Wildwechsel

Dina stand auf einem Waldweg und schaute in eine Schneekugel, die sie dort gefunden hatte. Die durchsichtige Kuppel war zur Hälfte hellblau ausgemalt, so daß sich ein Himmel ergab. Vor dem Eisblau des Himmels konnte man vier Plastiktannen mit grünen Wipfeln sehen und davor, bis über die Fesseln im Schnee, ein Rehlein. Dina kehrte die Schneekugel um und hielt sie dann wieder aufrecht, so daß der Kunstschnee langsam durch das Wasser rieselte und sich auf den Tannen und dem Rücken des Rehleins niederließ.
"Es ist wie eine fremde Welt", dachte Dina. "Es ist, als würde diese Welt eine Geschichte erzählen, aber was für eine Geschichte? Was wäre, wenn ich selbst dort als Reh bei den Tannen stehen müßte, alleine und eingeschneit und immer gefangen in dieser Kugel?"
Die Sonne malte goldene Muster auf den mit graubraunen Kiefernnadeln bedeckten Weg. Dina lief mit der Schneekugel nach Hause.

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Im Wald gab es einen See, wo im Sommer viele Seerosen blühten.
"Sie sind schön und gefährlich", erinnerte sich Rikka an eine Warnung, die sie schon als Kind gehört hatte, bei ihrem ersten Ausflug hierher. "Gerate nicht zwischen ihre Stengel; dann kommst du nicht wieder heraus."








"Wir sind Totenblumen", sagten die Seerosen. "Sollen wir dich verwünschen?"
Rikka schüttelte den Kopf und wollte davoneilen.
"Gib uns das Rehlein an deinem Schlüsselbund", rief es hinter ihr, "dann werden wir dir einen Wunsch erfüllen."
Sie drehte sich kurz um, ging dann weiter und hörte noch:
"Der, den du verlangst, wird auch nach dir verlangen. Heiratet er dennoch eine andere, wird dich ein Fluch treffen."
Als Rikka auf dem Parkplatz nach ihrem Schlüsselbund griff, der an einer Kette an ihrem Gürtel hing, war ihr Schlüsselanhänger fort, ein Rehlein aus Plastik.

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Hauro Wildners Haus war ein flaches Gebäude, dessen Wände mit schwarz gestrichenen Holzbrettern verschalt waren. Die großzügige Terrasse war mit braungrauen Waschbetonplatten gepflastert. Auch die Windschutzmauer, vor der ein Terrassentisch mit Eckbank eingebaut war, bestand aus Waschbeton. Das Grundstück war nicht eingefaßt und ging in den Nadelwald über. Man blickte in ein gleichförmiges Braungrau aus verdorrten Zweigen und Kiefern- und Tannennadeln auf dem feinen, sandigen Waldboden.
Drei weißgekleidete junge Frauen mit aufgesteckten Haaren saßen an dem Terrassentisch aus schwerem Holz. In der Mitte der Terrasse, über die ein leichter Wind die Kiefernnadeln fegte, stand Hauro mit Darienne. Sie trug weiße Bänder im Haar und hielt Hauro umschlungen.
"Dir gehöre ich jetzt für immer", sagte sie, "und du gehörst für immer mir."
Er sah die Ergebenheit in ihren Augen und fühlte sich beruhigt durch den Gedanken, daß sie ihn niemals durchschauen würde.
"Die äußere Erscheinung ist nicht schlecht", ging ihm durch den Sinn, "und sie wird mir dienen, weil sie glaubt, durch mich an Bedeutung zu gewinnen."
Rikka stand als ein Reh zwischen den Kiefernstämmen im Unterholz und schaute mit großen Tieraugen zu. Eines erinnerte noch an ihre menschliche Gestalt; das war ihr Schlüsselband, geflochten aus feinem Bast, welches jetzt um ihren Hals lag.

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Zehn Jahre später - und das war wie ein Zauber, denn ein Reh wird sonst nicht so alt - kam Rikka wieder an jenen Waldsee, den sie doch immer hatte meiden wollen. Sie war im Gehölz auf falsche Wege gekommen, und mit einem Male schwammen da all die weißen Blüten vor ihr, sonnendurchschienen, umgeben von schweren, flach auf dem Wasser liegenden Blättern. Die Stengel ragten hinab in die trüben, schwarzgrünen Tiefen des Sees.








"Einmal noch soll er sich an dich erinnern können", sprach es aus den Blütenkelchen, "wo er dich doch sonst längst vergessen hat. Es kann deine Erlösung sein ... wird er seiner Erinnerung aber nicht folgen und nach dir suchen, so wird dich abermals ein Bann treffen. Geh', deine Rettung zu finden ... du mußt uns nur dein Halsband geben!"
Rikka wollte etwas entgegnen, doch sie hatte ja ihre menschliche Stimme nicht mehr. Also floh sie, viel schneller, als sie es in ihrer Menschengestalt vemocht hatte. Sie meinte die Verwünschungen zu fühlen, die die Seerosen ihr nachschickten. Im Kiefernwald, neben einem Futterplatz, hielt sie inne und holte Atem. Sie fühlte, daß ihr Halsband fort war.

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Als Hauro in seinen Schreibtischschubladen nach Unterlagen für seine Steuererklärung suchte, bekam er ein Foto in die Hand, daß wohl schon seit zehn Jahren dort lag. Es zeigte Rikka mit Zöpfchen aus künstlichen Korkenzieherlocken, die ihr Gesicht einrahmten. Sie hatten die Farbe ihrer Haare, rehbraun. Rikka trug ein schmales graues Kleid mit Schlitz an der Seite und Ärmlingen, die bis über die Ellenbogen reichten. Sie stand in einer Kunsthalle vor einer Skulptur, die Hauro damals für eine große Ausstellung angefertigt hatte. Es handelte sich um eine Art Gummitwist. Rechts und links standen je zwei stählerne Pfosten, und um sie alle lief ein straffes silbernes Gummi. Rikka wollte daran turnen, hatte es aber nicht versucht, weil ihr Kleid zu eng war.
"Ihr habe ich immer Sachen erzählt, die ich eigentlich niemals erzählen wollte", dachte Hauro, während er Rikkas Bild anschaute.
Seit er sie aus den Augen verloren hatte, war es nie mehr geschehen, daß jemand so viel nach ihm fragte und so vieles über ihn zu wissen begehrte.
"Und das soll auch so bleiben", beschloß Hauro. "Es ist für niemanden wichtig, etwas über mich zu wissen, nicht einmal für meine Frau oder meine Tochter. Ich will selber nicht zu viel über mich wissen, und Rikka hat mich immer in die Gefahr gebracht, zu nah an mich heranzukommen. Und wenn sie mich einmal so weit hatte, konnte ich mich nicht mehr wehren. Bevor sie mich endgültig überwältigt hat, habe ich es gerade noch geschafft, sie fortzuschicken. Und dann habe ich Darienne getroffen ... sie hat ihre Hände wie Blütenblätter auf mich gelegt und mich getrennt von all diesen Erinnerungen."
Hauro zündete Rikkas Bild mit seinem Feuerzeug an und ließ es im Aschenbecher verbrennen. Er öffnete das Fenster, damit sich der Rauch verzog.
Hauro war immer noch sicher, richtig gewählt zu haben. Er fühlte sich durch Darienne nicht enttäuscht.
"Sie ist berechenbar", dachte er. "Die Beziehung bleibt immer an der Oberfläche, wie die Blüten von Seerosen. Darienne geht es vor allem um die Bedeutung, die ich für Menschen habe, die mich bewundern, aber nicht persönlich kennen. Sie kann sich mit mir zeigen, ich stelle etwas dar, ich bin 'wer'. Daran ändert sich auch nichts durch ihre Erkenntnis, daß ich ebenso fehlerhaft bin wie andere Menschen auch."
Im Wohnzimmer saß Darienne mit ihren Freundinnen beim Kaffee. Sie hatten ihre Haare mit goldfarbenen Klemmen und feinen weißen Perlen verziert und trugen hauchzarte weiße Kleider. Wenn Hauro diese Frauen miteinander sah, wurde ihm jedesmal etwas gespenstig zumute. Ihr Geplauder klang mehr wie ein leises, flaches Plätschern. Wenn er ihnen lauschte, bekam er nie heraus, worum es ging, so sehr er sich auch anstrengte, sie zu verstehen. Dieses Mal verstand er einen einzigen Satz, und er konnte sich auch keinen Reim darauf machen.
"Wir blühen hier und nicht mehr draußen in der Tiefe des Waldes", sagte Darienne. "So kommen wir doch viel mehr zur Geltung."
Durchs Fenster sah Hauro seine achtjährige Tochter Dina über den Waldweg auf das Haus zulaufen. Er ging in sein Büro zurück und öffnete ihr die Terrassentür.
"... was ich auf dem Weg gefunden habe!" rief Dina und zeigte ihm eine Schneekugel.
Hauro nahm sie in die Hände und sah ein Plastikrehlein im Winterwald stehen, wo es immerfort schneite und schneite, wenn man die Kugel hin- und herwendete.
"Nicht schlecht", bemerkte er. "Nicht schlecht."
Nachdenklich schaute er dem Schneetreiben zu.
"Da wird einem mitten im Sommer ganz kalt", sagte er. "Was ist schon die Wärme des Sommers ... der Tod greift doch allezeit nach uns."
Rikka dachte an den grünschwarzen Abgrund des Waldsees.
"Was ist schon das Licht der Sonne", wollte sie sagen, "die Dunkelheit greift doch überall nach uns."
Mit ihren Plastikaugen schaute Rikka dabei zu, wie Dina sie mitsamt ihrer winterlichen Umgebung ins Regal stellte.







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