussehen, und das heißt noch lange nicht, daß ich mit einem von ihnen etwas haben will. Es gibt nur einen, mit dem ich etwas haben will, und das bist du."
"Wer weiß."
"Tain, also wirklich."
"Euer Drehort, wo wir damals waren - dieses Loft mit dem riesigen Fenster - wollen wir da wieder hin?"
"Sicher, von mir aus gleich."
"Das paßt dir?"
"Du hast zu einer günstigen Zeit angerufen, an einem Samstagmorgen um halb fünf, da bin ich zu Hause und muß nicht zur Arbeit. Wir können also hinfahren."
Für die Unternehmung zog Katharin etwas Warmes an, einen langen dunkelgrauen Trägerrock und einen engen grauen Wollpullover mit Armstulpen. Um den Hals band sie einen Nylonfaden mit einem feinen Silberkreuz.
"Sogar um diese Uhrzeit siehst du schick aus", bemerkte Tain, als er zu ihr ins Auto stieg. "Irgendwie kannst du doch nicht ganz echt sein."

-   -   -


Tain betrachtete die Anlage, die an der hinteren Wand des weiß gekalkten Raumes aufgebaut war.
"Hast du nur so wenig CD's hier?" fragte er. "Ist da nichts dabei außer Industriekrach?"
"Das ist nicht nur Krach. Nimm das Stück 'The End' von Stigma, das ist ruhig und hat sogar Melodiefragmente. Das ist ein Teppich, ein Stück wie schwarzer Samt."
"Hast du keinen Fernseher hier?"
"Zur Zeit nicht. Wir haben den Monitor letztes Mal mitgenommen."
"Schade."
"Hast du zu Hause immer den Fernseher laufen?"
"Immer."
"Das ist ja fürchterlich."
"Fernseher ist wichtig! Fernseher muß sein."
Tain schien es heute nicht gut zu gehen. Er wirkte reizbar und schien Nähe noch schlechter ertragen zu können als sonst. Katharin schaute ihm zu, wie er die Regler verstellte und zwischen CD und Radio hin- und herschaltete.
Lange toupierte Strähnen hingen ihm ins Gesicht. Dieses Mal trug er ein Hemd aus schwerem grauem Leinen, wie meistens mit Stehkragen. Um den Hals hing ein silberner Ankh, das ägyptische Zeichen für ewiges Leben.
"Er macht sich so niedlich zurecht, und ich sehe das und kann ihn nicht erreichen", seufzte Katharin in Gedanken.
Tain ging nach vorn zu der Glaswand. Er zündete sich eine Zigarette an und blickte nach draußen.
"Das wäre so schön, wenn wir einfach nur eine ganz normale Beziehung hätten", sagte er in einem sehnsuchtsvollen Tonfall.
"Beziehungen sind immer nur so wie die Menschen", meinte Katharin. "Und wir fallen beide aus dem Rahmen."
"Ich falle nicht aus dem Rahmen", widersprach Tain. "Du fällst aus dem Rahmen."
"Du kannst etwas für mich tun, und ich kann etwas für dich tun."
"Was tust du denn für mich? Sag' mir - was tust du für mich?"
"Ich gebe dir etwas ..."
"Was gibst du mir?"
"Etwas, das du mir nicht glaubst."
"Ja, was?"
"Ewige Liebe und Treue."
"Also, manchmal frage ich mich wirklich, in was für einer Welt lebst du?"
"Es hört sich wirklich nicht so an, als wenn man das einfach so glauben kann", lenkte Katharin ein. "Ich verstehe deine Sichtweise. Es gibt keinen Beweis für Liebe. Und sie ist doch vorhanden, wie das Fenster und das Sofa."
"Wenn ich das nur glauben könnte ... wenn ich dir nur glauben könnte ..."
Tain stand aufrecht vor Katharin, mit erhobenem Kinn, und schleuderte sich die Ponysträhnen aus der Stirn.
"Was strahlst du so?" fragte er unruhig. "Nun los - nun sag' - weshalb strahlst du so?"
"Weil du mich so lieb anguckst."
"Ich gucke dich nicht lieb an."
"Und du siehst so niedlich aus, das gibt es gar nicht, das kann man gar nicht begreifen. Es gibt keinen Traum, der so schön ist, wie die Wirklichkeit sein kann."
"Dann wach' mal auf aus deinem Traum."
"Du stehst wirklich vor mir, du bist wirklich da, dich gibt es. So etwas kann kein Mensch erfinden, nicht einmal im Traum. Niemand kann sich dich ausdenken. Dich muß es geben, damit man dich sieht. Dich muß man kennengelernt haben, ehe man glaubt, daß es dich gibt."
"Du hast mich nie kennengelernt."
"Oh doch, das habe ich."
"Du weißt gar nicht, wer ich bin. Du kannst mich niemals kennen."
"Weshalb bist du dir da so sicher?"
"Du siehst hier eine Hülle", behauptete Tain, "eine Art Hologramm. Das Innere ist irgendwo, weit weg. Und du wirst dieses Innere nie kennenlernen. Niemand wird mich jemals wirklich kennen."
"Weshalb ist das so wichtig, daß dich niemand kennt?"
"Ich will einen Zustand vollkommender Überlegenheit erreichen. Niemand soll an mich herankommen."
"Niemand soll dir zu nahe kommen."
"Niemand soll mich schlagen können", verdeutlichte Tain. "Ich will jeden besiegen."
"Niemand soll dich verletzen oder demütigen."
"Was heißt denn das jetzt wieder?"
"Hat dich mal jemand verletzt oder gedemütigt?"
"Siehst du, das ist es", redete Tain sich in Hitze. "Das, genau das finde ich so unerträglich, dieses Aufgesetzte, dieses Künstliche."
"Weshalb ist das künstlich?"
"Weil du gar nicht weißt, wovon du redest. Du hast keine Ahnung. Du fragst andauernd Sachen und hast keine Ahnung."
"Deshalb frage ich ja."
"Und weshalb läßt du es nicht einfach sein?"
"Es ist wichtig."
"Was ist wichtig?"
"Du bist wichtig."
"Du meinst nicht mich. Du meinst nur das Bild, das du dir von mir gemacht hast."
"Ich meine dich, Tain. Genau dich."
"Und ... und übermorgen findest du dann jemand anders gut, und dann meinst du den, genau den."
"Ich meine dich. Und das wird sich nicht ändern."
"Worauf sollte sich unsere Beziehung denn aufbauen?"
"Da ist so viel."
"Da ist nichts", war Tain überzeugt. "Es wäre eine Enttäuschung für uns beide."
"Weshalb bist du dir da so sicher?"
"Weil da einfach nichts ist. In mir ist nichts, das ich dir geben könnte. Ich empfinde nichts, auch für dich nicht. Da ist nichts, gar nichts."
"Das stimmt nicht, daß da nichts ist."
"Du hast keine Ahnung ... Du hast keine Ahnung."
"Ich sehe das, Tain. Ich sehe, was du empfindest. Du kannst das nicht verstecken. Und du bist hier, in diesem Raum. Du bist kein Hologramm."
"Und ich gehe gleich 'raus ... und übergebe mich und ..."
Katharin strich Tain mit der flachen Hand über die Wange. Er riß ihren Arm von sich und schleuderte sie fort, so daß sie in eine Ecke fiel.
"Du faßt mich nicht an", rief er, "und dieses Mal bin ich stärker."
Katharin stand auf und lehnte sich an ein Sims. Sie betrachtete Tain ruhig.
"Ich möchte mich entschuldigen", sagte er höflich. "Ich habe mich danebenbenommen."
Katharin ging auf ihn zu und griff nach seinen Schultern.
"Halt", rief er und umschloß ihre Handgelenke. "Oder willst du wieder in irgendwelche Ecken fliegen?"
"Ich muß das tun. Ich muß dich anfassen."
"Hast du dir wehgetan?"
"Nein."
"Weil, wenn ich dich in eine Ecke werfe, dann ..."
"Ich habe mir nichts getan. Aber ich muß dich anfassen."
"Was willst du mit mir?"
"Das weißt du doch."
"Ich weiß gar nichts."
"Ich liebe dich."
"Wenn jemand lügt, muß ich mich übergeben, und ich muß mich gleich übergeben", sagte Tain aufgebracht. "Das ist doch widerlich. Dazu fällt mir nichts mehr ein. Das kann ich nicht in Worte fassen. Dafür gibt es einfach keine Worte."
"Es gibt einen Raum ohne Worte, das stimmt", nickte Katharin. "Auch das Unfaßbare ist wahr. Wir bilden uns das nicht ein."
"Du lebst doch nur in deiner Einbildung."
Tain setzte sich auf das graue Sofa. Katharin wollte sich auf Tain setzen und wurde von ihm daran gehindert.
"Die Zeit, die wir miteinander verbringen, ist so kurz", wandte sie ein. "Jeder Augenblick, in dem ich dir nahe sein kann, ist so wertvoll, das ich nichts verschenken möchte."
"Ach - gilt das auch, wenn ich dich zurückweise und verleugne?"
"Das ist unabhängig davon."
"Ach - du findest das wertvoll, wenn ich dich verletze?"
"Nein. Ich finde es wertvoll, wenn ich die Gelegenheit habe, mit dir darüber zu sprechen und auf diese Weise auch etwas dagegen zu unternehmen, daß du mich verleugnest. Wenn ich mit dir reden kann, kann ich auch ein Stück weit unsere Beziehung beeinflussen und etwas tun dafür, daß sie sich weiterentwickelt."
"Wieso eigentlich ich? Du kannst doch etwas Besseres haben."
"Tain, ich weiß, daß du mir nicht glaubst. Ich hoffe, daß du mir eines Tages glaubst."
"Geh' doch und hol' dir endlich ... etwas Richtiges."
"Vielleicht kannst du mir einfach nicht glauben. Vielleicht gibt es etwas in dir, das das verhindert."
"Was du so erzählst, kann man wirklich nicht glauben", sagte Tain nachdenklich und betrachtete Katharin. "Du bist echt ... nicht zu fassen. Dich gibt's gar nicht."
Er zog einen Standaschenbecher herbei.
"Das ist doch bestimmt schon die zweite Schachtel heute", sagte Katharin. "Du wirkst so hektisch, so im Inneren unruhig. Du willst dich immer mit aller Macht beruhigen. Du rauchst gegen etwas an, durch das du dich bedroht fühlst. Es geht dir nicht gut, es geht dir nie gut, aber du hältst dich. Der Steinturm, den du um dich herumgebaut hast, hält dich."
"Mir geht's gut! Mir geht's so gut ..."
"Das stimmt nicht. Du übertünchst das, was in dir vorgeht."
"Du glaubst, etwas zu sehen, das nicht da ist. Du machst dir ein Bild von mir, wie du mich gerne hättest, aber mit mir hat dieses Bild nichts zu tun."
"Du kannst die Gefühle nicht ertragen, die zwischen uns entstehen. Sie machen dir Angst."
"Zwischen uns sind keine Gefühle. Keine echten."
"Du glaubst, daß du es nicht wert bist, geliebt zu werden", deutete Katharin. "Deshalb macht es dich so unsicher, daß ich dich liebe. Und das kannst du nicht ertragen, diese Unsicherheit."
"Ich bin wertvoll. Und ich fühle mich durch dich nicht verunsichert. Du kannst mir nichts anhaben. Du wirst mich nie verändern können."
"Es geht mir nicht darum, dich zu verändern. Dein Selbstwertgefühl ist im Keller, daran soll sich etwas ändern."
"Ich scheine immer Leute anzuziehen, die mich vor irgendetwas retten wollen", sagte Tain ungehalten. "Es gibt aber nichts, wovor ich gerettet werden muß. Vielmehr sind die Leute nicht zu retten, die sich immer einbilden, ich würde ihre Hilfe brauchen."
"Und von wem läßt du dir helfen?"
"Ich helfe mir immer nur selbst."
"Kannst du dir immer selbst helfen?"
"Ja, sicher."
"Und wenn du es doch einmal nicht kannst, wer darf dir dann helfen?"
"Du ganz bestimmt nicht."
"Was macht mich dafür so besonders ungeeignet?"
"Erstmal, daß du immer nur dich selber siehst - immer nur das, was du willst, nie das, was für mich wichtig ist. Und dann ... ganz allgemein ... Frauen ..."
"Was ist mit den Frauen?"
"Frauen sind doch sowieso keine ... richtigen Menschen."
"Was sind sie denn?"
"Frauen. Und auf die ist kein Verlaß, die sind außerstande, irgendwem Halt zu geben."
"Hat dir deine Mutter Halt gegeben?"
"Was weiß ich?" sagte Tain wegwerfend. "An sowas erinnere ich mich doch nicht. Die ist viel zu lange tot, das habe ich längst vergessen."
"Das hast du vergessen?"
"Mensch ... da war ich vielleicht fünfzehn ... das vergißt man doch."
"Wer hat dir denn Halt gegeben?"
"Ich mir selber. Das ist das Einzige, was ich nicht vergesse."
"An was erinnerst du dich denn noch, im Hinblick auf deine Mutter?"
"Das Erste, was mir einfällt, ist zugleich das Letzte, was ich von ihr gesehen habe", erzählte Tain. "Es war Spätherbst, und es lag schon Schnee. Innerhalb von wenigen Tagen war es sehr kalt geworden. Es wurde schon nachmittags dunkel. Theodore, mein Vater, saß am Tisch vor dem Wohnzimmerfenster und guckte nach draußen in die Dämmerung. Ich bin im Flur stehen geblieben, weil ich das Gefühl hatte, daß er nicht gestört werden wollte. Da hat ihn meine Mutter Ida auch in einem schlechten Augenblick erwischt. Sie wollte mit Theodore eigentlich noch weggehen, und wie meistens wollte er auf einmal doch nicht mit. Ich fand es albern, daß sie sich deswegen gestritten haben. Sonst ist Ida auch alleine weggegangen, wenn Theodore nicht mitwollte. Aber dieses Mal hat sie deswegen einen richtigen Aufstand gemacht. Das kann auch mit Theodores Versetzung zu tun gehabt haben. Theodore wollte immer versetzt werden, weil das einen Fortschritt in seiner Karriere bedeutete. Und Theodore hatte das eigentlich mit Ida gemeinsam feiern wollen, und auf einmal wollte er das doch nicht.
Ich habe durch das Fenster in der Zimmertür gesehen, wie Ida auf die Terrasse gelaufen ist. Theodore ist ihr nicht gefolgt. Er blieb am Tisch sitzen und zündete sich eine Zigarette an. Er hat wohl gedacht, sie kommt schon von selbst zurück. Aber sie kam nicht mehr zurück. Stattdessen kam ein Anruf von Thara, Idas Halbbruder. Er hat sie durch Zufall gefunden."
"Und du bist ihr auch nicht gefolgt."
"Nein, ich hatte das Gefühl, daß die das unter sich ausmachen sollen und daß ich in denen ihren Streits nichts zu suchen habe. Die konnten das gar nicht leiden, wenn ich mal dazwischengegangen bin."
"Und Ida war dann tot."
"Ja, war sie. Sie hat in der Kälte die Besinnung verloren, und dann kann man schnell erfrieren. Da war nichts mehr zu machen."
"Wo hat Thara sie gefunden?"
"Das war auf einem Grundstück am Hang, das unserer Familie gehörte. Es gibt da einen alten Geräteschuppen aus Holz, wo man drinnen auch sitzen kann, mit Fenstern und Fensterläden und einem richtigen Dachboden. Vor diesem Geräteschuppen auf den Betonplatten hat er sie gefunden. Wenn man sich das so vorstellt ... daß sie sich da noch hingeschleppt hat und dann nicht mehr 'reinkonnte, weil sie den Schlüssel nicht mitgenommen hat ... sonst hätte sie vielleicht noch gelebt ..."
"Und was war dann?"
"Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte. Immer sind welche angekommen und haben mir ihr Beileid ausgesprochen, und ich wußte einfach nicht, was ich sagen sollte. Ich war froh, als keiner mehr so angekommen ist."
"Und Theodore?"
"Der ist doch dann versetzt worden. Ich wollte nicht mit und bin in dem Haus geblieben, alleine. Als ich mit der Schule fertig war, sind Thara und Leen gekommen und wollten mich mitnehmen, und das hörte sich gut an, weil das um den Informatikbereich ging und ich weit nach vorne kommen konnte, das hat mir gefallen, und ich war einverstanden."




Tain erhob sich und zog seinen Mantel über.
"Wir müssen jetzt wirklich los", sagte er geschäftig. "Fährst du mich nach Hause?"
"Es bleibt mir nichts anderes übrig ... wenn ich dir auch nicht glaube, daß du es so eilig hast."

-   -   -


Auf einem Treppenabsatz im Parkhaus blieb Tain stehen.
"Irgendwo ist es doch", sagte er und suchte in seinen Taschen herum.
Das Treppenhaus war eben erst fertiggestellt worden und ganz aus reinem Beton gebaut. Ein grau gestrichenes Stahlgeländer war in die Wand geschraubt. Hoch oben schien weißes Tageslicht durch ein Fensterchen. An der Decke brannte eine etwas verloren wirkende Röhrenlampe.
"Endlich gefunden", freute sich Tain und hob sein silbernes Feuerzeug in die Höhe. "Guck', wie ich mir selbst schade; du mußt dabei zusehen und kannst nichts dagegen machen."
Er zündete sich eine weitere Zigarette an und blies den Rauch in die Luft.




"Ich sehe deinen Tod vor mir", sagte Katharin. "Ich will nicht, daß du dich in Gefahr bringst."
"Du kannst es sowieso nicht verhindern", erwiderte Tain lächelnd. "Würde sich eigentlich an deiner Sorge um mich etwas ändern, wenn du wüßtest, daß ich verlobt bin und vorhabe, zu heiraten?"
"Ich würde mir noch mehr Sorgen um dich machen."
"Ich glaube, meiner Verlobten würde es gar nicht gefallen, daß wir hier so miteinander stehen."
"Welche von den vielen ist denn eigentlich deine Verlobte?"
"Meine Verlobte ist hier gar nicht. Die ist weit weg."
"Und weiß die, daß du sie dauernd betrügst?"
"'Betrügst' ... was ist das denn für ein Wort?"
"Das ist genau das, was du machst."
"Du hast doch keine Ahnung."
"Weiß deine Verlobte, was du hier mit den Frauen anstellst?"
"Die fragt jedenfalls nicht solche Sachen wie du", sagte Tain und lehnte sich mit einem schwärmerischen Ausdruck im Gesicht an die Betonmauer. "Meine Verlobte ist eine Frau ..."
"Und ich nicht."
"Du bist keine Frau; du siehst vielleicht so aus, aber du bist keine."
"Was bin ich denn?"
"Irgendetwas Maschinelles, irgendein Alien. Sowas wie dich kann man gar nicht lieben, wenn man ein Mensch ist."
"Man kann mich also nur lieben, wenn man kein Mensch ist."
"Man darf jedenfalls nichts Menschliches an sich haben."
"Kennst du sowen?"
"Der Roboter, den wir in SalaRien hatten, das war so ein ..."
"Und den konntest du nicht leiden."
"Ich konnte ihn auf den Tod nicht ausstehen."
"Und mich kannst du auch nicht ausstehen."
"So krass will ich das nicht sagen ... ich habe nichts gegen dich, wirklich nicht."
"Du willst aber trotzdem nicht, daß ich dich anfasse."
"Du bist gefühlskalt und nicht vertrauenswürdig, deshalb will ich das nicht. Die Frau, die ich liebe, die darf mich anfassen. Ich liebe meine Verlobte Berenice. Sie schützt mich."
"Wovor?"
"Vor dir ... und vor mir."
"Vor dir? Weshalb vor dir?"
"Sie lenkt mich von mir ab", erklärte Tain. "Sie fragt nicht nach mir und will nichts von mir wissen. Sie sorgt dafür, daß ich mir nie zu nahe komme."
"Weshalb ist das so wichtig, daß du dir nie zu nahe kommst?"
"Es wäre nicht gut."
"Dann hast du ja nicht nur eine Mauer gegen mich, sondern auch gegen dich selbst."
"Das ist manchmal besser, wenn man einen Teil von sich abtrennt."
"Weshalb ist das so wichtig?"
"Das ist ein Code, den weiß niemand außer mir. Das erfährt keiner."
"Es gibt also einen Code, mit dem man an den weggeschlossenen Teil von dir herankommt."
"Du wirst nicht an mich herankommen. Niemand wird jemals an mich herankommen."
"Ich werde mich genau um das kümmern, was du weggeschlossen hast."
"Das ist es ja - du fragst immer nur das, was ich nicht erzählen will."
"Richtig."
"So kommst du nie weiter."
"Ich werde dich immer anfassen, wenn du in meiner Nähe bist", versprach Katharin und legte ihre Arme um Tains Schultern. "Doch ehe du dich nicht von deiner Verlobten und sämtlichen anderen Freundinnen und Verlobten getrennt hast, wirst du nicht mehr mit mir sprechen können."
Tain wich zurück neben einen grau lackierten Heizkörper.
"Warum solltest du nicht mit mir sprechen können?" fragte er.
"Ganz einfach so", begann sie und holte tief Atem. "Wenn ich mit dir rede, und du hast eine Freundin, ist das, wie wenn ich nur irgendeine Bekannte von dir bin. Das will ich aber nicht sein. Und wenn ich versuche, dich ins Bett zu kriegen, und du hast eine Freundin, ist das, wie wenn ich eine Haremsdame von dir bin. Und das will ich auch nicht sein. Ich liebe dich und werde deshalb niemals hinnehmen, daß du etwas mit einer anderen hast."
"Das verstehe ich nicht."
"Ich will sagen, daß ich keine Bekannte von dir bin und keine Haremsdame und daß du deshalb keinen Kontakt zu mir haben darfst, wenn du gebunden bist."
"Aber man kann doch wenigstens miteinander reden."
"Kann nicht, kann nicht", wehrte Katharin ab. "Nur wenn du keine Beziehung hast, kann ich mit dir reden, weil da keine ist, die du mir vorziehst."
"Und was soll ich deiner Ansicht nach machen?"
"Reinen Tisch", verlangte Katharin. "Dich entscheiden."
"Ich habe mich entschieden, für meine Verlobte Berenice."
"Warum betrügst du sie dann?"
"Das war nichts, aber das verstehst du doch nicht, selbst wenn ich es dir erkläre."
"Ich möchte, daß du wenigstens versuchst, es mir zu erklären."
"Das hat keinen Sinn. Das verstehst du nicht."
"So kannst du dich gut herausreden."
"Du wirst nie mit mir zusammenkommen", sagte Tain betont sanft. "Vielleicht werde ich schon bald meine Verlobte heiraten und Kinder mit ihr haben. Vielleicht werde ich nach Saroud zurückkehren und mit Berenice dort leben. Wie ist das für dich?"
"Was soll ich dazu sagen? Du mußt selbst entscheiden, ob du dich auf mich einläßt oder nicht. Damit habe ich nichts zu tun."
"Ich habe mich entschieden, mich nicht auf dich einzulassen. Wie ist das für dich?"
"Ich habe getan, was ich konnte, und der Rest ist deine Sache."
"Verletzt es dich, daß ich mich nicht für dich entschieden habe?"
"Du kannst dir wahrscheinlich nicht vorstellen, daß du mich damit triffst. Du hältst mich ja für ein gefühlloses Alien."
"Ich glaube dir schon, daß du ... mich liebst ... nur ist deine ... sogenannte ... 'Liebe' ... nicht das, was ich darunter verstehe", sagte Tain von oben herab. "Wir kommen eben nie auf einen Nenner."
"Sicher, wenn du nicht willst, daß wir auf einen Nenner kommen, wird das auch nichts."
"Und was wirst du jetzt tun?"
"Wenn du nicht mit mir leben willst, lebe ich halt ohne dich. Aber mit einem anderen auch nicht."
"Warum denn das nicht? Willst du etwa für immer alleine bleiben?"
"Ich bleibe lieber allein, als mich zu verstellen und mit einem zusammen zu sein, den ich nicht liebe. Ich bin ehrlich zu mir und zu anderen. Ich bin nicht bereit, mit einer Lüge zu leben. Ich bin nicht bereit, mich zu verraten und zu verkaufen."
"Willst du denn nicht mal Kinder haben?"
"Sicher, auf jeden Fall - mit dir. Und nur mit dir."
"Ich liebe dich aber nicht."
"Dann kannst du doch gehen und brauchst dich nicht mehr um mich zu kümmern."
"Du tust mir eben ... irgendwie leid, und ich will deshalb wissen, was du jetzt machen willst."
"Ich will außer dir niemanden, und ich habe es nicht nötig, mich an irgendwen zu hängen, nur damit ich nicht allein dastehe", sagte Katharin mit unterdrückter Wut in der Stimme. "Und ich habe es auch nicht nötig, dir hinterherzulaufen und um deine Gunst zu betteln. Das tun schon deine Verehrerinnen, und ich denke nicht daran, mit denen wettzueifern. Du kannst mich allein lassen, aber an meiner Haltung und meinen Ansichten kannst du damit nichts verändern. Auch an meiner Liebe zu dir kannst du nichts verändern. Geh' von mir aus, wohin du willst, wenn du mich nicht willst. Ich bin auf deine Gnade nicht angewiesen. Und vergiß' nicht - du kannst erst dann wieder mit mir reden, wenn du dich von allen Freundinnen und Verlobten getrennt hast."
Tain stand schweigend vor ihr. Katharin ging auf ihn zu und tastete nach seinem Arm. Als sie seine Manschette berührte, schien Tain aus einer Erstarrung zu erwachen und rannte die Treppen hinunter, als gelte es, einem Dämon zu entfliehen. Katharin sah ihm dabei zu und schüttelte lächelnd den Kopf.
"Wer hat gewonnen?" fragte sie sich. "Der, der flüchtet, oder der, vor dem er flüchtet? Eigentlich hat man doch gewonnen, wenn man bekommt, was man will. Tain hat sich vor mir in Sicherheit gebracht, und das war es, was er wollte."
Katharin fuhr die steilen Kehren zur Ausfahrt hinab.
"Tränen bringen nichts", dachte sie. "Sie helfen mir nicht, sie bringen mich nicht zu ihm, sie verändern nichts. Und selbst wenn er es wüßte, er kann mir doch nicht glauben. Es bewegt ihn nicht, es verändert nichts, weil er mir nicht glaubt."

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Nachts ging Katharin ins "Mute", in einem kurzen silbergrauen Tanzkleid aus durchsichtigem Organza, unter dem sie schimmerndes Dessous trug. Sie sah Tain auf der gegenüberliegenden Seite der Tanzfläche am Tresen stehen. Er blickte sie an und hob sein Glas, sie hob das ihre, und sie schütteten ihre Getränke hinunter. Mit einer triumphierenden Geste legte Tain den Arm um die Taille eines rotgekleideten Mädchens, das die rotvioletten Krepplocken schüttelte. Katharin hatte vor längerer Zeit von einem Bekannten im "Mute" gehört, daß dieses Mädchen Tessa hieß.
"Gegen mich hast du nicht gewonnen", schien Tain zu Katharin sagen zu wollen. "Ich mache immer noch, was ich will, und du kannst mich nicht daran hindern."
Langsam schlenderte er mit der Rotgekreppten hinaus.
"Können wir endlich fahren?" fragte Tessa ungeduldig, als Tain auf dem Parkplatz stehenblieb und sich umdrehte.
"Ich habe noch eine wichtige Besprechung mit Cay-Thyl", fiel ihm ein. "Das kann ich nicht verschieben. Der wartet auf mich."
"Mach' nicht so lange, ich gehe schon mal zum Auto", sagte Tessa unwillig.
Tain traf seinen Dealer Cay-Thyl in der Herrentoilette. Cay-Thyl hatte ein Pulver mitgebracht, das er zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Woraus das Pulver bestand, war ihm nicht verraten worden; es sollte eine Überraschung sein. Cay-Thyl mischte das Pulver mit Tabak und drehte eine Zigarette daraus.
"Katharin ist heute da", erzählte Tain.
"Und? Hast du mit ihr geredet?" erkundigte sich Cay-Thyl.
"Was soll ich mit der reden?" fragte Tain zurück. "Die will doch mit mir gar nicht reden."
"Und du willst aber."
"Nein, das ist vorbei. Ich weiß jetzt, daß sie genau das ist, was ich nicht will."
"Dafür redest du aber ganz schön oft von ihr", bemerkte Cay-Thyl.
"Sie hat mich immer ausgefragt, und das ist mir auf die Nerven gegangen", erklärte Tain eilig, als wollte er sich entschuldigen. "Es war wie ein Albtraum, den ich endlich langsam vergesse."
Tain beschloß, über Katharin nicht mehr zu sprechen - höchstens ganz selten, in einem Nebensatz. Und er hielt sich daran.
Je weniger er über Katharin sprach und je seltener er ihr begegnete, desto weniger Raum nahm sie auch in seinen Gedanken ein.
"Das wird mich von ihr befreien", dachte er.

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... WEITER ...

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