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Tron und ich unterhielten uns in E-Mails über Rafas Geburtstagsparties. Tron verneinte Rafas Behauptung, er lade nie zu seinen Geburtstagen ein:

Also, das stimmt so nicht, bei allen drei Geburtstagen, bei denen ich dort war, wurde ich eingeladen (zweimal von Rafa und das andere Mal von Berenice).
Beim ersten Mal war das richtig witzig. Ich lag am Nachmittag noch im Bett, weil ich den Tag vorher Nachtschicht hatte, und dann hat das Telefon geklingelt und Rafa war dran, meinte, ob ich heut schon was Besonderes vorhätte, er würde eine kleine Party feiern und würde sich freuen, wenn ich vorbeikäme. Ich hab mich total gefreut, aber auch ziemlich gewundert. Ein Bekannter (der, der das Lied "Dixiklo" gemacht hat) meinte mal, dass Rafa nur im kleinen Kreis feiert und nicht viele einlädt, und da habe ich mich schon gefragt, wie ich zu der Ehre komme ...
Ehrlich gesagt, weiss ich es bis heute nicht, Zufall kanns wohl kaum gewesen sein, weil ich die Jahre drauf auch eingeladen wurde, aber man sieht sich vielleicht nur zwei-, dreimal im Jahr, ich würde den Kontakt doch eher als lose bezeichnen, schon seltsam irgendwie.
Ich kann ihn da schlecht einschätzen und nehm mich selber nicht zu wichtig.
Kappa oder Angel sind nie zu seinem Geburtstag gekommen, also glaube ich schon aus diesem Grund nicht, dass die heute noch so viel miteinander zu tun haben. Bei einem Geburtstag hat man sie extra vorher angerufen, bei dem vorletzten standen sie zumindest in dem E-Mail-Verteiler mit der Einladung.

Dieses Jahr sei es zeitlich ungünstig für ihn gewesen, sonst wäre er wohl auch wieder zu Rafas Geburtstagsparty erschienen.
Ich erzählte, daß Rafa mich bereits zu Geburtstagsfeiern eingeladen hat und damit selbst negiert hat, daß er niemals zu Geburtstagen einlädt. Ich äußerte die Vermutung, daß Rafa mir einen Schlüssel hinwerfen wollte, als er zu Kappa sagte:
"Wer kommt, der kommt."
Tron und ich waren uns einig, daß Rafa sich viel Mühe mit seinen Parties gibt und daß sie sich von anderen Parties abheben.
Als ich erzählte, daß Rafa schon oft geäußert hat, Angst vor mir zu haben, meinte Tron:

Vielleicht will er sich nicht fest binden ? Und eine Verbindung mit Dir wäre vielleicht zu fest?

Ich mailte:

Ja, es kann sein, daß Rafa keine feste Bindung will. Das würde bedeuten, daß er seine bisherigen Beziehungen nicht als "fest" erlebt hat, auch wenn sie nach außen "fest" wirkten und z.T. Jahre hielten. Es ist die Frage, inwiefern ihm eine Verbindung mit mir "zu fest" wäre, d.h. wovor er sich eigentlich fürchtet.

Tron mailte:

Ich kann mich da schwerlich hineinversetzen, ich weiss ja auch nicht, woran seine Verbindung mit Berenice letztlich scheiterte.

Zu Rafas Wunsch, daß ich "Im Netz" aus dem Internet lösche, meinte Tron:

Na ja, Du musst es auch mal so sehen, nicht jeder seiner W.E-Fans sollte alles über ihn wissen. Wenn man alles weiss, vergeht vielleicht der Reiz, und er lebt ja auch von den CD-Verkäufen.
Wäre es nicht vielleicht eine Alternative, wenn man den Roman in einen internen Bereich verschiebt, so dass nicht jeder 16-jährige Kiddie ihn lesen kann?

Ich mailte:

Den Online-Roman nur einem begrenzten Publikum zugänglich zu machen, widerspricht meinem Dasein als Künstler, denn es ist mein inneres Bestreben, das, was ich schaffe, so vielen Leuten wie nur möglich zugänglich zu machen. Und wenn ich Rafas Wunsch folgen würde und den Roman aus dem Internet löschen würde, würde ich mich selber löschen, denn es handelt sich um mein Lebenswerk, und das wird verteidigt. Es ist mir wichtiger als mein eigentlicher "offizieller" Beruf, der in erster Linie dem Broterwerb dient.
Rafa scheint zu glauben, daß er nicht mehr interessant ist, wenn er seine Fassade nicht aufrechterhält. Das paßt zu seinem Selbstwertproblem. Ich denke nicht, daß er weniger interessant wirkt, wenn er offener ist - eher noch interessanter.

Tron mailte:

Es ist aber so, das kann ich Dir bestätigen. Viele seiner Fans, die Rafa näher kennengelernt haben, haben sich abgewendet, weil das Mysterium zerstört war.

Ich mailte:

Daß Fans sich von Rafa abgewendet haben, nachdem sie ihn persönlich kennenlernten, spricht doch, meine ich, sehr gegen diese Fans. Offenbar gefallen die Musik und die Show von Rafa leider auch solchen Menschen, die den Schein wollen und nicht das Sein. Es ist nun die Frage, ob Rafa sich diesen Fans beugen will oder ob er lieber auf Menschen setzen will, die das Sein wichtiger finden als den Schein. Wenn man nur für ein Mysterium lebt, hat man keinen festen Boden unter den Füßen, denke ich. Das gilt sowohl für die Verehrer des Mysteriums als auch für denjenigen, der aus sich eines macht.

Tron mailte:

So ist das nun mal im Showgeschäft. Ich würde das mit einer Motte vergleichen, die auf das Licht zufliegt, ihm aber nicht zu nahe kommen will. Es ist auch so, dass die meisten Menschen ziemlich oberflächlich sind, vielleicht im Gegensatz zu uns und einigen anderen. Der Schein genügt ihnen völlig, was sich dahinter verbirgt, interessiert sie nicht, das Leben und dessen Sinn lässt sich auf einige Phrasen reduzieren für die.
Was Rafa angeht, wäre die Frage erlaubt, ob er sich nicht unbewusst dem Bild annähert, das die Mehrzahl seiner Fans von ihm hat. Wer könnte wohl beurteilen, was nun nach 15 Jahren W.E der echte und was der falsche Rafa/Honey ist. Vielleicht ja Du, ich kenne ihn nicht so gut.

Ich mailte:

Ja, ich denke auch, viele Leute wollen Oberflächlichkeit. Vielleicht haben manche Menschen auch wirklich nicht sehr viel Tiefgang - oder sie können mit emotionalem Tiefgang nicht umgehen. Ich denke, Rafa entwickelt sein Image nach einem Konzept, ob nun bewußt oder unbewußt. Ich vermute, daß er durch die Art, wie er sich präsentiert, bestimmte Menschen anspricht bzw. ansprechen will. Ich denke, Rafa möchte sich gern als Entertainer zeigen, der für gute Laune sorgt. Die gute Laune, die er durch seine Show erzeugt, mag bei vielen im Publikum wirklich empfunden werden. Bei Rafa selbst habe ich das Gefühl, er lebt die Stimmung nicht mit den anderen mit, er sieht sich nicht als Teil eines Ganzen, als Teil der Gruppe. Ich habe den Eindruck, er genießt es vor allem, die Stimmung im Saal erzeugen und kontrollieren zu können. Rafa scheint sich vor allem davor zu fürchten, sein Schicksal nicht unter Kontrolle zu bekommen und hilflos und ohnmächtig zu sein. Bei Konzerten ist er derjenige, der "die Fäden in der Hand hat". Im wirklichen Leben steht er einer sehr schwierigen beruflichen Situation gegenüber; er muß ernsthaft um seine soziale Sicherheit fürchten, und es ist für ihn äußerst schwer, in dieser Welt seinen Platz zu finden. Ich glaube, daß die Zukunftssorgen ihn Tag für Tag begleiten. Mehr und mehr Freunde von ihm können ihre berufliche Situation wenigstens einigermaßen ordnen, er selbst konnte es bisher nicht. Und ein Weg zu mehr Sicherheit würde mit hoher Wahrscheinlichkeit bedeuten, daß er sich weiterbildet (z.B. Umschulung etc.). In seinem erlernten Beruf (Maler/Lackierer) fühlte er sich schon 1994 so unwohl, daß er ausstieg.
Die "Allmachtsposition", die Rafa für manche seiner Fans einnimmt ("Honey, der Gott"), scheint auch dazu zu dienen, ein tatsächliches Gefühl von Ohnmacht zu überdecken. Das mag vorübergehend helfen, an der Gesamtsituation aber ändert sich dadurch nichts, sie wird nur übertüncht. Es baut sich eine Spannung auf, es bauen sich Aggressionen auf. Und das ist es, was ich bei Rafa wahrnehme - Zerrissenheit, Ohnmachtsgefühle, innere Anspannung, Aggressivität, Ängste. So und nicht anders erlebe ich ihn, wann immer ich ihm begegne. Und das spiegele ich ihm, ob nun mit Absicht oder unabsichtlich. Ich konfrontiere ihn (letztlich der einzige Weg, um überhaupt eine Entwicklung in Gang zu setzen), und er lenkt seine Aggressionen gegen mich und erlebt mich als den Ursprung allen Übels.
Wie ist das denn vor sich gegangen, als die Fans sich von Rafa abgewendet haben? Haben die ihn bei einem Konzert getroffen? Haben die erzählt, sie mögen ihn nicht? Wie war zu erkennen, daß sie sich abgewendet haben?

Tron mailte:

Ich weiss nicht, es ist nicht so schlimm, wie es sich für Dich vielleicht anhört. Ich meine Leute, die W.E zuerst ganz toll finden und über die Texte lachen und es später in austauschbarer Fahrstuhlmusik endet. Ich kann es jetzt nicht an speziellen Beispielen festmachen.

Zu meinem Beitrag "Neujahr - Straßen im Winter" im W.E-Forum ist inzwischen ein Thread entstanden. Forummitglied HAL 9000 postete:

Also, die Farben sieht man teilweise auch, wenn man gewisse bewusstseinserweiternde Mittelchen genommen hat.

Forummitglied "Bates" postete:

hätt gern mal gewusst, was du damit ausdrücken willst und warum dich so die Zäune/Gitter faszinieren (da sie ja auf jeden Bild zu sehen sind)

Ich schrieb:

Daß da so viele Gitter drauf sind, ist eher Zufall. Die gehören zu zwei Autobahnbrücken, auf denen bisher noch kein Auto gefahren ist. Im Grunde sind das nur Impressionen, die die Stimmung in diesem Winter wiedergeben. Eigentlich ist das gar kein richtiger Winter, ohne Schnee ...

RotWild schrieb:

Das war's, was auf den Winter-Bildern irgendwie fehlt!

Wave schrieb:

Hey, es gibt ja künstlerische Freiheiten
Wenn man n Winter ohne Schnee darstellen will, stellt man halt n Winter ohne Schnee dar

Cent schrieb:

kannsch dann och nen sommer ohne sonnenschein darstellen??? oda is des dann eher wida was anderes ...???

Ich schrieb:

Sommer ohne Sonnenschein kriege ich auch noch hin.

Forummitglied "Königsulan" schrieb:

Winter ohne Schnee, Sommer ohne Sonnenschein: Klingt alles ein wenig traurig, oder?

Ich schrieb:

Fotoserien werden bei mir immer ziemlich düster. Auch wenn ich mir das nicht vornehme.

Königsulan verwendet als Avatar das Bild eines Offiziers der Kaiserzeit und als Signatur einen spanischen Text:

fugir das tentações é fugir da juventude

In seinem Profil nannte er "SHG." als Herkunft, und er nannte auch sein Geburtsdatum, und da war ich mir sicher, daß es sich bei Königsulan um Ivco handelte. Er mag Brasilien und historische Uniformen.
Ivco erkundigte sich in einer E-Mail, ob ich am kommenden Freitag auch ins "Byzanz" gehen wollte. Ich bejahte das.



Im "Byzanz" begrüßte ich Ivco auf der Tanzfläche. Rafa stand unmittelbar neben uns. Ich wandte mich ihm zu, um auch ihn zu begrüßen, da wich er zurück, als wenn er glaubte, ich könnte ihn erwürgen. Rafa blieb in der Nähe, beobachtete mich aus den Augenwinkeln und schaute gelegentlich zu mir herüber, mit verstohlenen Blicken, manchmal grinste er schelmisch dabei. Seine Sonnenbrille trug er nicht. Er rauchte hektisch, eine Zigarette nach der anderen.
Ivco trug eine historische Uniformjacke. Ich sprach ihn auf seinen Forumnamen an, und wirklich, er ist "Königsulan". Er erklärte, was ein Königsulan ist. Die Königsulanen seien im Kaiserreich eine Art Spezialeinheit gewesen, eine Reiterstaffel. Seine Uniformjacke war die eines Ulanen. Die Ulanen standen etwas unterhalb der Königsulanen und hatten rote Ärmelaufschläge statt der weißen. Im Stadtwald von H. soll es ein Reiterstandbild geben, das einen Königsulanen darstellt.
Ivco gab allen seinen Bekannten einen aus, auch mir. Ivco und Rafa waren mit Dolf, Darius, Herrn Lehmann, Darienne und Tyra im "Byzanz". Tyra begrüßte mich:
"Hallo Hetty."
Ich umarmte sie zur Begrüßung und hatte nicht den Eindruck, daß sie mir in irgendeiner Weise feindlich gesonnen war.
Rafa belegte Tyra häufig mit Beschlag, als sei sie ein persönliches Besitzstück von ihm. Er demonstrierte nicht wie damals mit Tessa oder Berenice "wir sind zusammen, keiner kann uns trennen", sondern sein Verhalten wirkte eher wie "die gehört mir, die nimmst du mir nicht weg". Das sah so aus, daß er lange auf Tyra einredete, daß er sie umschlang oder ihr Küßchen in die Halsbeuge hauchte, wobei sie eher befremdet als geschmeichelt auf mich wirkte.
Eine Zeitlang waren Rafa und Tyra verschwunden. Ich ging in einen Nebenflur, wo Constris frühere Kommilitonin Auraleen einen Stand mit Unterground-Mode aufgebaut hatte. Ich betrachtete die phantasievollen Sachen und hörte hinter mir Rafas Stimme. Ich drehte mich um und sah Rafa mit Tyra und einigen anderen Leuten in einer Nische an einem Tisch sitzen. Als ich etwas später mit Claudius zu Auraleens Stand ging, um ihm die avantgardistisch gestalteten Herrenhemden zu zeigen, ging Rafa dicht an mir vorbei, und ich konnte ihm über den Arm streichen.
"Also, das ist einer", bemerkte Claudius, "als ich Rafa das erste Mal sah, und er kam zu dem Stand, den ich damals auf dem Flohmarkt hatte, da habe ich seine Freundin gesehen und gedacht:
'Die passen doch überhaupt nicht zusammen!'"
Claudius meinte, Rafa fühle sich von mir wahrscheinlich dadurch abgeschreckt, daß ich ihn verstehe. Ihm sei das zuviel Verständnis. Er könne vor mir nichts verbergen.
Mit Tyra und einigen Herren stellte sich Rafa vor die Theke im hinteren Teil des Saales. Ivco war unter ihnen. Ich sagte zu Ivco, er wüßte wohl sehr viel über historische Uniformen.
"So lange sammele ich die noch gar nicht", schränkte Ivco ein, "das geht erst seit ungefähr fünf Jahren. Diese Jacke ist wirklich original von 1913. Innendrin steht das irgendwo auch noch."
"Das ist irre, wenn man sich vorstellt, daß diese Jacke schon fast hundert Jahre alt ist. Und besonders erstaunlich finde ich, daß die Jacke immer noch heile ist, nach so vielen Jahren."
"Das liegt wohl auch daran, daß die damals noch gute, echte Naturfasern verwendet haben", meinte Ivco. "Wenn man damals sowas gemacht hat, dann hat man das für die Dauer angefertigt. Das war nicht so ein neumodisches synthetisches Zeug, das schnell kaputtgeht."
"Dazu fällt mir ein, daß die auch Priestermäntel jahrhundertelang aufgehoben haben und nicht weggeworfen, sondern immer wieder ausgebessert und geflickt haben. Die waren ja teilweise auch mit echtem Gold durchwirkt und deshalb viel zu wertvoll, um weggeworfen zu werden."
"Ich habe auch Uniformjacken, wo Metallfäden drin sind, silberne Fäden, aber ich bin mir nicht so sicher, es handelt sich wohl nicht unbedingt um echtes Silber."
Ich trug ein Musterbeispiel für kurzlebiges synthetisches Zeug - eine trägerlose Corsage aus Lackstoff mit Brokatstickerei, garantiert aus Kunststoffen und Kunstfasern. Mein Collier tat nur so, als bestünde es aus Onyxen. Alles war Plastik, wenn es auch ziemlich echt aussah.
Rafa trug heute das zerrissene weiße T-Shirt, das er auch auf seiner Geburtstagsfeier getragen hatte und das an Spinnweben erinnert.
Rafa und ich standen uns auf Schrittlänge gegenüber. Rafa unterhielt sich mit den Herren neben ihm und mit Tyra. Ich schaute Rafa an. Rafa schaute mich ebenfalls an, mal für einen Augenblick, mal für mehrere, doch immer schien er danach so tun zu wollen, als hätte er mich gar nicht gesehen. Als Tyra einmal nicht zugegen war, fragte Rafa mich:
"Was guckst'n du mich dauernd an? He! Was - ist - los?"
"Ich gucke dich so gerne an."
"Ich lasse mich aber nicht gerne angucken."
"Es ist so schön, dich anzugucken", meinte ich. "Es gibt kaum etwas Schöneres."
"Dann setz' dir 'ne Sonnenbrille auf", erwiderte Rafa und legte die Finger wie Brillengläser um die Augen.
"Die hast du doch immer auf", bemängelte ich.
"Ja, damit ich das nicht ertragen muß", erklärte Rafa.
"Du siehst viel süßer aus ohne Brille", meinte ich.
Er setzte die Sonnenbrille heute nie auf, und ich hatte die Möglichkeit, für längere Zeit sein Gesicht zu sehen.
"Mensch, such' dir doch endlich mal einen anderen", verlangte Rafa. "Ich bin doch nicht der einzige Kerl hier."
Tyra kam zurück, und Rafa brach das Gespräch mit mir sofort ab, als hätte er vor Tyra etwas zu verbergen.
Ivco machte Fotos, auch eines, auf dem sowohl Rafa als auch ich zu sehen sind, neben Tyra und Darius.
Rafa stellte sich mit Tyra in die Nähe des Geländers, ein Stück entfernt von der Theke, zwischen Barhockern und Stehtischen. Als er sie vorübergehend allein ließ, unterhielt ich mich mir ihr. Tyra erzählte, daß sie eigentlich gar nicht richtig in die Elektro- und Wave-Clubszene hineingehöre, daß sie aber schon einige Male mit ihrer Schwester Lani im "Zone" gewesen sei.
Seltsam fand ich, daß Tyra die Nacht hindurch immer wieder fragte:
"Wo ist Darienne?"
Sie erklärte das nicht näher, und ich konnte mir auch keinen Reim darauf machen. Darienne ließ sich kaum sehen; sie saß vielleicht mit Herrn Lehmann irgendwo in einer Ecke.
Während ich mit Tyra sprach, redete Rafa mit einem Mädchen, das Dolf zu kennen schien. Als Rafa auf Tyra und mich zuging, unterbrach Tyra ihr Gespräch mit mir abrupt und wendete sich ihm zu.
Rafa störte unser Gespräch immer wieder, indem er Tyra von hinten oder von der Seite überfiel, ihr etwas ins Genick oder ins Ohr flüsterte, sie umhalste und abküßte. Es waren freilich keine Zungenküsse, sondern Bussis, eher Markierungen und Kennzeichnungen. Rafa betonte, Tyra müsse auf seine Jacke achtgeben, die auf einem der Hocker lag. Wenn Rafa sich wieder entfernt hatte, setzten Tyra und ich unser Gespräch fort.
Tyra erzählte, daß sie eine Ausbildung zur Erzieherin macht und danach studieren möchte, im Bereich Psychologie und Erziehung. Sie freue sich sehr auf das Studium. Ich erzählte, daß ich zur Zeit in der Neurologie arbeite, was unabwendbar ist, wenn man den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie machen will. Tyra erkundigte sich, was man studieren muß, um Psychiater zu werden. Ich erklärte, daß man dafür nicht Psychologie, sondern Medizin studiert.
Tyra kam auf meine Domain zu sprechen:
"Da gibt es doch so eine Homepage, wo Rafa mit dir so einen Disput hatte ... die würde mich mal interessieren, die würde ich gerne kennen."
Ich nannte ihr die URL.
"Aber bitte sag' Rafa nicht, daß du mir diese Seite genannt hast", bat Tyra.
"Das mache ich ganz bestimmt nicht", versicherte ich, entschlossen, Rafa abprallen zu lassen, sooft er versuchte, Tyra und mich gegeneinander auszuspielen. "Das ist ein sehr sensibles Feld, und ich möchte da nicht noch Konflikte schüren."
Tyra wollte mehr über die Domain wissen.
"Sie hat sich von selbst geschrieben", erzählte ich. "Damit habe ich keinen Plan oder ein Ziel verfolgt. Der Auslöser war ein Schlüsselerlebnis, und das steht gleich am Anfang der Geschichte. Rafa glaubt ja, daß ich mich mit der Geschichte nur gegen ihn wende und ihm nur schaden will, und ich kann ihn nicht vom Gegenteil überzeugen. Rafa kann sich nur selbst überzeugen, indem er die Geschichte wirklich Wort für Wort liest, und die ist immerhin schon 3000 Seiten lang."
"Was? 3000 Seiten?"
"Ja, und sie ist noch lange nicht fertig. Sie wird nie fertig. Sie ist auf Unendlichkeit angelegt. Das ist ja nicht alles auf der Homepage. Es ist noch ein zweiter Roman da drauf, der ist fertig, und der ist völlig frei erfunden. Und dann sind da auch noch Kurzgeschichten drauf und sehr viele Fotos, vorwiegend welche von Industrieanlagen. Wenn man also wirklich die Homepage ganz kennen will, dann würde man Wochen bis Monate dafür brauchen. Rafa möchte ja, daß ich die Seite aus dem Internet lösche, aber ich kann sie gar nicht löschen, weil die Geschichte mein Lebenswerk ist, das bin ich, das ist mein Abbild. Und wenn ich die löschen würde, würde ich mich selbst löschen. Und das kann ich nicht, weil ich mich nicht umbringe. Deshalb bin ich da auch so unnachgiebig."
Rafa hatte sich nahe bei uns mit Inya hingestellt.
"Ich muß mal wieder zu Rafa hingehen", meinte Tyra, als gelte es, eine unliebsame Pflicht zu erfüllen.
"Ja, dann mach' das", sagte ich.
Sie stellte sich zu Rafa, redete einige Sätze mit ihm und ging weiter, als er sich Inya zuwandte. Syre kam vorbei, und ich unterhielt mich mit ihm. Während Rafa mit Inya sprach, schaute er immer wieder zu mir herüber, und während ich mit Syre sprach, schaute ich immer wieder zu Rafa hinüber, so daß unsere Blicke sich viele Male trafen, über die Schultern unserer Gesprächspartner hinweg. Als ich Syre darauf aufmerksam machte, daß Rafa mir dauernd Blicke herüberwarf, bemerkte Syre:
"Ja, wie jetzt gerade wieder. Mann, ist das ein Spiel, das ihr spielt. Ihr spielt ja vielleicht ein lustiges Spiel. Das ist ja echt spannend."
Wie durch einen merkwürdigen Zufall waren es - abgesehen von Tyra - vorwiegend Herren, die sich in meine Nähe begaben. So hatte ich - außer Tyra - meistens Herren zur Gesellschaft, und meine Gespräche mit ihnen waren - ebenso wie das mit Tyra - dazu geeignet, Rafa zur Weißglut zu bringen. Rafa hatte sich dank seines unablässigen Zigarettenkonsums unter Kontrolle, und ich hatte das Gefühl, daß er wenigstens ein bißchen von dem bekam, was ihm zustand.
Darius erzählte mir, es sei noch nicht sicher, wann es das nächste Konzert von Das P. geben werde, es sei aber bereits geplant. Als ich mich erkundigte, ob er mit Dessie noch zusammen ist, wehrte er ab:
"Falsches Thema, falsches Thema."
Seth, Rikkas früherer Freund, zeigte mir seinen Trauring. Rikka weiß schon, daß Seth verheiratet ist. Sie scheint die Trennung von Seth nach wie vor nicht verarbeitet zu haben, nach sieben Jahren. Zugleich ist sie nicht sicher, ob Seth wirklich ihre einzige große Liebe ist oder hätte sein können. Meine Vermutung ist, daß unverarbeitete innere Konflikte eine wesentliche Rolle in der Beziehung gespielt haben.
Toro war aus BT. zurückgekehrt und erklärte, nie wieder werde er ein Geschäft oder eine Location haben. Er hatte einige Versuche unternommen, war letztlich aber daran gescheitert, daß es ihm nicht gelang, strukturiert und gewissenhaft einen Betrieb zu führen.
Ivco und ich unterhielten uns über die Arbeit. Ivco klagte, daß er sich unterfordert fühlt und wie zwischen den Stühlen. Er würde sich gern beruflich verändern, hat von seinen Zielen aber keine genaueren Vorstellungen. Ich meinte, immerhin hätte ich genaue Ziele, die ich verfolge, auch wenn das recht anstrengend sei.
"Aber ich kann mir helfen", meinte ich, "indem ich an der Geschichte arbeite."
"Und am 27. Kapitel", setzte Ivco hinzu. "Obwohl ... äh ..."
Er guckte vorsichtig zu Rafa hinüber.
"Ich arbeite ganz viel daran und will das möglichst schnell fertighaben", ging ich über Ivcos ängstliches Gebaren hinweg. "Das macht so einen Spaß, daran zu arbeiten."
"Du hast Spaß am Schreiben?" staunte Ico.
"Das baut so auf ... ich merke jedesmal, wie verlorengegangene Energie in mich zurückkehrt."
"Aber beim Arbeiten verliert man doch Energie."
"Das ist ja das Seltsame, bei der Geschichte ist es genau umgekehrt. Ich kann richtig fühlen, wie verlorene Kräfte wieder zurückkehren. Das ist auch ein Grund, warum diese Geschichte so wichtig ist. An dieser Geschichte zu arbeiten ist das wirksamste Antidepressivum, was es gibt."
Als ich im Bad gewesen war und meine Tasche wieder an ihren Platz brachte, stellte ich fest, daß Rafa unmittelbar neben diesen Platz beim DJ-Pult stand. Ihm konnte nicht entgangen sein, daß ich hier meine Sachen hatte. Rafa plauderte über das Schwenktürchen hinweg mit Bruno K. von Das Ich, der heute auflegte. Ich stellte mich hinter Rafa auf eine Treppenstufe. Rafa dehnte das Gespräch mit Bruno aus, länger als für ihn üblich. Meine Hand lag auf dem Schwenktürchen, sichtbar für Rafa. Nach einer Weile drehte Rafa sich um, wobei sein gesamter Körper leicht gegen mich stieß, und tat so, als hätte er mich eben erst bemerkt:
"Du schon wieder!"
"Ja, selbstverständlich", nickte ich, "wer denn sonst?"
"Wo's'n Dolf?"
"Das weiß ich nicht."
Rafa marschierte von dannen, angeblich auf der Suche nach Dolf.
Als ich auf der Tanzfläche war, sah ich, daß Rafa tatsächlich zu Dolf an die Theke gegangen war, wo wir vorhin schon gewesen waren; Rafa stand aber weiter vorne, am Geländer, von wo aus er die Tanzfläche überblicken konnte. Auch als Ivco und Tyra sich zu ihm gesellten, behielt Rafa die Tanzfläche im Auge. Zwischen zwei Stücken stand ich kurz still und schaute über die Tanzfläche hinweg, und mein Blick landete unmittelbar in den Augen von Rafa.
Als ich wieder hinaufging zu Ivco und Tyra, begann ein Stück von Second Decay, und mit dem Ruf "Second Decay! Oh! Second Decay!" stürmte Rafa mit Dolf zur Tanzfläche.
Tyra und ich gehen beide in die Elektro- und Wave-Clubszene, seit wir neunzehn sind. Ich meinte, für mich sei das spät gewesen. Tyra fragte, weshalb, und ich erzählte, daß ich bereits mit elf Jahren fast nur noch Skelette, Grabsteine, Galgen, Särge, Geister, Mönche und Nonnen gezeichnet habe. Ich trug damals einen silbernen Knochen um den Hals und einen Ring mit einem Totenschädel, in dessen Augenhöhlen rote Steinchen leuchteten. Hätte es die Szene damals schon gegeben, es wäre hilfreich für mich gewesen, dabeizusein.
Tyra erzählte, Attribute der Szene seien für sie nicht von Bedeutung. Sie ziehe nur das an, was sie möge. Ich meinte, das sei auch das Wichtigste, daß man sich nicht irgendwelchen Regeln unterwerfe. In der Szene gehe es ja vor allem um Individualität.
Tyra hatte ein enges weißes Oberteil an mit mehreren Durchbrüchen an den langen Ärmeln. Dazu trug sie einen schwarzweiß karierten Minirock. Das wirkte im Stil heller und weicher als die übliche Szene-Garderobe.
"Die Szene ist nicht nur negativ", meinte Tyra.
"Allerdings", bestätigte ich, "da ist sehr viel Positives."
"Ja, zum Beispiel die Freundlichkeit der Leute untereinander und die Toleranz sind für mich sehr viel wert. Ich laufe nicht übertrieben geschminkt herum, mit aufgemalter Träne, weil ich nicht meine, daß man unbedingt depressiv sein muß, um in der Szene dabeizusein."
Einmal sei sie in hellen Jeans ins "Zone" gegangen und gefragt worden, ob sie neu sei. Sie verneinte das; sie habe nur angezogen, was sie gern anziehen wollte.
"So habe ich auch angefangen", erzählte ich, "mit weißer Hose und rosa Pullover. Ich habe mich auch sonst immer unterschieden und bin eine der Buntesten gewesen. Das finde ich auch immer so schrecklich, daß man in meinem Beruf so furchtbar brav aussehen muß."
"Genau wie in meinem. Von Erziehern erwartet man auch immer, daß sie so brav aussehen."
Rafa kam wieder auf uns zu, und Tyra stand ihm sogleich zur Verfügung. Rafa rückte immer näher an sie heran, was sie mit einer gewissen Willfährigkeit, jedoch ohne besondere Begeisterung entgegennahm. Rafa schien es bei seinen Annäherungen weniger um Tyra selbst zu gehen als um die Demonstration, daß er einen Menschen kontrollieren und benutzen konnte.
Mit Ivco sprach ich über sein Posting im W.E-Forum, in dem er meinte, ein Winter ohne Schnee oder ein Sommer ohne Sonnenschein hörten sich doch etwas traurig an. Ich erzählte von dem Phänomen, daß ich nicht vorhersagen kann, welche Stimmung ein Kunstwerk bekommt, wenn ich es beginne. Das entwickle sich, während es entsteht. Ivcos Eindruck gebe durchaus meine tatsächliche Stimmung wider, und offenbar komme die in dem Kunstwerk "Neujahr - Straßen im Winter"auch zum Ausdruck. Dabei sei das gar nicht vorausgeplant gewesen.
Ich erzählte Ivco von dem Alptraum, den ich mit elf Jahren hatte und der für mich ein tröstliches Ende fand.

In dem Traum war ich lebendig, galt jedoch als tot. Meine Beerdigung wurde am leeren Sarg gefeiert. Ich verhalf mir zurück ins Leben, indem ich stapelweise Papier vollschrieb. Während des Schreibens wachte ich auf und war von dem Alptraum erlöst.

"Solange ich schreibe, bin ich am Leben", erklärte ich. "Das gilt immer noch."
"Gelöbnis" von P.A.L begann, in dem es zu Beginn heißt:
"Achtung! Achtung!"
Rafa sagte in demselben Tonfall:
"Aufbruch! Aufbruch!"
Er scheuchte und trieb sein Häuflein zusammen, und die duckten sich alle und taten, was er wollte.
"Könnte er jetzt nicht mal seine Jacke wieder selber nehmen?" seufzte Tyra, die immer noch auf Rafas Jacke aufpaßte.
Als ich Ivco zum Abschied umarmte, hatte Rafa sich so dicht an Ivco herangeschoben, daß ich sie beide auf einmal umarmte.
Rafa zog nun endlich seine Jacke über und marschierte zum Ausgang, gefolgt von Tyra. Er drehte aber noch einmal um, verabschiedete sich von einigen Leuten, streifte an mir entlang und sagte:
"Tschüß!"
Ich streichelte über seinen Arm.
Einige Treppenstufen höher, noch näher am Ausgang, streifte Rafa ein weiteres Mal an mir entlang, und ich fuhr ein weiteres Mal über seinen Arm.
Marcia meinte, nicht nur mir, sondern auch Rafa entgehe so viel, weil er sich gegen mich sperrt.
"Im Grunde nimmt er nicht nur mich nicht an", deutete ich, "er nimmt auch das Leben nicht an."
Am Samstag war ich im "Industrial Palace" und traf dort Simon, der erzählte, seit der Trennung von Afra führe er ein zurückgezogenes Leben. Ich bat ihn, ein Räucherstäbchen dafür anzuzünden, daß ich nach dem Ende der Neurologie-Zeit nach Kingston zurückkehren kann.
"Das läßt sich wohl machen", meinte Simon. "Beten kann ich nicht, aber ein Räucherstäbchen will ich schon anzünden."
Mit Lilly unterhielt ich mich darüber, daß Rafa anderen Menschen gerne Rätsel aufgibt.
"Er ist ja auch selbst eines", meinte sie. "Ou Mann, von allen schwierigen Typen hast du dir wohl den schwierigsten ausgesucht."
Evelyn mag die Musik von Dirk I. sehr. Niemand könne verstehen, daß sie die Musik erotisch finde.
"Wenn diese Musik nicht erotisch ist, was ist dann erotisch?" meinte ich. "Allein die Rhythmen sind schon erotisch. Vielleicht wissen die, die sie nicht erotisch finden, nicht, was Erotik ist."
Evelyn und ich fotografieren beide gern. Wir beschlossen, am morgigen Sonntag auf Fotosafari zu gehen.
An der Fotosafari nahmen auch Constri und Denise teil. Wir fotografierten und filmten unter einer himmelhohen Autobahn-Talbrücke aus Naturstein, durch deren Rundbögen das Licht der Wintersonne schien. Ich filmte Constri, wie sie mit Denise unter einem Rundbogen hindurchging und wie sie in dem hellen Licht das Kind herumschwenkte.
Tron schickte mir CD's, DVD's und Tapes. Bei den Tapes handelt es sich um Kopien von Original-Tapes von Rafa, "Awakening of the animals" und "Telephon W-38". Tron hatte die Tape-Cover so hochwertig kopiert, daß sie von Original-Covern kaum zu unterscheiden waren. Auf einer DVD befand sich ein Interview von Rafa und Dolf aus dem Winter 1995/1996. Beide verstecken ihre Augen hinter dunklen Brillen. Rafa trägt sein schwarz getöntes Haar kinnlang und hat die Jacke mit den vielen Schnallen auf den Ärmeln an. Er beantwortet die Interview-Fragen in einem leicht überheblichen Tonfall, und er spricht schnell und etwas undeutlich, als sei er aufgeregt. Über Videospiele sagt er, die halte er für gefährlich, und seinem Sohn würde er so etwas nicht geben.
Rafa erwähnte mehrmals seinen Sohn, den es bisher nicht gibt. Er schien - und scheint sich Kinder sehr zu wünschen.
Im Internet kursieren mittlerweile die Witze, die früher als Kopien durch die Büros gewandert sind. Dazu gehört ein Bild des kürzlich ermordeten Modemachers Moshammer. Er wurde mit einem Telefonkabel erwürgt. Auf dem Internet-Bild macht er Werbung für schnurlose Telefone:
"Schnurlos gibt Sicherheit ... hätte ich es gewußt, ich hätte eins gekauft ..."
Es gibt auch makabre Computerspiele, in denen "Schnappi"-Krokodile abgeschossen werden. Und es gibt Klingelton-Sets, in denen das Handy-Küken "Sweety" abgeschlachtet wird. "Sweety" ist ein computergeneriertes, mit hochgepitchter Stimme trällerndes Küken, Titelheld eines Klingelton-Sets. Die Allgegenwart dieses Klingelton-Geschöpfs - auch in der Fernsehwerbung - hat es zur Haßfigur avancieren lassen. Man kann sich unter "Gelb10" den Klingelton "Stirb Axt", unter "Gelb11" den Klingelton "Stirb Gift" und unter "Gelb12" den Klingelton "Real tot" herunterladen.
Ivco mailte am Donnerstag, Rafa werde heute nicht in die "Spieluhr" kommen, da er mit Darius an der neuen CD von Das P. arbeiten wolle.
Abends war ich in der "Spieluhr". Ivco erzählte von dem Ausstieg des Administrators von Rafas W.E-Forum. Der Administrator fühlte sich von zwei Forummitgliedern in die Enge getrieben, die sich wohl bei ihm über angeblich ungerechte Verhältnisse im Forum beschwert haben und sogar versucht haben sollen, ihm beruflichen Schaden zuzufügen.
Forummitglied "Pixel", das sich im letzten Herbst aus dem W.E-Forum zurückgezogen hat, soll Rafa und Dolf schon länger persönlich kennen und daraus anscheinend im Forum Sonderrechte abgeleitet haben. Pixel soll beleidigende Äußerungen gegen andere Mitglieder von sich gegeben haben, die er aber wohl zurückgenommen hat. Er ist nach wie vor Mitglied im Forum, schreibt dort aber nichts mehr, vielleicht aus Gekränktheit.
In der "Spieluhr" traf ich auch Darienne und Herrn Lehmann, der seine Haare im Irokesenstil hochgeföhnt hatte. Herr Lehmann erklärte, für Rafas Geburtstagsfeier habe er sich die Haare nicht hochgestellt, weil in Rafas niedrigem Keller nicht genügend Platz für eine solche Frisur sei. An seiner Lederjacke hatte Herr Lehmann zahlreiche Badges befestigt, die in den Achtzigern sehr angesagt waren und neuerdings wieder im Kommen sind, im Rahmen der Neuauflage des Punk-Looks.
Zwei Mädchen traf ich in der "Spieluhr", die trugen Rosenkränze um den Hals. Eines der beiden sammelt Rosenkränze. Es hat sogar einen winzigen Rosenkranz für Kinder. Ich erzählte, daß ich vor Kurzem das Glück hatte, in einem gewöhnlichen Kaufhaus in einer gewöhnlichen Schmuckabteilung einen Rosenkranz zu bekommen.
Als ich einmal Darienne fragte, wo ihr Herr Lehmann sei, schnappte sie pikiert:
"Das ist nicht mein Herr Lehmann."
Sie schien sich nicht mit mir unterhalten zu wollen, und sie schien auch nicht viel zu sagen zu haben. Mit hinter einer Makeup-Schicht versteckter Mimik gab sie Ein-Wort-Sätze von sich, das war ihr Beitrag zur allgemeinen Kommunikation. In gewisser Weise erinnerte sie mich an meine Klassenkameradinnen aus der Sekundarstufe I, und ich bin mir sicher, daß das nicht an Dariennes geringem Lebensalter lag.
Dolf beschäftigte sich in der "Spieluhr" hauptsächlich mit einem blondierten Mädchen, das vielleicht seine Freundin ist. Es hatte den langen Pferdeschwanz mit mehreren Gummis zusammengerafft, so daß sich ein Zopf ergab. Gesichter kann ich mir schlecht merken, doch es ist möglich, daß Rafa neulich im "Mute" mit diesem Mädchen so ausgiebig flirtete. Allein - dick war dieses Mädchen nicht, Haldor mußte sich verschaut haben.
Am Freitag war ich mit Rikka und ihrem neuen Freund Domian im "Byzanz". Die Stimmung zwischen den beiden wirkte gerade recht harmonisch. Neulich hat mir Rikka von den Spannungen erzählt, die die Beziehung überschatten. Rikka und Domian kennen sich aus dem Internet. Domian ist einundzwanzig Jahre alt und wohnt noch zu Hause, ist aber der Ansicht, vieles besser zu wissen als der Rest der Menschheit. Er wird in diesem Zusammenhang auch entwertend anderen Menschen gegenüber. Rikka nimmt Domians entwertendes, egozentrisches Verhalten in Kauf, denn noch schlimmer erscheint ihr die Vorstellung, wieder ohne Lebensgefährten zu sein. Das Alleinsein bedeutet in Rikkas Wahrnehmung den Untergang. Ihre Verlustängste machen sie erpreßbar. Domian scheint das gemerkt zu haben.
Andras erzählte, daß er seine eben erst volljährige Verlobte Rhea bald heiraten möchte, ein Termin ist aber noch nicht festgesetzt. Rhea ist nicht sicher, ob sie jetzt, in ihrem jungen Alter, schon heiraten will.
Talis und Janice wollen im April heiraten und laden dazu nicht nur ihre Verwandten, sondern auch ihren Bekanntenkreis ein. Sie wollen ihre Hochzeit als zwanglose Party feiern, ähnlich wie Constri und Derek es gemacht haben, nur mit mehr Gästen und in einem Gemeindesaal.
Marie-Julia hat sich in der Hochschule operieren lassen, und es besteht die Hoffung, daß sie auf natürlichem Wege Kinder bekommen kann. Ich besuchte Marie-Julia und zeigte ihr den Weg durch die Katakomben. Während meines Studiums habe ich die unterirdischen Gänge in der Hochschule immer bevorzugt; sie wirken geheimnisvoll und verwunschen, und man hat dort mehr seine Ruhe. In den Katakomben machte ich Fotos von Marie-Julia vor einer weiß gestrichenen Betonwand, die mir als Hintergrund zu Marie-Julias lichtrosa Jäckchen gut gefiel. Marie-Julia machte auch Fotos von mir. Wieder in ihrem Krankenzimmer, sahen wir durchs Fenster zwei Regenbögen. Die fotografierte ich auch noch.
Marie-Julia erzählte die Geschichte der Trauringe von Nic und ihr. Die Mutter ihrer Mutter hat sie ihr vererbt. Sie heiratete 1932, zuerst mit einfachen Silberringen, weil an goldene nicht heranzukommen war, denn sie lebte damals im osteuropäischen Ausland. Als ihr Mann und sie nach Deutschland gezogen waren, erwarben sie goldene Ringe und ließen sie gravieren. Marie-Julia und Nic haben die alten Gravuren bestehen bleiben lassen und ihre eigenen danebenstellen lassen. Sie haben auch noch die alten Silberringe.
Nic kam gegen Abend und brachte Marie-Julia dunkelrote Rosen mit; davon hat sie schon mehrere Sträuße. Nic erzählte, daß viele Mitarbeiter in Kingston meinen Online-Roman kennen und sich meine Internet-Adresse zureichen wie einen Geheimtip.
Nic hielt mich mit Kliniktratsch auf dem Laufenden. Er hat eine starke Neigung, die Welt und vor allem die Kollegen in einem negativen Licht wahrzunehmen und darzustellen. Daher weiß ich nicht, wieviel ich ihm glauben soll von dem, was er erzählt, und was so sehr eingefärbt ist, daß es mit der Wirklichkeit nicht mehr im Einklang steht.
Nic sucht und findet überall äußere Hinderungsgründe fürs Glücklichsein. Er jammert und schimpft gern und ausdauernd. Mit dem Kaffeeautomaten lieferte Nic sich eine handfeste Auseinandersetzung, weil der ihm nicht alles geben wollte, was er sich wünschte. Ich empfahl ihm das Buch "Anleitung zum Unglücklichsein" von Paul Watzlawik.
In einer E-Mail bedankte sich Tron für eine CD mit Frühwerken und Raritäten aus Rafas Schublade, die ich ihm geschickt habe:

Die Songs find ich echt klasse, vor allem "Komm in meinen Mund", ich versteh aber schon, dass Rafa vermutet, dass sowas sehr hart zu schlucken wäre für den Großteil der heutigen Fans, die wüssten das nicht zu würdigen ...

Ich mailte:

Ja, das denk ich auch, daß manchem Fan so harte Titel wie "Komm in meinen Mund" schwer im Magen liegen würden ... Ich mag es, wenn Rafa eher düstere Tiel macht mit eher düsteren Sounds, aber viele seiner Fans sind an harmlosere Klänge gewöhnt und erwarten sie auch von ihm.

Tron mailte:

Rafa hat mal zu Berenice gemeint, er möchte mich nicht als Freund verlieren und mir deshalb nichts von seinen frühen Sachen geben. Ich denke, er unterschätzt meine "musikalische" Bandbreite, ein Fehler, den Du bestimmt nicht machen wirst ;)

Ich mailte:

Ich finde es erstaunlich, daß Rafa sich Sorgen gemacht hat, dich als Freund zu verlieren, nur weil er meinte, daß dir seine frühere Musik nicht gefallen könnte. Das bedeutet doch, daß er glaubt, die Freunde, die er hat, halten nur so lange zu ihm, wie sie seine Musik mögen ... was für eine düstere Weltsicht! Rafa scheint an wirkliche Freundschaft überhaupt nicht glauben zu können.

Tron mailte:

Ich habe Berenice damals gefragt, ob sie Rafa fragen könne wegen der alten Aufnahmen, und er sagte es über mich zu ihr.
Ich denke, dass Berenice glaubt, dass Rafa denkt, dass wir befreundet sind, ich glaube aber eher, dass es eine lose Bekanntschaft ist.

Rikka rief mich Ende Januar von ihrem Arbeitsplatz aus an und berichtete, sie habe Selbstmordgedanken und wisse nicht mehr weiter. Ich bat sie, zum Kaffee vorbeizukommen. Ihre Verfassung sei nicht durch Gespräche allein, sondern nur mit Unterstützung von Medikamenten in den Griff zu bekommen, und die könnten wir dann auch gleich kaufen gehen. Ich meinte, sie könne so lange auf eine stationäre Behandlung verzichten, wie sie noch einen Hoffnungsschmimmer habe.
Rikka kam zu mir und erzählte von Domian. Sie neigt dazu, Domians egozentrisches Verhalten zu entschuldigen, indem sie darauf hinweist, er sei nicht immer so, und er habe auch ganz andere Seiten. Jedenfalls wolle sie ihm nicht mit ihren Selbstmordplänen "auf den Keks gehen".
Rikka berichtete, sie bereite seit Monaten ihren Selbstmord vor. Sie sei damit beschäftigt, ihre Wohnung und ihre persönliche Habe zu ordnen. Sie habe vor, ein Testament zu verfassen. Sie plane, ihre Vögel in gute Hände abzugeben, schaffe es aber nicht, sich von ihnen zu trennen. Sie wisse, daß ihre Mutter sie liebe und sehr traurig wäre, wenn sie sie verlieren würde, doch das versuche sie zu verdrängen. Sie wolle sich umbringen, indem sie sich die Pulsadern aufschneide, doch befürchte sie, daß es ihr nicht gelinge, da sie sich nicht selbst verletzen könne.
Als Grund für ihre Selbstmordpläne gab Rikka an, sie erwarte nichts Gutes mehr vom Leben. Kein Mann, mit dem sie zusammen gewesen sei, habe sie wirklich geliebt und geachtet. Sie glaube nicht, daß ihr der Richtige noch begegnen werde.
Ich bat Rikka, dem Schicksal noch eine Chance zu geben und ihrer Mutter keinen Kummer zu bereiten. Wir gingen Medikamente kaufen, Tavor und Atosil, auf meinen Arztausweis.
Rikka hielt in den folgenden Tagen telefonischen Kontakt mit Constri und mir. Am Montag ging sie, wie ich ihr empfohlen hatte, zu meinem früheren Chef in die Praxis und ließ sich von dessen Assistentin ein Antidepressivum verschreiben.
In der Samstagnacht war ich mit Evelyn in BI. bei einer Fortsetzung der Industrial-Partyreihe "Low Frequency", die ich erstmals im vergangenen Sommer besucht habe, damals im "Entropy". Wörtlich über Nacht wurden diese Parties zur Legende. Sie finden neuerdings im "Manufactura" statt, ein ehemaliges Fabrikgebäude wie das "Entropy" und unweit von diesem. Es gab einen Live-Auftritt von MS Gentur und danach mehrere DJ-Sets. Vier Stunden lang war ich fast ununterbrochen auf der Tanzfläche. Zu den Highlights gehörten "Riotdicator" von Thorofon von der MCD "Final movement", "So what" von Synapscape und "Xfixiation (Hellfire Remix by [:SITD:])" von Tactical Sekt. Bei "Low Frequency" werden die Bassboxen besonders aufgedreht, so daß der Betonboden vibriert.
Viele Gäste hatten die bei Industrial-Parties üblichen aufwendigen Kostüme an. Es gab hoch angesetzte Kunsthaarzöpfe, winzige Manga-Röckchen, Boots mit hohen Brikettsohlen und Schäften mit zwanzig Schnallen zu sehen. Ein Mädchen trug ein ausgestelltes Röckchen, das war aus schwerer roter Plastikfolie gemacht und durchsichtig. Darunter trug das Mädchen ein schwarzes Röckchen. Ein Junge trug ein weites Hemd, das war über und über mit silbernen Ösen verziert. Viele Jungs hatten enge durchsichtige T-Shirts an. Einige trugen Hemden, die waren raffiniert mit Bändern und Plastikschließen gestaltet. Diddo und ihr neuer Freund Davis gingen ganz in Weiß. Diddo hatte sich weiße Plastikbänder in die blondierte Mähne geflochten und trug anstelle eines Haarreifens eine Schweißerbrille mit weißem Rand. Davis trug weiße Plüsch-Boots.
Ivco berichtete in einer E-Mail, er sei neulich samstags im "Zone" gewesen, wo es inzwischen wieder Veranstaltungen gibt. Er berichtete außerdem, daß er Rafa von dem 1. Kapitel meines Online-Romans "Im Netz" erzählt hat, das ich in den Originalzustand zurückversetzen möchte. Ich hatte den Vorschlag gemacht, daß Rafa sich auf einer geheimen URL das Original-Kapitel durchliest und auf der offiziellen URL die jetzige Fassung, und dann könnte er entscheiden, ob er damit einverstanden ist, daß ich die Original-Fassung wieder offiziell mache. Ivco hat Rafa all dieses ausgerichtet. Rafas Reaktion überraschte Ivco:

Ich soll Rafa den Netzverweis zuschicken, was ich denn gleich auch machen werde.
Insgesamt hatte ich erwartet, dass Rafa unwirsch reagieren wird, wenn ich ihm die Sachen von Dir ausrichte. War aber gar nicht so. Er hörte sich alles ruhig an und blieb auch bei seinen Antworten ruhig. Na ja, ist ja auch nichts, worüber man sich aufregen könnte, aber mir stand noch Euer eher heftiger Abschied nach seiner Geburtstagsfeier vor Augen.

Ich mailte:

Die Geschichte "Im Netz" ist im Grunde sowas wie er und sowas wie ich, wie etwas Lebendiges. Ich kann sie nicht löschen, weil das so wäre, als würde ich mich selbst löschen und ihn gleich mit dazu. Dies alles kannst du ihm auch sagen und ihn fragen, ob er z.B. was kommentieren will, das ich dann auch ins Netz stelle. Ich bin sehr dafür, daß er "Im Netz" mitgestaltet, auch wenn er davon gegenwärtig wahrscheinlich nichts wissen will.
Ja, das ist seltsam, daß er so ruhig geblieben ist, nicht? Daß er keine unwilligen Äußerungen von sich gegeben hat ... wer weiß, was in ihm vorging ...

Ivco mailte, er könne nicht zu meiner Geburtstagsfeier kommen, weil seine Familie auf einer Goldenen Hochzeit eingeladen sei. Rafa wolle nicht zu meiner Geburtstagsfeier kommen, weil er schlechte Erinnerungen am meine Geburtstagsfeier im Jahre 1996 habe. Ich mailte:

Rafa hat vielleicht deshalb negative Erinnerungen an meine Party 1996, weil er da versucht hat, meine Freundin Clarice zu verführen, und er hat nach der Party auch versucht, Saara zu verführen. Und es kann sein, daß er sich deshalb schämt und sich daran nicht erinnern will. Ich nehm's ihm nicht übel, daß er nicht zu meiner Party kommen will. Er müßte dafür eine sehr hohe Mauer aus Angst überwinden, und das wird er nicht schaffen.

Rikka erzählte am Telefon, ihr Befinden habe sich insofern gebessert, als sie nicht mehr an Selbstmord denkt, sondern sich um ihre Finanzen kümmert. Mit Domian hatte sie einen unerfreulichen E-Mail-Austausch. Als sie ihm berichtete, ihr gehe es nicht gut, ging er darauf nicht ein, sondern beschwerte sich ausführlich, da sie sich in seinen Augen nicht genügend für seine Probleme interessierte.
Lillien erzählte, daß sie sich in ihrer Patchwork-Familie in der Form, wie sie jetzt besteht, wohl fühlt. Sie lebt mit ihrer Tochter Ada, ihrem Lebensgefährten Emile und dessen achtzehnjährigem Sohn in einem Einfamilienhaus auf dem Dorf. Ihr Vater lebt einige Dörfer weiter in einer Wohnung. Emile hat zwei jugendliche Töchter, eine "erheiratet" und eine mit seiner geschiedenen Frau. Die Mädchen leben beide bei seiner geschiedenen Frau. Das Verhältnis zwischen Emile und den Mädchen ist sehr schlecht, das zu seiner geschiedenen Frau noch schlechter. Die fortbestehenden Spannungen und die Anwaltsbriefe, die seine geschiedene Frau ihm schicken läßt, werfen Schatten auf das häusliche Idyll. Lillien möchte sich die Freude an ihrer Tochter Ada nicht davon trüben lassen. Ada ist schon in der Schule, und sie entwickelt sich gut. Sie geht gerne schwimmen und schwimmt am liebsten unter Wasser. Das Verhältnis zwischen Lillien und ihrem ehemaligen Lebensgefährten - Adas Vater - ist entspannt, und Ada sieht ihren Vater regelmäßig und gerne.
Lillien hat viele Verwandte in Indonesien. Wie durch ein Wunder sind sie allesamt von der Flutwelle verschont geblieben, die am zweiten Weihnachtstag in Südasien wütete.
Lillien glaubt, daß es für Rafa allmählich schwieriger wird, eine Freundin zu finden und auch zu behalten. Rafa habe mit seinen vierunddreißig Jahren nicht das erreicht, was Frauen von einem Mann in seinem Alter erwarten. Er könne keine eigene Wohnung vorweisen und keine abgesicherte Zukunft. Für die ganz jungen Frauen werde er allmählich weniger attraktiv, und die gleichaltrigen werde es abschrecken, daß sie durch die Küche von Rafas Mutter laufen müssen, wenn sie von seinem Schlafzimmer ins Badezimmer gelangen wollen.
"Das macht doch keine auf Dauer mit", vermutete Lillien.
Am Mittwoch war ich im "Zone". Es ist umgebaut worden, aber noch als "Zone" erkennbar. Es gibt immer noch die kostenlose Obstschale, wie früher. Mittwochs finden die Tanzveranstaltungen nicht mehr im großen Saal, sondern in einem Nebenraum statt, der wie ein Burgverlies gestaltet ist. Dort traf ich Barnet und Heloise. Sie haben versucht, Nancy telefonisch zu erreichen, das aber nicht geschafft. Sie hoffen, daß Nancy, die an Chorea Huntington leidet, sich nicht umgebracht hat.
Heloise erinnerte sich an einen Tankstelleninhaber, der auf der Station behandelt wurde, wo sie als Stationsschwester arbeitet. Seine Tankstelle befindet sich am Ortseingang von SHG. Heloise staunte, als sie Rafa und Dolf am Krankenbett des Tankstelleninhabers erblickte.
Denise wurde am 03.02. zwei Jahre alt. Constri hat ihr aus rosa Fleece eine "2" auf einen pastellfarbenen Pullover genäht, und meine Mutter hat für Denise aus demselben rosa Fleece ein Trägerröckchen genäht. Dies beides trug Denise an ihrem Geburtstag.
Zur Feier kamen auch Merle, Elaine und Dereks Halbschwester Delia. Die jetzt achtzehnjährige Delia ist daheim ausgezogen und lebt in einem Zimmer, das zu der Ausbildungsstätte gehört, wo Carl seine Ausbildung zum Kinderpfleger gemacht hat. Delia macht eine Ausbildung zur Erzieherin.
Merle ist erleichtert, weil Elaine die Realschul-Empfehlung bekommen hat. Elaine stehen wesentlich mehr Möglichkeiten offen als Merle, deren Kindheit durch eine Gehirnentzündung und die Trunksucht beider Eltern überschattet war.
Denise ist mit ihren zwei Jahren schon ein Fan - vom Sandmännchen. Sie kann "Sandmann" noch nicht aussprechen und nennt ihn "Hampa". Zum Geburtstag schenkte ich ihr eine flauschige Sandmann-Puppe, die das Lied des Fernseh-Sandmännchens von sich gibt, wenn man sie drückt. Denise schleppte die Sandmann-Puppe begeistert mit sich herum und wollte immer wieder das Lied hören.
Weil Denise rief, sie wolle "rau", machte Derek mit ihr und dem Hund Flex einen kleinen Spaziergang. Als ich im Aufbrechen war und sie draußen traf, hatte Derek Denise auf dem Arm, und das Sandmann-Lied erklang. Ich entdeckte die Sandmann-Puppe, die bei Denise auf Dereks Arm saß.
"Ach, die mußte auch mit", staunte ich.
"Ja, das ist doch klar!" rief Derek.
Abends installierte mein Vater mir Schnüre mit Halogenlämpchen in der Küche und ein blaulila glimmendes Leuchtdioden-Gewirr an der Flurdecke, eine Art Kronleuchter. Ich spielte immer wieder die CD mit dem Gesang der unbeschreiblichen Florence Foster Jenkins ab. Das hielt meinen Vater bei Laune, und es hielt seine Hilfsbereitschaft aufrecht.
Florence Foster Jenkins war eine Millionärsgattin, die davon überzeugt war, singen zu können. Ihr amüsiertes Publikum ließ sie in dem Glauben. Sie trat in selbst organisierten Konzerten auf und bevorzugte Prunk-Kostüme mit großen Engelsflügeln und Blumenkranz im Haar. Eine liebevoll gestaltete Edition mit Opernarien, die sie gesungen (manch einer würde sagen: vergewaltigt) hat, gibt es für 1,99 Euro zu kaufen.
Am Freitag waren Evelyn und ich spätabends in BI. Auf der Station, wo ich bis vor Kurzem gearbeitet habe, trank ich Kaffee mit Evelyn, der Nachtschwester und dem Kollegen Marlin, der gerade Nachtdienst hatte. Ich erzählte von meinem nächsten Arbeitsplatz, wo es hoffentlich ruhiger und patientenorientierter zugeht als an dem bisherigen.
Ich verteilte Schoko-Bonbons auf dem Kaffeetisch und berichtete, daß ich mit meiner Domain ein gutes Stück weitergekommen bin.
"Komme ich auch drin vor?" erkundigte sich Marlin.
"Wer vorkommen will, kommt auch darin vor", erzählte ich. "Auch so kommen schon mehrere hundert Personen darin vor. Inzwischen bin ich chronologisch im Jahre 2002, also bist du noch nicht dran."
"Dann bin ich auch noch nicht dran", wußte Evelyn.
Evelyn findet Marlin "lecker" und bedauert, daß sie ihre Ausbildung zur Arzthelferin nicht abgeschlossen hat. Sie arbeitet als Angelernte und verdient nur so viel, daß es mit Mühe zum Leben reicht. Allmählich kümmert sie sich darum, doch noch eine Ausbildung abzuschließen.
Evelyn und ich gingen tanzen im "Roundhouse", das wenige Straßen von dem Krankenhaus entfernt liegt. Ein Highlight war "Der Trieb zu fressen" von BOOB. Es gab auch Musik zu hören, die man lästerlich als "neudeutschen Gruftikitsch" bezeichnen könnte. Die Texte greifen Formulierungen aus klassischer Lyrik auf und bauen sie in moderne Muster ein. Ich finde die Ergebnisse teilweise so kitschig und schrill, daß sie mir schon wieder gefallen. In "Ohne dich" von Rammstein klagt der Sänger mit samtener Stimme:
"Weh mir! Oh Weh!"
... oder er seufzt:
"Das Atmen fällt mir ach so schwer ..."
Evelyn ist verliebt. Ihren Schwarm sah sie häufig im "Zone". Sie traute sich aber nie, ihn kennenzulernen. Bei "Low Frequency" wollte sie ihn endlich ansprechen, traute sich aber wieder nicht. Sie hoffte nun, ihn heute im "Roundhouse" zu sehen, er war aber nicht da.
Ivco mailte, er sei im "Only One" gewesen, obwohl er eigentlich zum DVD-Abend bei Rafa eingeladen war, doch er habe sich nicht danach gefühlt. Es sei wohl ganz lustig gewesen bei Rafa, "vielleicht auch deshalb, weil ich nicht gestört habe, keine Ahnung".
Ich mailte:

Warum meinst du, daß du bei Rafas DVD-Abend gestört hättest?

Ivco mailte:

Ach, ist so eine Vermutung von mir. Den einen Abend im "Zone" war ich auch mit den Leuten dort und kam mir so überflüssig und lästig wie noch nie vor. Das hat sich dann, wenn auch im kleineren Maßstab, ein anderes Mal wiederholt, und bevor mir das bei dem DVD-Abend wieder so ergeht, bin ich lieber gar nicht erst hingegangen.

Über Das P. mailte Ivco:

Im Februar sollte in HF. im "Limited" ein Konzert stattfinden. Das geht aus zwei Gründen nicht mehr: Einmal ist dort eine Decke eingebrochen (lt. Rafa), dann haben er und Darius sich zerstritten. So, wie Rafa das erzählte, hat es sich wohl erledigt - zumindest vorerst mit Konzerten.

Auf meiner Geburtstagsparty am Samstag machte Carl den schrillsten Spruch des Abends. Denise hatte ihre Sandmann-Puppe zur Party mitgebracht. Carl betrachtete die Puppe und fragte:
"Wie war das nochmal, streut der Sandmann Asche? Oder Sand? Ich weiß das echt nicht mehr."
Das Besondere an diesem Spruch war, daß Carl wirklich glaubte, der Sandmann würde Asche streuen wie ein Beerdigungsunternehmer auf einem holländischen Friedhof.
"Dabei heißt der doch schon 'Sandmann'", bemerkte Constri. "Der heißt doch nicht 'Aschemann'."
Tron hatte Spätschicht. Er rief mich nach Mitternacht an und erzählte von seiner Arbeit. Zur Zeit hat er einen Chef, den er seit Jahren kennt und den er bisher für nett, ehrlich und verläßlich gehalten hatte. Vor Kurzem bekam er ihn als Vorgesetzten, und da erst lernte er dessen wahres Gesicht kennen. Der Chef soll ein Heuchler sein, falsch und verlogen.
Tron arbeitet in einer Firma, die Steuerungen für Kraftfahrzeuge herstellt. Tron ist dort als "Mädchen für alles" abteilungsübergreifend eingesetzt. Durch seine Tätigkeit fühlt er sich isoliert; er hätte lieber Kollegen um sich, die dieselbe Arbeit verrichten wie er.
Henk hat seine Stelle gekündigt. Er arbeitete bisher in einem Filialunternehmen und war vom Stadtrand in die Innenstadt versetzt worden. Von der dortigen Chefin fühlte er sich herumgestoßen und ausgebeutet.
Am Mittwoch träumte ich Folgendes:

Ich war im "Read Only Memory", wo Rafa ein Konzert geben wollte. Die Bühne war völlig leer, nichts war dort aufgebaut, es gab nur die "Bretter, die die Welt bedeuten". Die Rückwand der Bühne bildete ein schwarzer Vorhang. Ich lief auf der Bühne herum. Der Vorhang war etwas durchscheinend, und ich sah dahinter einige Leute, konnte aber nicht erkennen, ob Rafa unter ihnen war.
Als das Konzert beginnen sollte, stieg ich von der Bühne und stellte mich vorne ins Publikum. Rafa und Dolf kamen auf die Bühne mit Mikrophonen, sonst war die Bühne noch immer leer. Im Laufe des Konzerts wich das Publikum immer mehr zurück, und immer mehr Menschen verließen den Saal. Nur vorne, unmittelbar vor der Bühne, standen noch einige wenige, auch ich. Wir standen in einer Reihe. Bei uns war Irith, eines der Mädchen mit den Rosenkränzen, die ich in der "Spieluhr" getroffen habe und die ich auch aus dem W.E-Forum kenne. Wir unterhielten uns alle miteinander. Währenddessen verwandelte sich die Umgebung; wir waren nun nicht mehr im "Read Only Memory", sondern in Rafas Kellerraum. Die Bühne war ebenfalls in Rafas Kellerraum. Dieser Raum war aber nicht mehr im Keller, sondern einige Stockwerke höher. Eine Wand öffnete sich in eine verglaste Veranda. Rafa hatte mehrere Leute zu Gast, von denen ich einige kannte. Ich entdeckte einen Zeichenblock, der mir gehörte, darin lagen mehrere Zeichungen von mir. Es waren einfache Skizzen, mit viel Schwarz und Grau und wenig Farbe. Ich hatte Personen gezeichnet.
Unlängst hatte ich Rafa von einem Mann mit schwarzer Jacke und schwarzem Kragen erzählt. Rafa entdeckte diesen Mann auf einer meiner Zeichungen.
"Jetzt weiß ich wieder, wen du gemeint hast mit dem Typen mit der schwarzen Jacke", sagte Rafa zu mir.
Während ich mir die Zeichnungen anschaute, sah ich daneben einen DIN A 4-Zettel liegen, auf den Rafa in sehr ungelenken Buchstaben und Zahlen aufgeschrieben hatte, wann wer bei ihm zu Gast gewesen war. Er listete die Daten chronologisch von unten nach oben auf. Einige Namen kürzte er ab und schrieb nur die Initialen. Neben einem Datum, wo ich bei ihm gewesen war, stand "H.L." in recht großen Buchstaben. Ich fand auch einen DIN A 4-Zettel, auf dem ich mir Notizen gemacht hatte, und ich wunderte mich über die im Verhältnis zu Rafas Notizen sehr ordentliche und sauber angeordnete Schrift.
Rafa unterhielt sich mit den Herren, die bei ihm zu Gast waren. Einer fragte:
"Kommt Ricco auch nachher noch?"
"Ricco ist beim Dealer", gab Rafa Auskunft.
"Ach so."
Ich war nicht sicher, ob es sich um einen Drogendealer handelte. Ebensogut konnte jemand gemeint sein, der Computerzubehör verkaufte und nur scherzhaft "Dealer" genannt wurde. Rafa mag provokante Ausdrücke.

Am Freitag war ich bei Reesli, der in BS. einen neuen Job hat und dort auch hingezogen ist. Er stellte seinen Gästen Hasi vor, einen Plüschhasen. Und er erzählte Hasis Geschichte: Mit sechzehn Jahren habe er sich zu alt gefühlt für Stofftiere, und er habe sie alle in die Mülltonne geworfen, auch Hasi. In der Nacht habe er um seinen Hasi geweint und sei am Morgen zur Tonne gegangen, um ihn zurückzuholen, da war die Tonne aber schon geleert worden. Achtzehn Jahre lang trauerte Reesli um seinen Hasi. Dann schließlich fand er ihn auf dem Dachboden seiner Großmutter wieder, ebenso seine anderen Stofftiere. Es stellte sich heraus, daß seine Schwester und eine ihrer Freundinnen beobachtet hatten, daß er die Stofftiere wegwarf, und sie hatten sie noch am selben Abend aus der Tonne geholt und aufbewahrt. Weshalb sie Reesli nichts davon sagten, ist ungewiß; es könnte sein, daß Reesli nicht über seine Trauer um Hasi redete und sie deshalb nicht ahnten, daß er das Plüschtier vermißte.
Unter den Gästen war ein Mädchen, das auf Lehramt studiert und von der eigenen Schulzeit erzählte. Einmal soll der Lehrer die Klasse mit den Chemikalien im Chemieraum alleingelassen haben und darum gebeten haben, daß die Schüler einige Substanzen mischten. Als er zurückkam und die Schüler ihm erzählten, welche Pulver sie miteinander vermischt hatten, wurde die Schule evakuiert, ein Bombenräumkommando wurde bestellt, und die Mischung wurde in einem Sicherheitsbehälter wegtransportiert.
Ein Mädchen erzählte von einem Alkoholiker namens Jamie. Einmal soll Jamie frühmorgens aus dem "Radiostern" getorkelt sein und sich notdürftig die Jacke zugehalten haben. Auf dem Vorplatz rutschte ihm eine Klorolle unter der Jacke hervor, so daß alle Umstehenden es mitbekamen. Ein Ende des Toilettenpapiers klemmte unter Jamies Jacke fest, und die Rolle rollte mit Schwung über das Pflaster und ließ eine lang und länger werdende Bahn hinter sich zurück.
Reeslis Nachbar erzählte, eines Vormittags sei Jamie bei ihm erschienen mit einem Zehner-Träger - genannt "Conti" - in der Hand und habe erzählt, seine Freundin meine, er trinke zuviel. Zeitgleich habe Jamie zwei Bierflaschen aus dem Conti genommen und leergetrunken.
Am Samstagmorgen fuhren Constri und ich zu Ted nach Ht. Nach einem ausgedehnten Frühstück zogen wir los, um Fotos und Filmaufnahmen von Industrieruinen zu machen. Wir nahmen an einer Führung durch die Zeche Zollverein teil, deren Route etwas anders verlief als 2003. Wir hatten bisher nicht gewußt, daß man in dem Gebäude um Schacht 12 standesamtlich heiraten kann. Mitten in diesem Gebäude steht ein Tisch, der einem nicht auffallen würde, wenn einem nicht gesagt würde, daß dort Trauungen stattfinden.
Ted erzählte von der Sprengung der Hütte von Ht. Das höchste Gebäude, wo sich die Thomasbirne befand, wurde vor Kurzem gesprengt. Viele Schaulustige, Filmer und Fotografen versammelten sich. Ted stieg auf einen Betonsockel, von dem er eine gute Sicht hatte. Das gefiel einigen Fotografen nicht, die selbst dort hinwollten. Ted ging noch weiter nach vorne und kletterte auf eine Stahltreppe. Kinder gesellten sich zu ihm. Ein Polizist wurde von einem Fotografen angesprochen, dem Ted im Bild stand. Der Polizist meinte, irgendwo müsse eine Grenze sein, so weit nach vorn dürfe man nicht, schließlich müsse das Gelände abgesperrt sein. Ted sagte mit freundlicher Miene:
"Dann schlage ich vor, die Grenze ist hier bei den Stufen, und ich passe auf, daß keiner drüber hinausgeht, und ich passe auch auf diese Kinder auf."
"Ach, das würden Sie tun?" ließ der Polizist sich einwickeln. "Das ist aber nett."
Durch seinen Schachzug hatte Ted nicht nur erreicht, daß er weiter auf den Stufen bleiben durfte, er hatte auch erreicht, daß sich ihm keiner ins Bild stellen konnte.
"Siehst du, wie du die Leute manipulierst?" spielte ich auf Cyans Äußerungen bei Teds Geburtstagsfeier an. "Wenn ich an deine neue Maschine denke ..."
"Ja, die habe ich jetzt!" freute sich Ted. "35.000 Euro ... Weil ich meiner Bank gesagt habe, daß ich doof bin und daß ich nur Schulden mache, haben sie mir 35.000 Euro geliehen!"
Cyan hatte Ted vorgeworfen, daß er seine Firma auf einem Schuldenberg betreibe und der Bank Kreditwürdigkeit vorgaukle. Ted vermutet, daß Cyan wütend ist, weil Ted das Verhältnis mit ihm beendet hat, und daß er sich durch seine Unterstellungen an Ted rächen will.



Um Mitternacht fuhr ich nach SHG. zum "Keller", wo Rafa bei einer Tanzveranstaltung auflegte. Der "Keller" befindet sich in der Altstadt von SHG. in einem Gewölbekeller und ist als Ritterstübchen eingerichtet. Es soll der älteste erhaltene Gewölbekeller der Stadt sein, aus dem Jahr 1588. Der "Keller" hat eine Homepage, die von Rafa gestaltet wurde. Er signierte sie mit einer gezeichneten Fliege, seinem traditionellen Symbol.
In dem Film "Nosferatu" von Murnau gibt es eine Szene, in der eine Fliege von einer Venusfalle gefangen und ausgesaugt wird. Mich erinnert dies sowohl an Rafas Vorliebe für Vampirgeschichten als auch an das Coverbild seines ersten Feindsender-Tapes, auf dem man eine Venusfalle sieht, die eine Fliege verzehrt. Es kann sein, daß Rafa durch den Film zu dem "Venusfalle"-Motiv inspiriert wurde.
Rafa hat mir einmal vorgeworfen, ich würde ihn aussaugen. Er vergleicht sich selbst mit einer Fliege. Vielleicht vergleicht er mich mit einer Venusfalle.
Das DJ-Pult im "Keller" befindet sich in dem Gelaß, wo früher die Kohlen hineingeschüttet wurden. Zum Publikum hin war es mit einem Stück Gitterzaun zusätzlich abgetrennt. Rechts und links war der Gewölbekeller von Bänken gesäumt, auf denen Polster lagen. Am Rand der Tanzfläche standen Tischchen.
Als ich hereinkam, begann ein Lieblingslied von mir, "Pride" von U2, und ich ging sogleich auf die Tanzfläche. Ein kurzer Blick zu Rafa hinüber traf sein lächelndes Gesicht.
Links vom DJ-Pult hatte Tyra sich in einem Eckchen niedergelassen. Sie wirkte seltsam abwesend. Ich beobachtete kurz darauf ein heftiges Wortgefecht zwischen Tyra und Rafa. Tyra wirkte aufgelöst und außer sich. Rafa zeigte durch Mimik und Gestik:
"Da kann ich ja nichts für. Das ist nicht meine Schuld, das ist nicht meine Sache."
Tyra war sichtlich verletzt und vor den Kopf gestoßen. Rafa wies alle Verantwortung von sich.
Rafa mußte sich schon oft Vorhaltungen von Mädchen anhören, die er betrogen, belogen und verletzt hat. Grundsätzlich läßt er diese Vorhaltungen an sich abprallen und übernimmt keinerlei Verantwortung für sein Verhalten, geschweige daß er etwas daran ändert. Er beteuert nur, er könne für sein Verhalten nichts, außerdem sei es nicht seine Angelegenheit, wie es anderen Menschen geht.
Tyra gab es schließlich auf, bei Rafa nach Schuldbewußtsein oder Reue zu suchen. Sie verließ das Eckchen mit Tränen in den Augen und setzte sich nahebei auf die Bank.
"Wieder hat er eine fertiggemacht", ging mir durch den Sinn. "Wieder quält Rafa einen Menschen, indem er ihn erst an sich bindet und dann fallenläßt. Hoffentlich kann ihm eines Tages jemand einen Strich durch die Rechnung machen."
Ich winkte Tyra zu, sie lächelte, aber reden konnte sie nicht. Ivco und einige Mädchen gesellten sich abwechselnd zu ihr und kümmerten sich um sie.
Wenn Rafa sich außerhalb der Kohlenschütte aufhielt, dann meistens in der Mitte der rechten Bank, wo Darienne saß. Auch Herr Lehmann, Irith, Anwar und ich hielten uns meistens dort auf. Lange Zeit ließ Rafa sich von einem anderen DJ vertreten, saß dicht neben Darienne, die links neben mir saß, und redete auf sie ein, was sie mit sparsamer Miene zur Kenntnis nahm. Sie hatte sich heute feingemacht mit einem gepunkteten Rüschenträgerkleidchen in Rosa und Schwarz.
Ich trug die schwarze Samtcorsage mit Spitzenbesatz und das passende Halsband, das mit der gleichen Spitze besetzt ist. Dazu hatte ich lange Handschuhe an und den langen weiten Tüllrock, alles in Schwarz. Zum Ausgehen binde ich mir jetzt immer die Haare hinten zusammen und stecke das Haarteil mit den Fransen und den Kordelzöpfchen hinein, das meine Haarfarbe hat. Verziert wird es zusätzlich mit Organzastreifen.
Über Dariennes Körper hinweg kam Rafa mir manchmal erstaunlich nahe. Herr Lehmann setzte sich rechts neben mich und bat:
"Lausch' doch nicht immer dem Gespräch von Rafa und Darienne. Das macht man nicht. Dreh' dich doch mal zu mir."
"Es ist nicht so, daß es an dir nichts zu gucken gäbe", meinte ich. "Aber das mit Rafa und mir ist ein eigenes Ding, etwas, das in keine Schublade paßt."
Mir fiel auf, daß Rafas Hosenstall nicht richtig geschlossen war. Rafa steht bei Konzerten häufig mit offenem Hosenstall auf der Bühne, auch Ende Dezember im "Plaste & Elaste" ist das aufgefallen. Vielleicht handelt es sich um Imponiergehabe, wie es bei Affen vorkommt, die ihr Geschlechtsteil präsentieren, um Rivalen abzuschrecken.
Rafa ging häufig so dicht an mir vorbei, daß ich ihn streicheln konnte, seinen Arm, sein Bein, auch über Rücken und Brust. Rafa ging zweimal hintereinander über die Tanzfläche, während ich tanzte, und ging auch dabei so dicht an mir vorbei, daß ich ihn streicheln konnte. Rafa kann genau berechnen, ob und wann ihn jemand anfassen kann, vor allem wenn er jemanden beobachtet.
Während Rafa am DJ-Pult stand, schaute er öfters zu mir herüber und lächelte verstohlen. Er hatte keine Brille auf, die ganze Nacht nicht. Ich saß auf der Bank, höchstens anderthalb Meter von ihm entfernt, und konnte beurteilen, daß er mich ansah und nicht die Wand hinter mir. Einmal strahlte Rafa mich geradewegs an, und ziemlich ausdauernd. Er hob seinen Bierhumpen und trank hastig, mehrere große Schlucke hintereinander. Dann lächelte er mir wieder zu, und als ich lächelte und lachte, nahm er wieder den Bierhumpen mit einer Geste wie "Moment mal, jetzt aber richtig!" und trank noch mehr sehr große Schlucke hintereinander. Er schüttete das Bier regelrecht in sich hinein. Als ich wieder lächelte und lachte, machte er noch einmal eine Geste wie "Moment mal, jetzt aber richtig!", nahm wieder den Bierhumpen, schüttete wieder viele Schlucke hastig in sich hinein, und das wiederholte sich noch zweimal. Dann zog Rafa demonstrativ an seiner Zigarette - er rauchte heute ununterbrochen - und lächelte mir noch einmal zu.
Durchs Mikrophon sagte Rafa, er spiele jetzt das, wonach ihm zumute sei. Er spielte "Massaker" von Tommi Stumpff, in dem andauernd die Wörter "Blut ... Gehirn ... Massaker" wiederholt werden.
Als ich meinen Platz auf der Bank kurz verlassen hatte und wieder zurückkehrte, saß Rafa auf meinem Platz.
"Na schön", dachte ich, "wenn er da sitzt, wo ich vorher war, verbietet mir niemand und nichts, mich wieder da auf die Bank zu setzen."
Rafa hatte sich eine schwarze Lederjacke über sein Spinnweb-T-Shirt gezogen und befand sich weiter im Gespräch mit Darienne, wobei dieses Gespräch nach wie vor eher den Charakter eines Monologs hatte. Ich setzte mich vorsichtig zwischen Rafa und Herrn Lehmann und achtete darauf, daß Rafa mich nicht zu früh bemerkte. Ich hatte ein Gefühl, für das es keinen sachlichen, verstandesmäßigen Grund gibt, keine sinnvolle Erklärung. Dieses Gefühl habe ich immer, wenn Rafa in meiner Nähe ist, unabhängig von seinem Verhalten. Es ist, als würde ich von einer unerklärlichen Kraft durchflutet. Es ist ein Gefühl der Unverletzbarkeit, einer tief verankerten Sicherheit. Ich konnte nichts dagegen tun, daß ich lächelte.
Als Rafa schließlich aufstand, stolperte er beinahe über mich. Ich umschloß seine Beine und sagte:
"Ist schon gut."
Er hatte es eilig, weiterzukommen. Kurz darauf kam er wieder in die Nähe und redete an einem Tischchen mit Anwar und Herrn Lehmann. Unvermittelt ging Rafa auf mich zu, entblößte sein Hinterteil und hielt es mir hin, zog seine Hose aber gleich wieder hoch. Ich sprang auf, legte meine Hände um Rafas Schultern und bemerkte:
"Oh, du ziehst dich für mich aus! Das ist ja schön!"
Rafa suchte das Weite und ging ans DJ-Pult zurück.
Während ich zu "TV treated" von Neon Judgement tanzte, setzte Rafa sich dicht hinter mich auf die Bank, neben Darienne. Er redete auf sie ein, während sie ergeben lauschte, Silben piepste oder Ein-Wort-Sätze von sich gab. Als ich Rafas Revers das erste Mal beim Tanzen streifte, guckte er noch irritiert, dann aber, als er erkannt hatte, wer ich war, nahm er mit einer "Ach so, ach so ..."-Mimik zur Kenntnis, daß meine Hand immer wieder über sein Revers strich, je nachdem, wie ich mich gerade bewegte. Als das Stück zuende war, ging Rafa wieder zum DJ-Pult und so dicht an mir vorbei, daß ich über seine Hüfte streichen konnte.
Durchs Mikrophon kündigte Rafa an:
"So, jetzt kommt eine Scheibe, die mal wieder keine Sau kennt."
"Bist du dir sicher?" fragte ich durchs Gitter.
Rafa spielte "Komm', wir lassen uns erschießen".
"Ich kenne sie!" rief ich.
"O.k.", sagte Rafa.
Als Rafa sein Stück "Starfighter F-104G" spielte, war die Tanzfläche voll. Ich saß auf der Bank und schaute Rafa durch das Gitter freundlich an. Es gibt kaum ein Stück von Rafa, zu dem ich tanze.
Anwar fragte mich, ob ich wegen Rafa auf dieser Party sei. Ich entgegnete, Ivco habe mir diese Veranstaltung empfohlen.
"Wünsch' dir doch mal was von Rafa", schlug Anwar vor. "Auch wenn ihr vielleicht nie ... auch wenn du vielleicht doch und doch vielleicht nie ... aber du weißt vielleicht besser, was ich gerne hören will."
"Natürlich hat es auch mit Rafa zu tun, daß ich hier bin. Zur Zeit läuft er ja wieder vor mir davon. Ich denke, wenn ich mir was von ihm wünschen will, läuft er auch wieder vor mir davon."
Anwar wünschte sich selbst einen Musiktitel von Rafa.
Ivco erzählte, der Streit zwischen Rafa und Darius sei nach Rafas Aussage folgendermaßen entstanden: Darius habe sich für Das P. recht wenig engagiert, auch was die organisatorische und die juristische Seite betreffe. Als Rafa Darius gebeten habe, einzelne Titel bei der GEMA zu sichern, habe Darius dieses versprochen, es aber nicht getan. Hingegen habe Darius Rafa vorgeworfen, ihm gehe es nur ums eigene Geld und die eigenen Einnahmen.
Der schmale Vorraum zum Gewölbekeller ist zugleich der Schankraum. An der Theke sprach mich ein Stammgast des "Kellers" an, der mich aus dem "Zone" kennt. Sein Rufname ist Highscore. Er erinnerte sich, im "Zone" hätte ich immer Ballkleider angehabt. Er fragte, ob ich mal Ballett gemacht habe. Das bestätigte ich. Highscore meinte, er sei erst nicht sicher gewesen, ob ich es wirklich sei, aber jetzt wisse er es.
"Schön, jetzt kannst du ihn vernaschen", sagte ein Bekannter von Highscore zu mir.
Highscore meinte, er würde gerne mal wieder ins "Zone" gehen. Er freute sich, weil es dort jetzt wieder Veranstaltungen gibt.
Als ich von meinem Beruf erzählte, meinte Highscore, danach würde ich gar nicht aussehen. Ich schilderte, unter welchen Bedingungen meine Kollegen und ich teilweise arbeiten müssen und wie schwer es ist, sich in dem Beruf auf Dauer sozial abzusichern.
Highscore erzählte, daß er seit zwanzig Jahren in derselben Firma arbeitet. Die Firma stellt Autositze her. Highscore versteht sich gut mit den Kollegen und genießt das Gleichmaß in seinem Berufsleben.
Highscore erkundigte sich, weshalb ich ausgerechnet das Fachgebiet Psychiatrie gewählt habe. Ich erklärte, daß ich dieses Fach interessanter finde als alle anderen. Eintönigkeit könne ich nicht ertragen, und in der Psychiatrie gebe es immer wieder neue Geschichten und Erfahrungen. Highscore ist mit Fließbandarbeit durchaus zufrieden. Er könne dabei über vieles nachdenken und langweile sich nicht. Ich meinte, Fließbandarbeit sei für mich eine Katastrophe, weil mir dabei die geistige Anregung fehle.
Wir unterhielten uns über das Rauchen. Highscore erzählte, er habe mal für acht Monate das Rauchen aufgegeben, doch eine einzige Zigarette habe genügt, um den Rückfall herbeizuführen. Ich erzählte, daß ich Rafa gerne das Rauchen abgewöhnen würde, aber nicht viel Hoffnung sehe. Viele der Erkrankungen, die zu vorzeitigem Siechtum und Tod führten, stünden mit dem Rauchen im Zusammenhang. Umso wichtiger sei mir, daß Rafa das Rauchen aufgibt.
Ich kam auf das "Black Rose" zu sprechen, eine Discothek, die es in den achtziger Jahren in SHG. gegeben hat. Highscore fragte, woher ich das "Black Rose" kenne.
"Ich war nie da", antwortete ich, "aber Rafa hat mir davon erzählt."
"Der hat da aufgelegt, 1987 schon."
"Da war der gerade mal sechzehn."
"Ja, damals hat der da schon aufgelegt. Ich finde es irre, daß es in einer Kleinstadt wie SHG. so einen Laden gegeben hat."
Gegen Morgen liefen mehr Titel, zu denen ich tanzte, darunter "Decay" von Twice a man, "Verschwende deine Jugend" von DAF, "Going round" von Xymox, "Love missile" von Sigue Sigue Sputnik, "Es geht voran" von Fehlfarben, "Accidents in Paradise" von den Informatics, "Painful lovesong" von Psyche, "Grim reality" von Apoptygma Berzerk und "49 second romance" von P1E. Auch Ivco war viel auf der Tanzfläche.
Tyra schien sich nach einem längeren Gespräch mit Ivco etwas erholt zu haben. Sie kam ebenfalls auf die Tanzfläche. Schließlich setzte sie sich zu mir auf die Bank. Ich fragte sie, wie es ihr ging.
"Du fragst eine Frau mit gebrochenem Herzen", erwiderte Tyra.
"Mein Herz kann man nicht zerbrechen", sagte ich. "Man kriegt das nicht kaputt."
"Ja, das bewundere ich auch so an dir."
Rafa war es wichtig, daß Ivco möglichst lange blieb.
"Er bleibt!" rief er jedesmal durchs Gitter, wenn Ivco sich anschickte, heimzugehen.
Er spielte ein Stück nach dem anderen, von dem er wußte, daß Ivco es mag.
"Das ist unfair!" rief Ivco, wenn wieder ein solches Stück begann.
Er tanzte aber mit Begeisterung dazu.
Als sich die Veranstaltung ihrem Ende näherte, sagte Rafa durchs Mikrophon:
"So, jetzt wird's langsam Zeit, daß alle nach Hause gehen. Ich freue mich über einen unglaublichen Abend."
Ivco und ich gehörten zu den letzten Gästen, die den "Keller" verließen. Ich konnte kein Mädchen entdecken, das sich an Rafa hielt und signalisierte, daß es mit ihm nach Hause gehen werde.
Ivco und Rafa verabschiedeten sich. Als ich Rafa zulächelte, schaute er weg. Tyra verabschiedete sich nicht von Rafa. Sie folgte Ivco und mir. Wir stiegen alle drei in mein Auto und fuhren zu Ivco. In der Küche machte Ivco Frühstück. Wir saßen auf Barhockern an dem hohen, langgezogenen Tisch und tranken Kaffee mit aufgeschäumter Milch. Das Gespräch drehte sich um Gott und die Welt, nur nicht um Rafa. Mittelbar ging es aber schließlich doch wieder um ihn. Wir redeten über Gefühle und die Bereitschaft, Gefühle zuzulassen. Ivco meinte, es sei durchaus möglich, Gefühle zu verdrängen. Doch frage er sich immer wieder, ob das wirklich möglich sei oder nur scheinbar.
Wir unterhielten uns auch über Träume.

Ivco erzählte, im Kindergartenalter habe er immer wieder geträumt, er würde in die Tiefe fallen, immer weiter und immer weiter, und er habe dabei panische Angst gehabt.

Den Träumen habe er jedoch nie eine ernsthafte Bedeutung zugemessen; das tue er bis heute nicht. Tyra und ich waren ganz anderer Meinung.
"Manchmal kann ich Träume nicht deuten", erzählte Tyra. "Mir hilft es, wenn andere ihre Meinung dazu sagen."
"Das hilft sicher", meinte ich, "aber eigentlich ist man selber der beste Traumdeuter, weil man die emotionale Stimmung am besten nachzeichnen kann, die den Traum beherrscht hat. Und die ist der Schlüssel zu der Deutung des Traums."
Wir erzählten uns mehrere Träume. Ich erzählte einen Alptraum, den ich mit fünfzehn Jahren hatte:

Es war Nacht. Ich ging mitten auf einer kleinen, leicht abschüssigen Straße. Immer mehr Lichter waren verlöscht, erst in den Wohnungen, dann in den Schaufenstern; schließlich brannte kaum noch eine Straßenlaterne. Die Gefährten, mit denen ich unterwegs gewesen war, hatten sich in alle Richtungen verstreut, bis keiner mehr übrigblieb. Ich wollte nachsehen, ob die Uhr an der Apotheke noch ging. Aus dem Dunkel unter dem Vordach trat im Nebel der schwarze Mann heraus. Er ähnelte den etwas grobschlächtigen Gestalten aus der Wohnsiedlung, doch ich wußte, er war keiner von ihnen, sondern der schwarze Mann.
"Na, so geht's ja wohl nicht!" maßregelte der schwarze Mann und lief hinter mir her. "So geht's ja wohl nicht!"
Im Hof des angrenzenden Geschäftshauses wußte ich:
"Solange du nicht aufwachst, ist keine Rettung."
Da trat ich auf den schwarzen Mann zu, schüttelte ihm die Hand und verwirrte ihn, indem ich sagte:
"Es ist wunderbar, daß Sie gekommen sind, Herr Bürgermeister! Wir haben Sie als Ehrengast in unserem Kongreß erwartet, im Namen unserer Firma. Ihre Rede wird ein glorreicher Erfolg, auch für unseren Namen. Schauen Sie sich den Betrieb an! Lohnte es sich nicht auch für Sie, unser Mitarbeiter zu sein?"
Da ich zu müde war zum Weiterreden, breitete ich wie in einer Präsentation den von mir soeben erfundenen Betrieb mit seiner verästelten Struktur vor dem schwarzen Mann aus, eine leuchtende Fabrik mit vielen Mitarbeitern und Maschinen.
Damit hatte ich mir genug Unsinn ausgedacht, um den schwarzen Mann aus dem Konzept zu bringen und den Alptraum zu beenden. Ich wachte auf.

Fünfzehn Jahre nach diesem Traum verwirrte ich auf ganz ähnliche Weise einen Verfolger, als ich frühmorgens allein auf menschenleeren Straßen unterwegs war. Ich brachte ihn aus dem Konzept und bekam dadurch den notwendigen Vorsprung für die Flucht. Die Erinnerung an den Traum ist für mich stets greifbar, und sie verhalf mir zu der rettenden Idee.
Die Idee, die ich damals in dem Traum hatte, hat ihren Ursprung in einer wahren Begebenheit, von der meine Mutter mir erzählt hat und die mich tief beeindruckte: Eine Theatertruppe spielte Mitte der dreißiger Jahre ein regimekritisches Stück, als die NS-Schergen den Saal stürmten. Der Hauptdarsteller, mitten in seiner Rolle, verwirrte die Schergen, indem er wie in Trance von der Bühne stieg, den Schergen einzeln zum Abschied die Hand gab und sich davonmachte.
Träume, in denen ich mit finsteren Gestalten fertigwerde, sind für mich trotz des Horror-Szenarios positive Erlebnisse. Tyra sah das anders.
"Warum muß immer alles schwarz sein?" kommentierte sie den Traum vom schwarzen Mann. "Das ist ja tiefschwarz."
Ich erzählte von der Zeit, als ich zwanzig war und meine Mutter mich aus dem Haus warf. Damals träumte ich oft, ich sollte hingerichtet werden.
"Ou, sowas von tiefschwarz", sagte Tyra.

Ich ergänzte, daß ich in jener Zeit auch einen Traum hatte, in dem ich mich köpfen ließ, um jemandem einen Gefallen tun zu können. Danach setzte ich meinen Kopf wieder auf, und es war, als sei nichts gewesen.

Tyra fand diesen Traum nicht hoffnungsvoll, sondern genauso "tiefschwarz". In gewisser Weise stimmte ich dem zu, denn das Thema war und blieb ein düsteres, trotz des guten Ausgangs.
Ähnlich verhielt es sich mit dem Traum, den ich mit elf Jahren hatte und in dem ich totgesagt wurde, obwohl ich lebte. Der Traum hatte ein hoffnungsvolles Ende, denn ich konnte mich selbst ins Leben zurückbringen, indem ich stapelweise Papier vollschrieb. Das Grundthema war aber düster, "tiefschwarz".
Tyra vermutete, der Traum mit den Papierstapeln sei ein Grund, weshalb ich so viele Geschichten schreibe.
"Das hat auf jeden Fall damit zu tun", bestätigte ich.
Ich erzählte noch mehr Träume, in denen mein Leben in Gefahr war und ich mich selbst retten konnte.
"Daß du noch so fröhlich sein kannst, wenn du so dunkle Erlebnisse erzählst", wunderte sich Tyra.
Ich meinte, das habe damit zu tun, daß ich die Erlebnisse aus einer gewissen Distanz betrachte.
Tyra erzählte, sie habe im Alter zwischen elf und vierzehn Jahren immer den gleichen Traum gehabt:

Sie lebte in einer Wolkenwelt, zu der sie mit einem Pegasus hinaufgeflogen war. Dort oben lebten Pilzmenschen in kleinen Häuschen. Es waren Menschen, die aussahen wie Pilze. Um diese Pilzmenschen kümmerte sich Tyra. Dann flog sie mit dem Pegasus wieder zur Erde hinab auf eine Wiese und verabschiedete sich von dem Pegasus. Während sie über die Wiese ging, kamen ihr die Eltern und die Schwester entgegen. Sie freuten sich, Tyra wiederzuhaben.
"So, Lani, jetzt bist du dran", sagte Tyra zu ihrer Schwester. "Jetzt kümmere du dich um die Pilzmenschen. Gehe du zu dem Pegasus und mache das, was ich eben gemacht habe."
Einerseits freute sich Tyra, die Familie wiederzusehen, andererseits trauerte sie ihrer Aufgabe bei den Pilzmenschen nach.

Tyra ergänzte, sie habe zur Zeit sehr lebhafte Träume. Sie handelten hauptsächlich von privaten Ereignissen, die sie sehr beschäftigten.
Ich meinte, zum Deuten der Träume sei es hilfreich, sie aufzuschreiben. Tyra macht das häufig. Wir haben beide festgestellt, daß sich durch das Aufschreiben die Gedanken ordnen.
"Durch das Verbalisieren können sich einem Türen öffnen und Nebenwege, auf die man sonst nicht gekommen wäre", schilderte ich meine Erfahrungen. "Es ist ein Verarbeitungsprozeß, ähnlich wie die Träume."
Ivco konnte sich noch immer nicht vorstellen, weshalb Träume wertvoll sein sollten. Tyra erklärte, Träume seien auch deshalb wichtig, weil sie einem wertvolle Tips und Hinweise geben könnten. Man habe ja die Freiheit, zu entscheiden, ob man die Tips befolgt oder nicht. Jedenfalls könnten sich einem durch die Träume neue Perspektiven eröffnen, neue Sichtweisen, auf die man sonst vielleicht gar nicht kommen würde. In Träumen werde vom Gehirn etwas erschaffen, gestaltelt und umgebaut, das sei ein konstruktiver Vorgang.
Hierzu fiel mir ein Traum ein, den ich mit siebzehn Jahren hatte. Damals war ich in einem leistungsorientierten Mädchenchor, der die Mitglieder in eine klösterliche Struktur hineinzog. Einerseits wurde vermittelt, man gehöre zu einer Elite, andererseits wurden die Chormitglieder beständig unter Gruppendruck gesetzt und entwertet.

In dem Traum stand ich mit dem Chor in der Backsteinkirche, wo Kappa geheiratet hat und wo wir damals häufig auftraten. Es fand gerade eine Chorprobe statt. Ohne erkennbaren Grund begann die Chorleiterin mich zu beschimpfen, vor allen anderen.

Als ich aufwachte, beschloß ich, nie mehr in diesen Chor zu gehen, und ich habe meine Entscheidung nie bereut.
"In dem Traum hat sich ein Gefühl verdichtet, das sich über Jahre aufgebaut hat", erklärte ich. "Dadurch wurde es mir erst richtig bewußt."
Ich setzte hinzu, nicht nur Träume, auch Tagträume seien wichtig. In Tagträumen könne man sich Vorstellungen und Wünsche ausmalen, wodurch man sie in der Wirklichkeit besser umsetzen könne. Meine Tagträume aus der Kindheit seien zum Teil Wirklichkeit geworden.
Ich erzählte von der Welt hinter dem goldenen Tor, die ich mir mit sechs Jahren ausgedacht habe. In der Welt war es immer Nacht. Es gab einen Wald links von der Stadt, in dem überall Gespenster waren, alles Freunde von mir. Es gab ein Krankenhaus, in dem hatte ich Nachtdienst. Es gab einen Ballsaal. Und es gab einen Todfeind, einen türkisfarbenen Geist. Er lebte an einem steinigen Ufer. Rechts hinter der Stadt führte eine Bahnlinie ins Moor, da fuhren schwarze Züge hinein, die hatten keine Fenster.
Ich deutete den Wald als Discothek, in der ich überall Freunde und Bekannte treffe.
"In einer Discothek wachsen doch keine Bäume", wandte Ivco ein.
"Das muß man ein bißchen freier übersetzen", meinte Tyra, "und vom Grundprinzip ausgehen."
Tyra betonte, es sei wichtig, über Träume und Gefühle zu sprechen. Allerdings stoße sie in ihrem Bekanntenkreis immer wieder auf Unverständnis, wenn sie über Träume und Gefühle sprechen wolle. Einige würden abblocken, andere würden sich einfach scheuen, vielleicht weil solche Themen bei ihnen Ängste auslösten. Es komme wohl ziemlich oft vor, daß Menschen es nicht schafften, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Viele würden nur mechanisch vor sich hinleben. Denen würde vieles entgehen.
"Der Sinn und Inhalt eines Lebens entsteht ja auch durch den Kontakt zu sich selbst und zu anderen", meinte ich. "Wenn deine Bekannten dir nicht zuhören wollen und mit dir nicht über Träume und Gefühle reden wollen, dann hilft es, möglichst viele verschiedene Leuten kennenzulernen. Dabei finden sich dann auch welche, die darüber sprechen wollen. Außerdem, wenn die Leute so an der Oberfläche sind, kann das verschiedene Gründe haben: einmal den, daß sie sich nicht trauen, sich mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen, einmal auch, daß sie zu sehr in gesellschaftlichen Strukturen gefangen sind, die es ihnen nicht gestatten, über so etwas zu sprechen, und einmal auch, daß sie vielleicht wirklich eher etwas oberflächlichere Menschen sind."
"Ach, ich verstehe das alles nicht, was ihr da redet", seufzte Ivco, halb resigniert, halb amüsiert.
"Daß man sich selber fühlt, ist das Entscheidende", erklärte Tyra. "Was mein analytisches Denken beeinträchtigt, sind private Probleme. Da kommen immer wieder Gefühlsaufwallungen hoch und Gefühlsausbrüche, und dann kann ich meine Gedanken nicht ordnen."
"Wichtig ist, gerade wenn es um Beziehungskonflikte geht, daß man sich den Optimismus und die Geduld bewahrt", meinte ich.
"Aber wenn es einen zerreißt?" entgegnete Tyra. "Es ist so schwierig, jemandem klarzumachen, daß man sich die Verwandlung in eine freundschaftliche Verbindung wünscht, und das Gegenüber hat fünf oder sogar zwanzig verschiedene Positionen."
"Das Wichtigste ist, wie man selber sich dazu stellt und welche Haltung man selbst einnimmt", meinte Ivco.
"Das schon", nickte Tyra, "aber dann geht es ja auch darum, wie der andere darauf reagiert. Und wenn er fünf oder sogar zwanzig verschiedene Positionen einnimmt, ist es schwierig, damit umzugehen."
"Geduld und Optimismus zu bewahren ist oft schwer", meinte Ivco, "aber es ist der einzig mögliche Weg."
"Wenn jemand fünf oder zwanzig verschiedene Ansichten hat, das kann einen doch ziemlich durcheinanderbringen."
"Entscheidend ist, daß man sich seiner eigenen Wünsche sicher ist", meinte ich. "Daß man weiß, was man wirklich will und daß man darüber mit sich selber im Reinen ist. Dann kann man es auch überzeugender vermitteln."
"Man kann die Realität nicht zuverlässig beurteilen, wenn man Scheuklappen aufhat", meinte Tyra. "Und ich habe sicher manchmal Scheuklappen auf."
Ich vermutete, daß Tyra versucht, ihr Verhältnis mit Rafa in eine freundschaftliche Beziehung umzuwandeln. Dies scheiterte jedoch bisher an Rafas widersprüchlichem Verhalten. Ich äußerte meine Vermutung nicht, um Tyra nicht in Konflikte zu bringen.
Ivco meinte, zu sich selbst und seinen Gefühlen habe er immer noch keinen rechten Bezug herstellen können.
"Aber in den letzten zehn Jahren hat sich da sehr viel getan", bemerkte ich. "Ich kenne viele meiner Freunde länger als zehn Jahre, und bei einigen konnte ich eine erstaunliche Entwicklung beobachten. Früher waren die sehr verschlossen, und es war kaum möglich, mit ihnen ein tiefergehendes Gespräch zu führen. Aber im Laufe der Jahre sind sie irgendwann aufgetaut, und heute ist es sehr gut möglich."
Wir unterhielten uns über Berufe. Ivco und Tyra meinten, wenn man Psychiater sei oder Psychologe, dann würden die Menschen eher negative Assoziationen haben. Ich erklärte, für mich sei es ein ganz normaler Beruf und zugleich der, den ich am interessantesten finde. Als Ivco und Tyra wissen wollten, wie ich auf diesen Beruf gekommen sei, erzählte ich, daß ich mich schon immer für Medizin interessiert habe; in der Grundschulzeit war eines meiner Lieblingsbücher ein großes Buch über Krankheiten, das ich im Regal meiner Eltern gefunden habe. Es zog daher in das Regal im Kinderzimmer um. Mein anderes Lieblingsbuch der Grundschulzeit war die Kinderbibel. Jesus nahm einen wichtigen Platz in meinen Tagträumen ein.
"Aber die Geschichte ist doch längst geschrieben, alles ist längst passiert", meinte Tyra. "Das kann man doch im Nachhinein gar nicht mehr ändern."
"Das stimmt, aber ich habe die Figur Jesus vollkommen aus dem biblischen Kontext herausgenommen und in völlig andere Geschichten eingebaut. Im Grunde habe ich ihn zu einem Menschen unserer Zeit gemacht."
Tyra wollte ein Beispiel für diese Geschichten hören. Ich erzählte die Geschichte von der fallenden Statue:
"Am oberen Ende einer steil ansteigenden Straße stand ein etwa zehn Meter hohes Standbild aus Kalksandstein, das die Eigenschaft hatte, gelegentlich umzufallen. Und es gab Menschen, die darauf lauerten, daß die Statue wieder umfiel, weil sie nämlich dann davorliefen."
"Ach, und du bist dann hingelaufen und hast die gerettet", schloß Tyra.
"Ja", nickte ich. "Meine Aufgabe war es, die Leute vor dem Selbstmord zu retten."
Ich erzählte, daß ich die Fachrichtung Psychiatrie während des Studiums ausgewählt habe; mir sei damals bewußt geworden, daß ich dazu neige, über Menschen nachzudenken und mit Menschen über Probleme zu reden und daß ich das ebensogut zu meinem Beruf machen könnte.
Tyra erklärte Ivco die klassische Konditionierung: Wenn ein Kind sich vor einer Ratte nicht fürchte, und man verbinde das Erscheinen der Ratte mit einem unangenehmen Gong, so beginne das Kind sich vor der Ratte zu fürchten.
Es war heller Vormittag, als Tyra sich in Ivcos Gästezimmer schlafen legte. Ich fuhr nach Hause.
Am Mittwoch war ich im "Zone" und traf dort Cal, der damit beschäftigt ist, seine Stelle zu wechseln, weil ihm die Arbeit keinen Spaß mehr macht. Er möchte am liebsten in einer Behinderteneinrichtung arbeiten. In einer solchen Einrichtung habe er schon als Zivildienstleistender gearbeitet, und diese Arbeit habe ihn wirklich erfüllt. Damals habe er jeden Tag gelacht, aber nicht über die Leute, sondern mit ihnen.
Evan aus KI. mailte mir, weil er meine Domain entdeckt hatte. Vor allem die Katastrophen-Kekse hatten es ihm angetan:

Mir gefällt Eure Site sehr gut. Am besten die netten Keksrezepte. Kultig fand ich es auch, wie Du (heißt Du nicht Hetty oder so?) bei "Stahlwerk" im September vor der Cam getanzt hast.
Ich hätte vielleicht noch einen Namensvorschlag für ein weiteres süsses Rezept:

Transrapid-Toffees

Vielleicht inspiriert Dich der Name zu einer weiteren Rezeptkreation.
Viel Spass und weiterhin gutes Gelingen!

Ich mailte:

"Transrapid-Toffees" klingt cool!
Ja, ich heiße Hetty, und die Film-Aktion bei "Stahlwerk" war ein seit Jahren gehegter Wunsch von mir. Mein Schwesterlein hat feine Aufnahmen hingekriegt, die sie zu einem Clip zusammenschneidet.
In KI. war ich im Juli 2004 bei einem einwöchigen Kurs. Auf dem Südfriedhof habe ich Mausoleen fotografiert.

Evan mailte:

Schön, dass Du geantwortet hast. Ich musste mit meinem besten Freund (ist momentan in Dubai) sehr über die Namensgebungen Deiner Kekskreationen lachen.
Sicherlich nicht richtig, da sich doch recht große Schicksale dahinter verbergen.
Ich komme ursprünglich auch aus H. Im Prinzip kenne ich Dich gar nicht. Aber egal. Mein Freund hatte mir von Dir erzählt (wir kommen alle ursprünglich aus H.), und was wir dann auf Deiner Site entdeckt haben, fanden wir sehr ansprechend und interessant (die schönen Fotos, Kekse und Geschichten).
p.s. Hier noch ein Vorschlag für einen Rezeptnamen:

Tsunami-Trüffel

Einen habe ich noch:

Milzbrand-Mousse

Ich mailte:

Noch mehr coole Namen! Die könnten ihren Platz finden in der nächsten Advents-Collection.
Makabre Scherze haben vielleicht deshalb ihren Reiz, weil man durch sie Katastrophen verarbeiten kann (zumindest ansatzweise). Ich denke, es ist nicht verwerflich, wenn man lachen muß über makabre Witze. Es liegt eher am "Geisterbahn-Effekt" ("ein Glück, daß mich wenigstens dieses Unglück nicht trifft"), wodurch man zu Katastrophen, die vielleicht im eigenen Leben irgendwann stattgefunden haben, eine hilfreiche Distanz einnehmen kann.
Wann bist du denn aus H. weggezogen? Ich wohne schon sehr lange hier. Kann sein, daß du Läden kennst, die ich auch kenne, wie z.B. das "Elizium", das es schon nicht mehr gibt, und die "Halle", die es auch nicht mehr gibt.
Wie kommt dein Freund nach Dubai?

Evan mailte:

Normalerweise kaufe ich keine Süssigkeiten, nur momentan würde ich gerne viel Schokolade "vernichten" - vielleicht sogar Tsunami-Trüffel.
Mein bester Kumpel Mika ist im Projektmarketing für Mobile Netze in Dubai beschäftigt.
Kurz vorm Abitur habe ich in H. gewohnt und hier auch Mika kennengelernt.

Evan ist Groß- und Außenhandelskaufmann und studiert seit 2002 in KI. das Fach "Multimedia Production". Das "Elizium" hat er nicht mehr kennengelernt, aber das "Read Only Memory".
Am Donnerstag fuhren Constri, Denise und ich nach BI. und besuchten Sadia und Osman in ihrem Möbelgeschäft. Den Kuchen für den Nachmittagskaffee holte Sadia vom Bäcker, und wir deckten auf einer der vornehmen Tafeln vorne im Laden. An den Wänden hängen Spiegel, die mit Blattgold verziert sind. Einige der Möbel kosten ein Vermögen. Sadia und Osman könnten sich vieles von dem, was sie anbieten, selber nicht leisten.
In dem Möbelgeschäft gibt es ein Regal, in dem liegen Edelsteine. Sie werden dort von einer Esoterik-Händlerin zum Verkauf ausgelegt. Auch Edelsteine zum "energetischen Aufladen von Trinkwasser" gibt es da und andere zum "energetischen Löschen". Das amüsierte mich so, daß ich einen Organzabeutel mit solchen "energetischen" Steinen als Geburtstagsgeschenk für meinen Vater kaufte. Mein Vater und ich finden solche Skurrilitäten sehr amüsant.
Die Sandmann-Puppe, die ich Denise geschenkt habe - "Hampa" - trägt zur Zeit eine Windel. Derek hat dem "Hampa" eine Windel umgemacht, weil Denise das wollte.
Nachts war ich in der "Spieluhr". Ich freute mich über das Wiederhören von "The night" von Valerie Dore und "Tension" von Covenant.
Zu Irith sagte ich, ich hätte gehört, Das P. sei zerstritten.
"Ach - die waren doch noch zusammen im Studio", äußerte sie sich bestürzt. "Die haben noch zusammen Musik gemacht."
"Ja, letzte Woche ist das erst geschehen. Da haben sie sich zerstritten."
"Ach, und dabei waren die so ... miteinander."
Sie machte eine Geste wie "ein Herz und eine Seele".
"Vier Jahre lang haben die gemeinsam Musik gemacht", sagte ich, "und miteinander zu tun gehabt."
"Und dann ... wegen sowas."
"Zerstritten haben sie sich wohl wegen der Aufgabenverteilung", meinte ich, "wegen der Frage, wer die Titel bei der GEMA anmeldet und so."
"Das ist doch so ein Kinderkram ... daß die sich wegen sowas zerstreiten ... Sie sind halt beide Sturköpfe."
"Ja, und Kindsköpfe."
"Sturköpfe und Kindsköpfe."
"Und wenn jeder recht haben will und keiner bereit ist, Kompromisse einzugehen ... Schade drum."
"Ja, schade."



Am Freitagabend war ich bei Clarice, die ihren Geburtstag feierte. Clarice, Leander und Helen gaben mir ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk, das mich begeisterte. Es war die ersehnte "T-X"-Puppe in Barbie-Größe, eine Spielzeugfigur, die die Terminatrix aus "Terminator 3" darstellt, im Film verkörpert von Kristanna Loken, eine, wie ich finde, hinreißende Besetzung dieser Rolle. Die kindlich-süße Kristanna spielt das durch und durch böse mechanische Frauenzimmer mit Unschuld und Selbstironie, und diese Gegensätze sind es, die die Filmfigur für mich so lebendig machen und zum Kult erheben.
Daphne traf ich auch auf der Party. Sie erzählte, daß sie nur noch sehr selten ausgeht. Sie habe keinen Spaß mehr daran, es sei doch immer dasselbe.
Mit Revil fuhr ich gegen Mitternacht hinüber zum "Mute". Wir rutschten mehr, als daß wir fuhren, denn es schneite auf Glatteis. Doch mit zwanzig Stundenkilometern war die Strecke zu bewältigen.
Für das "Mute" hatte ich mich kostümiert mit einem Nadelstreifenkorsett, das an den Seiten geschnürt wird, wobei man hinter den Schnürungen viel Haut sieht. Vorne ist das Korsett geschmückt mit einer Zierschnürung aus Satinbändern. Ich trug ein Nietenhalsband aus schwarzem Leder, an dem vorne eine kurze Metallkette befestigt ist, auf einer Seite mit einem Ring, auf der anderen mit einem Karabiner. Außerdem trug ich die langen schwarzen Satinhandschuhe und zwei schwarze Röcke, den langen weiten Tüllrock aus Antwerpen und darüber den bauschigen Tournürenrock, der vorne offen ist und kürzer als hinten. Die Haare hatte ich mit schwarzen Stoffgummis zusammengerafft und das Haarteil mit den fransigen Strähnen und den langen Kordelzöpfchen darangesteckt und zusätzlich silbergraue und schwarze Scooby-Bänder und Satinbänder in die künstliche Pracht gesteckt.
"Du siehst heute ganz besonders schön aus", fand Cennet.
"Das ist gut so", meinte ich.
Ich stand meistens an einem Tisch mit Cennet und zwei seiner Bekannten. Einer von ihnen - Galean - studiert Informatik.
Rafa erschien erst nach Mitternacht im "Mute". Er marschierte an unserem Tisch vorbei, vorne links vor der Bühne, auf der das DJ-Pult stand. Rafa trug ein Bündel, vielleicht etwas, das er Kappa mitbringen wollte. Rafa grinste mir zu. Er ging so dicht an mir vorbei, daß ich über seine linke Hand streichen konnte. Er wich aus, immer noch grinsend, und stieg eilig hinauf zum DJ-Pult.
"Er läuft wieder vor mir weg", stellte ich fest.
"Er scheint sich trotzdem zu freuen, daß du da bist", meinte Cennet. "Entsprechend breit hat er gegrinst."
Hinterm DJ-Pult umarmten sich Rafa und Kappa stürmisch und ausgiebig. Dann redete Rafa auf Kappa ein. Rafa trug das langärmelige blaue Batik-Oberteil, eine schwarze Baumwollweste und eine einfache schwarze Baumwollhose. Seine Brille mit den blauen Gläsern setzte er in dieser Nacht nur selten auf.
Weiter hinten im Saal begrüßte ich Darienne und Herrn Lehmann, mit denen Rafa hergekommen war. Herr Lehmann meinte, die Fahrt sei gut verlaufen. Ich nahm an, daß sich das Wetter in der Zwischenzeit gebessert hatte.
Rafa schleppte Darienne vor die Bühne und zeigte ihr, wie sie die Beine auf das Geländer stellen sollte, um ihren Hintern auf die Bühne zu stemmen und so hinaufzuklettern. Diese Methode funktioniert nicht, wenn man empfindliche Kleidung trägt. Darienne hatte eine enge schwarze Baumwollhose an. Brav ahmte sie alles nach, was Rafa ihr vormachte. Sie war dabei geschickter als er, der beim Aufstehen aus dem Schneidersitz ein wenig strauchelte. Als beide auf der Bühne angekommen waren, führte er sie, die ihm ergeben folgte, hinter den Vorhang.
Rafa nimmt kein Mädchen ohne Hintergedanken mit in den Backstage-Bereich. Darienne ist sehr jung, damit wenig erfahren. Sie scheint schwach und beeinflußbar zu sein. Das macht sie für Rafa zu einem gefundenen Fressen.
Ich unterhielt mich mit Cyber und seiner Frau Sheryl. Cyber erzählte, daß er seit vier Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner früheren Freundin Tora hat. Tora leidet an einer Persönlichkeitsstörung, und Cyber hat nach seiner Trennung von ihr noch lange den Kontakt aufrechterhalten und sich um sie gekümmert, als sie im Krankenhaus war.
Cyber war erstaunt, als ich ihm erzählte, daß Constri und Derek verheiratet sind. Cyber ist mit Derek im Konfirmandenunterricht gewesen.
"Daß der jetzt verheiratet ist, wenn man sich das vorstellt", sagte Cyber nachdenklich.
"Ja, die sind verheiratet und haben eine ganz süße kleine Tochter, Denise, zwei Jahre alt."
"Ist Derek nicht psychisch ziemlich schwierig?"
"Ja, das schon. Aber jetzt ist es etwas besser."
"Aber Constri ist stabil."
"Ja."
"Aber dann ist es doch ziemlich anstrengend für sie mit ihm", meinte Cyber. "Ich weiß das ja noch von Tora."
"Das schon. Aber ich habe den Eindruck, daß sich bei Derek wirklich was entwickelt. Ich denke, Tora ist schon äußerst schwierig gewesen. Es war sicher schwierig, mit ihr zu leben."
"Ja, das auf jeden Fall."
"Nun gut, Derek hat schon damals, als er Constri kennenlernte, drei Selbstmordversuche hinter sich gehabt. Aber im Moment habe ich eher den Eindruck, daß er sich nicht umbringen will. Man weiß es zwar nie genau, aber ich habe schon das Gefühl, daß die Beziehung von Constri und Derek einen guten Verlauf nimmt."
Sheryl erzählte, ihr Sohn sei vier, sie sei achtundzwanzig, und sie könne sich nicht mehr vorstellen, beruflich einen Platz in dieser Welt zu finden. Die wirtschaftliche Situation sei doch so schlecht.
"Mit achtundzwanzig bist du zu jung, um aufzugeben", meinte ich. "Ich denke, für dich läßt sich ein Weg finden."
"Ich habe schon das eine oder andere durchgespielt. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, in einem Kinderheim zu arbeiten. Aber ich habe so schlechte Schulzeugnisse. Damals, als ich noch zur Schule gegangen bin, habe ich Bulimie gehabt. Deshalb war ich oft nicht in der Schule."
"Aber daran hattest du ja keine Schuld. Du warst ja krank."
"Ja, aber in der Gesellschaft guckt man eben doch auf die Zeugnisse."
"Das ist leider wahr, daß man oft nur auf die Ergebnisse guckt."
Während Lucas mir im Foyer seine aktuelle Telefonnummer aufschrieb, kam Rafa mit Darienne die Treppe herunter. Ich ging davon aus, daß sie etwas miteinander gehabt hatten. Die halbe Stunde, die sie verschwunden waren, reichte dafür.
Rafa ging mit Darienne in gewissem Abstand an mir vorbei. Er lächelte mir zu, und ich lächelte zurück.
Ich vermute, daß Rafa nicht immer an die Frauen denkt, mit denen er es gerade treibt. Rafa baut zu seinen Bettgespielinnen keine oder nur eine geringe emotionale Beziehung auf, sonst könnte er sie nicht so beliebig wechseln und gegeneinander austauschen. Sie werden weitgehend auf ihren "Nutzwert" reduziert. Es könnte sein, daß Rafa ganz andere Frauen im Kopf herumgehen als die, auf denen er liegt. Tröstlich ist das aber nicht, eher ein Beleg für Rafas Unfähigkeit, eine Beziehung zu führen, die diese Bezeichnung verdient.
Rafa stellte sich mit Darienne an die Theke. Etwas später ging er noch einmal an mir vorbei und hob wie zum Gruß die Hand. Dann ging er wieder zu Darienne zurück und mit ihr in den Tanzsaal. Dort stellte er sich mit ihr an einen Tisch.
Als ich kurz im "Maximum Volume" gewesen war und zurück in den großen Saal kam, stand Rafa mit Yannick auf einem Podest. Ich stellte mich zu Magenta an einen Tisch und konnte über ihre Schulter zusehen, wie Rafa sich mit Yannick unterhielt. Rafa kam schließlich auf unseren Tisch zu und stellte dort sein Bierglas ab, wobei ich ihn ums Handgelenk fassen konnte. Rafa ging auf die Tanzfläche, und als er zurückkam, stellte er sich mit Herrn Lehmann an den Tisch, und so, daß er mir dicht gegenüber stand. Rafa stellte Herrn Lehmann einen seiner Bekannten vor, der in der Nähe stand - Reko.
Reko fragte zu dem Stück, das gerade lief:
"Was ist das für ein Lied?"
"Das ist 'Assimilate' von Skinny Puppy", gab Rafa Auskunft.
"'Assimilate'", nickte ich.
"Ja, guck'", sagte Rafa zu Reko und zeigte auf mich, "das ist Elektro-Betty."
"Das ist Reko", sagte Rafa zu mir und zeigte auf Reko, "das ist der super Freund."
Dann sagte Rafa zu Reko, während er auf mich zeigte:
"Und die Frau ist nur krank."
Rafa entfernte sich, und Reko sagte zu mir:
"Ich habe mal anders ausgesehen, und zwar mit Seitenscheitel und ohne Bart."
"Da hast du dich ja schon sehr verändert."
"Du solltest auf Rafa aufpassen", empfahl Reko. "Rafa wirkt auf mich ziemlich labil."
"Ich würde sehr gerne auf ihn aufpassen. Allerdings läuft er immerzu vor mir davon. Das macht es schwierig. Aber ich versuche immer wieder, ihm das Rauchen abzugewöhnen."
"Das ist gut, daß du das versuchst. Das ist nur gut, das kann er gebrauchen."
Als Reko fort war, vergaß ich seinen Namen und fragte Herrn Lehmann danach, der noch am Tisch stand.
"Das hab' ich gleich", versprach Herr Lehmann und wandte sich an Rafa, der ein Stück entfernt stand.
"Reko heißt er", berichtete Herr Lehmann, als er zurückkam. "Jetzt muß ich auch noch für dich die Männer organisieren ..."
"Wenn mich irgendjemand wirklich interessiert, dann ist das nur Rafa, sonst niemand. Den Namen von Reko wollte ich nur wissen, damit ich noch auseinanderhalten kann, mit wem ich alles geredet habe."
"Aha, Moment mal ...", sagte Herr Lehmann und ging wieder zu Rafa.
Etwas später gingen Rafa und ich beide auf die Tanzfläche. Rafa tanzte weit entfernt von mir. Als das Stück zu Ende war, ging Rafa auf mich zu, bog aber kurz vor mir ab und ging zu dem Tisch, wo Herr Lehmann stand.
"Eiskalter Engel" von Mondsucht lief heute auch. Als ich nach dem Tanzen wieder zu Cennet an den Tisch kam, meinte er, es sei so schön, mir beim Tanzen zuzuschauen.
Gegen Morgen sagte Rafa durchs Mikrophon, jetzt komme noch etwas ganz Dolles. Er spielte "Let's dance" von David Bowie und hüpfte theatralisch auf die Tanzfläche. Ich stand von meinem Hocker auf und ging ebenfalls auf die Tanzfläche. Rafa tanzte mir gegenüber, in gut fünf Metern Entfernung; es war niemand zwischen uns. Rückwärts tanzte Rafa auf mich zu und kam dabei recht nah an mich heran. Ich streichelte seinen Rücken.
"Schön", sagte ich.
Rafa drehte sich kurz um und tanzte dann weiter mit dem Rücken zu mir. Ein Betrunkener näherte sich, der mich schon einige Zeit belästigt hatte, indem er mir den Hof machte. Der Betrunkene umarmte Rafa. Rafa schaute, wer ihm da umhalste, und als er sah, daß es der Betrunkene war, scheuchte er ihn weg.
Rafa wandte sich mir nun beim Tanzen zu und strahlte mich an; ich strahlte zurück und streckte ihm die Arme entgegen. Uns trennten zwei Schritte, die Rafa nicht überwand. Wir strahlten und strahlten. Dann drehte Rafa sich wieder um und tanzte rückwärts auf mich zu, und ich streichelte seinen Rücken. Etwa dreimal kam das vor. Dann drehte Rafa sich zur Bühne, zog den Reißverschluß seines Hosenstalls auf, zog seine Hosen herunter und präsentierte mir das blanke Hinterteil. Dann zog er seine Hosen schnell wieder hoch. Ich stürmte auf ihn zu, faßte ihn um die Schultern und rief:
"Du ziehst dich wieder für mich aus, das ist ja schön!"
Rafa sprang beiseite, fuhr aber fort, mir gegenüber zu tanzen. Es kam noch einmal vor, daß er rückwärts auf mich zutanzte und ich seinen Rücken streicheln konnte.
"Schön", sagte ich und dachte:
"Der soll noch einmal behaupten, er hätte etwas dagegen, daß ich ihn anfasse. Es gibt Menschen, die können überzeugender lügen."
Als das Lied endete, hüpfte Rafa wieder auf die Bühne, ans DJ-Pult. Er machte theatralische Bewegungen, breitete die Arme aus und redete auf die Nebelmaschine ein.
Durchs Mikrophon bat er um Hilfe:
"Die schwule Fernbedienung für die schwule Nebelmaschine, die suche ich jetzt."
Cennet ging auf mich zu und bemerkte:
"Das war ja wohl heftig eben."
"Ja, sowas macht er jetzt immer."
"Soll ich mal 'raufgehen und ihn fragen, ob er mit ins 'Nachtbarhaus' kommt?"
"Na klar. Er wird allerdings argwöhnen, daß ich das initiiert habe, daß das von mir kommt. Er wird als Erstes fragen, ob ich dich geschickt habe."
"Meinst du, es ist nicht so günstig, wenn ich das mache?"
"Das ist deine freie Entscheidung."
Cennet ließ sich das nicht zweimal sagen. Er stieg auf die Bühne und redete mit Rafa. Als er wieder herunterkam, berichtete Cennet:
"Zumindest hat er gesagt, er überlegt es sich."
"Das ist erstaunlich. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, daß er es kategorisch ablehnt."
"Rafa hat sich sehr positiv über dich geäußert."
"Was? Das kann ich mir gar nicht vorstellen."
"Er hat gesagt, du wärst echt ein nettes Mädchen, und er mag dich echt gerne, nur mit einer Einschränkung: die Liebe. Die Hoffnung könnte er dir nicht erfüllen."
"Ja, deshalb hat er ja auch auf der Tanzfläche vor mir seine Hose 'runtergelassen. Und deshalb ist er auch immer rückwärts auf mich zugegangen, daß ich ihm den Rücken streicheln konnte. Alles klar."
"Ou ... da gibt es ziemlich viele Widersprüche."
"Allerdings, Rafa ist sehr widersprüchlich."
"Vielleicht ist er für die Liebe nicht bereit."
"Damit bringst du es auf den Punkt, denke ich."
Rafa ließ sich viel Zeit damit, das "Mute" zu verlassen. Er verließ als einer der Letzten den Tanzsaal und redete im Foyer noch mit Darienne, Herrn Lehmann und einigen anderen Leuten und verabschiedete sich umständlich von diesem und jenem. Schließlich marschierte Rafa in einer Gruppe von Leuten an Cennet, Gaelan und mir vorbei in die kleine Eingangshalle.
"Hm, das war's wohl", meinte Cennet.
"Cennet, geh' jetzt 'raus zu ihm und frage: 'Ja oder nein?'" bat ich.
Er ging hinaus und kam wieder mit der Nachricht, Rafa sei einverstanden.
Zu Darienne und Herrn Lehmann sagte Rafa:
"Wir gehen frühstücken, und ich lade euch ein. Ich lade euch zum Frühstück ein."
Zu mir gewandt, sagte Rafa:
"O.k., in fünfzehn Minuten sehen wir uns im 'Nachtbarhaus'."
"Ja, in fünfzehn Minuten im 'Nachtbarhaus'."
Als Cennet, Gaelan und ich auf das "Nachtbarhaus" zugingen, sahen wir Rafa, Darienne und Herrn Lehmann die Treppe hinaufsteigen.
Die Tische im "Nachtbarhaus" sind sehr klein. Wir saßen an zwei aneinandergerückten Tischen. An der Stirnseite saß Gaelan, rechts von ihm Darienne, links ich. Rechts von Darienne - und mir schräg gegenüber - saß Rafa, rechts von ihm saß Herr Lehmann. Links von mir saß Cennet.
"Wer kennt jetzt wen noch nicht?" fragte Rafa.
Er sorgte dafür, daß jeder jedem vorgestellt wurde. Er selbst stellte sich vor als "Rafa Dawyne". Als Gaelan seinen Namen sagte, meinte Rafa:
"Das ist ein Name wie für einen Künstler."
Gaelan meinte, so abwegig sei das nicht. Er mache nämlich Musik und wolle Musik zu seinem Beruf machen. Dafür lobte Rafa ihn ausführlich.
Cennet und Rafa unterhielten sich über Karl Bartos.
"Der ist doch im Jahr 2000 auf der Expo aufgetreten", wußte ich.
"Ja, da war ich auch", erzählte Rafa.
Cennet und Rafa waren sich einig, daß man Kraftwerk unbedingt kennen muß, wenn man in der damaligen Zeit gelebt hat und den Stil mag.
Rafas und mein Schlüsselbund lagen nebeneinander. An meinem Schlüsselbund hängt eine Miniatur-Billardkugel, die schwarze Acht. Rafa hat zwei Miniatur-Billardkugeln an seinem Schlüsselbund.
"Du hast auch die schwarze Acht, nicht?" bemerkte ich.
"Ich habe die rote Drei und die blaue Zwei", stellte Rafa richtig. "Die Zahl '23'."
Er studierte die Speisekarte und sagte vor sich hin:
"Was für ein Chappi will ich denn? Was für ein Chappi will ich denn?"
Cennet, Herr Lehmann und Rafa unterhielten sich über die Bezeichnungen für Gehacktes.
"In der DDR hieß das noch 'Hackepeter'", wußte Herr Lehmann. "Und hier heißt das 'Mett'. Das Wort 'Hackepeter' kommt daher, daß Hackfleisch traditionellerweise mit Petersilie garniert wird. Und so hat sich der Begriff 'Hackepeter' schließlich eingebürgert."
"Ich esse fast kein Fleisch", behauptete Rafa. "Also, eigentlich überhaupt keins."
Als die Kellnerin die Bestellung aufnahm, sagte Rafa, daß er Salat mit Shrimps haben wollte. Es gebe einen Salat, den habe er hier vor acht Jahren gegessen.
"Mal sehen, ob der nach acht Jahren noch genauso schmeckt wie damals", setzte Rafa hinzu.
"Das war 1996", sagte ich.
"Ach ja, natürlich", fiel Rafa ein, "und das weißt du noch?"
"Ja, damals hast du uns Rätsel aufgegeben, unter anderem das mit drei Männern und einer Waffe. Zwei erschießen sich, und einer bleibt übrig."
"Ach, das mit dem U-Boot."
"Genau, das mit dem U-Boot."
"O.k., ich erzähle euch nochmal ein Rätsel. Formel eins ... wo Schumi mitfährt ... Wenn jemand der Dritte ist, und er überholt den Zweiten, was ist er dann?"
"Da ist bestimmt wieder irgendeine Stolperfalle drin", vermutete ich.
"Und wenn jemand der Letzte ist und überholt den Vorletzten, was ist er dann?"
"Da ist auch wieder eine Stolperfalle drin."
"Ja, klar, er kann ja nicht der Letzte sein, wenn er den Vorletzten überholt", erklärte Rafa. "Dann ist ja der andere der Letzte."
Rafa erzählte einen Witz:
"Treffen sich zwei Planeten. Sagt der eine:
'Du siehst aber nicht gut aus. Bist du krank?'
Sagt der andere.
'Ich habe Homo sapiens.'
Meint der eine:
'Ach, das hatte ich auch schon. Das geht vorbei.'"
Rafa findet diesen Witz ungeheuer komisch. Ich finde ihn nicht ganz so komisch, weil ich an Rafas Wunschvorstellung denken muß, die Menschheit auszurotten.
Ich gab auch einen Witz zum Besten und merkte an, der sei ziemlich alt:
"Treffen sich zwei Hochhäuser. Das eine sagt:
'Ich habe mich verliebt.'
Fragt das andere:
'Woran merkst du denn das?'
Sagt das eine:
'Ich habe Flugzeuge im Bauch.'"
"So alt kann der Witz aber noch nicht sein", meinte Rafa.
"Na, ein paar Jahre schon."
Als ich mein Essen bekam, sagte Rafa:
"Guten Appetit, Hetty."
"Danke."
Weil ich kaum einen Bissen herunterbekam, sagte ich zu Rafa:
"Ich habe doch immer Gastritis, das wird jetzt langsam besser."
"Ach, das interessiert doch hier keinen."
"Na ja, es wird ja jetzt auch wieder besser."
"Mensch, das ist aber ein Glück für uns."
"Na ja, es ist vor allem für mich ein Glück."
"Es ist für uns ein Glück, wenn du keine Super-Gastritis hast."
Als Rafa seinen Salat probierte, meinte er, der würde überhaupt nicht mehr so schmecken wie damals.
Darienne fragte, wann Rafa zum letzten Mal im "Nachtbarhaus" war.
"Vor acht Jahren", antwortete er.
"Das war 1996", berichtigte ich. "Da habe ich auch das gegessen, was ich hier gerade esse, Mozzarella und Tomaten."
"Damals im 'Elizium', da hatten die Leute alle so hohe Haare und so irre Frisuren", erzählte Rafa der sechzehn Jahre jüngeren Darienne, die das "Elizium" nicht mehr kennengelernt hat. "Morgens sind wir noch ins 'Nachtbarhaus' zum Frühstücken gegangen."
"Ein Kellner, der hier war, der hat mal gesagt, er sei mal der Bewährungshelfer von Lennart Brehler gewesen", erzählte ich.
"Lennart Brehler, wer war denn das?" fragte Rafa.
"Das war doch der 'Nachtlicht'-Türsteher, gegen den du mich verteidigt hast", erinnerte ich ihn. "Der ist rechtsradikal und vorbestraft. Der ist richtig kriminell."
"Und wieso habe ich das vergessen?" fragte Rafa. "Ja, da war mal sowas, aber das weiß ich alles gar nicht mehr genau."
Ich erzählte von Türstehern des "Nachtlicht", die sich im Herbst 1994 einen Spaß daraus machten, die Gäste zu schikanieren.
"Da hatten die wohl gerade neue gekriegt", vermutete Rafa.
"Nein, die hatten mich schon wochenlang schikaniert."
Kappa setzte aus unerfindlichen Gründen rechtsradikale Skinheads an die Pforte der Gothic- und Wave-Discothek "Nachtlicht". Das ist ungefähr so, als würde man einen Wolf als Security in einem Kaninchenstall einsetzen. Der Schlimmste unter den Türstehern war der vorbestrafte Lennart Brehler. Er schien einen besonderen Haß auf Frauen zu haben. Er verlangte von ihnen, ihre Taschen abzugeben, auch wenn sich nur Schminkutensilien oder schlichtweg gar nichts darin befand. Rafa lieferte sich eine Auseinandersetzung mit Lennart, weil der mich nicht mit meiner Tasche ins "Nachtlicht" lassen wollte. Als Lennart stur blieb, nahm Rafa meine Tasche und brachte sie hinunter ins "Nachtlicht". Ihm als DJ konnte Lennart das nicht verbieten.
"Heute würde ich das bestimmt nicht mehr machen", versicherte Rafa.
"Ich habe es noch nie erlebt, daß mich jemand so verteidigt hat", erzählte ich.
"Um das mal etwas kleiner zu fassen: Das war nicht, um dir einen Gefallen zu tun und ritterlich zu sein, sondern es war nur wegen der Machtverhältnisse", betonte Rafa. "Das war, weil mir und Kappa eigentlich der Laden gehört hat, und dieser Türsteher wollte so tun, als hätte er mehr Macht als ich und könnte über mich bestimmen."
"Unten hat er dich über die Bank geschleudert. Er hat dich bei den Schultern gepackt und über eine Bank geschleudert."
"Woher weißt du das denn?" fragte Rafa entgeistert.
"Ich habe es gesehen", antwortete ich. "Ich war dabei."
"Wie - hast du Krypton-Augen? Du warst doch gar nicht da."
"Doch."
"Wieso weißt du denn etwas, das ich nicht mehr weiß?"
"Ich finde die Vergangenheit wichtig. Ich halte die hoch."
"Was ist denn schon die Vergangenheit? Das ist doch so ewig her."
"Für mich ist es, als wäre es gestern gewesen."
"Aber wie wär's denn mal mit der Gegenwart oder der Zukunft?"
"Die Vergangenheit ist ja die Wurzel der Zukunft."
"Das ist schon richtig."
"Jedenfalls, im 'Nachtlicht' war es so: Du hattest ja meine Tasche mit 'reingenommen, und dann habe ich etwas später gesehen, daß der Lennart Brehler dich angebrüllt hat:
'Ja, Rafa ist hier der King!'"
"Ja, Rafa ist der King", bestätigte Rafa. "Das ist richtig."
"Und dann hat er dich bei den Schultern gepackt und über eine Bank geschleudert. Und da bin ich auf den zugelaufen und habe gesagt:
'Du kriegst gleich eins in die Fresse.'"
"Und dann hat er von dir eins in die Fresse gekriegt?"
"Nein, der hat mich hingeschmissen, da bin ich sofort wieder aufgesprungen. Er hat gefragt:
'Von dir?'
Und da habe ich gesagt:
'Jawohl, von mir.'"
"Und dann hat er von dir eins in die Fresse gekriegt."
"Nein. Er hat dich ja nicht mehr angegriffen."
"Du hättest mich echt nicht verteidigen müssen", tadelte Rafa. "Das hättest du echt nicht machen müssen. Ich kann mir schon selber helfen."
"Nein, das mußte ich machen. Das war mir wichtig. Das werde ich immer tun."
"Also, ich kann schon alles selbst machen im Leben", versicherte Rafa. "Ich verdiene auch Geld ... also, ich komme im Leben klar."
"Nur in einem nicht. Da kann ich nicht lockerlassen: daß du das hier aufgibst."
Ich zeigte auf seine Zigarettenschachtel, die neben seiner Spiegelbrille auf dem Tisch lag.
"Bei der Volkshochschule gibt es Raucherentwöhnungskurse", setzte ich hinzu.
"Wieso?" fragte Rafa. "Ich genieße das Leben. Und du ... weiß ich auch nicht, was du mit deinem Leben machst. Aber ich genieße es."
"Vom Zigarettenrauchen verengen sich die Herzkranzgefäße, und dann kriegt man koronare Herzkrankheit, und dann gibt es auch noch die vaskuläre Demenz."
"Was ist das denn?"
"Das sind Gefäßwandveränderungen der Hirngefäße. Dadurch gibt es geistigen Abbau."
"Ach, das habe ich vor Kurzem alles mal in der AOK-Zeitung gelesen."
"Das alles würde dazu führen, daß du früh stirbst. Und ich käme mit deinem Tod nicht klar. Dann wäre für mich alles zu Ende, das Wichtigste in meinem Leben wäre weg."
"Ach, und dann würdest du deine Internetseite löschen?" fragte Rafa lauernd.
"Natürlich nicht!" entgegnete ich. "Damit würde ich ja dein Andenken in Ehren halten. Ich würde dir ein Denkmal setzen für die Ewigkeit. Ich setze dir ja jetzt schon ein Denkmal."
"Ha, schönes Denkmal! Dann setze ich dir auch mal ein Denkmal."
"Ja, mach' das!"
"Ein Denk-mal-Denkmal."
"Jedenfalls würde ich nach deinem Tod auch weiterhin in meinen Träumen mit dir kommunizieren und das auch da 'reinschreiben."
"In Träumen", äffte Rafa mich nach. "In Träumen."
"Ja, ich habe mich schon oft mit dir im Traum unterhalten."
"Im Traum hast du dich mit mir unterhalten. Im Traum, aber nicht in Wirklichkeit."
"Es gibt Dinge in der Wirklichkeit, die sind viel schöner, viel intensiver, als man sie sich in Träumen oder Phantasien jemals vorstellen könnte."
"Sag' mir ein Ding, das in der Wirklichkeit schöner ist."
"Als du mich umarmt hast!"
"Ach, das war, nachdem wir Sex hatten, oder wie?"
"Du hast mich mehrmals umarmt. Wie oft, weiß ich gar nicht mehr."
"Wann habe ich dich denn umarmt? '94 ... '95 ... wann war denn das?"
"Du hast mich mehrmals umarmt. Zu verschiedenen Zeiten."
"Ja, wann war das? '94? '95?"
"Zuletzt 1996."
"Was ist denn eigentlich mit dem Jochen Hockerfuß?"
"Ach, der Sockenschuß! Der soll immer noch irgendwo hier in H. existieren. Den habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen."
"Der war irgendwie früher auch immer dabei", erinnerte sich Rafa. "Keiner wollte ihn haben, aber irgendwie war der immer dabei."
"Ich habe gehört, daß er vor ungefähr zwei Jahren im Lotto gewonnen hat."
"Fünfzig Euro?"
"Nein, das soll mehr gewesen sein", erzählte ich. "Es heißt, er habe seine Schwester davon groß ausgeführt."
"Wieviel?"
"Das weiß ich nicht. Ich habe das nur über zehn Ecken gehört."
"Und ... was ist mit deinem Sexleben?"
"Tja ..."
"Ja, und das ist mal wieder nur von einer Person abhängig."
"Ja, genau", bestätigte ich. "Ich bin dir treu. Und ich war es auch immer."
"He, mach' mich nicht schwach!" bat Rafa. "Wie kann man einem Rafa treu sein?"
"Ich bin dir treu, wirklich."
"Mensch, Mädchen, verlier' doch nicht dein Gesicht!"
"Deshalb bin ich dir ja treu. Ich bin einfach nur ehrlich. Ich sage einfach nur die Wahrheit."
"Ou, Mensch, gibt es denn hier nicht noch ein anderes Thema?"
"Ja, wirklich, wirklich", sagte Cennet.
"Es ist gut", sagte ich zu Rafa, "ich will dich heute wirklich nicht piesacken."
"'Piesacken'? Was ist denn 'piesacken'?"
"Ich will dich nicht ärgern."
"Gaelan! Was machst du denn so?" erkundigte sich Rafa.
Gaelan erzählte, daß er zur Zeit an seinem Diplom arbeitet.
"In was das Diplom?" fragte Rafa.
Gaelan erzählte, daß er Informatik studiert.
"Und wieso studierst du das?" wunderte sich Rafa.
"Weil ich nur noch das Diplom machen muß, und dann ist es fertig", erklärte Gaelan.
Rafa breitete sein Halbwissen aus:
"Computer ... früher ... Heute macht man doch Informatik nur noch, damit man Internetseiten gestalten kann, doch nicht mehr, um einen Computer programmieren zu lernen."
Informatiker Cennet erzählte, daß er zwar überwiegend mit Java arbeitet, aber darüber hinaus einige Kenntnisse über das Programmieren besitzt.
Rafa erkundigte sich, was Cennet so alles kann. Cennet schilderte, welche Kenntnisse er erworben hat, von denen einige aus der Zeit stammen, als er mit dem C64 gearbeitet hat.
"Das ist doch schon mal die halbe Miete", lobte der Autodidakt Rafa. "Das ist doch schon mal nicht schlecht. Qualität heißt Transparenz, und der C64 zeichnete sich durch Transparenz aus. Den konnte jeder programmieren."
"Aber je größer die Komplexität einer Sache, je mehr Möglichkeiten sie hat, desto weniger transparent wird sie", gab Cennet zu bedenken.
"Es geht doch nicht um Komplexität, es geht um Qualität", behauptete Rafa und rührte Begriffe aus verschiedenen Bereichen durcheinander.
"An die Wand quatschen" nenne ich dieses Phänomen, das Rafa meisterhaft beherrscht. Es verhilft ihm dazu, eigene Lücken scheinbar zu füllen und scheinbar besser dazustehen als vermeintliche Konkurrenten.
Rafa zog einen Luftballon mit C64-Emblem hervor.
"Wo hast du den denn her?" staunte Cennet.
"Aus dem Kaufhaus, 1982", erzählte Rafa stolz.
"Den Luftballon hatte ich nicht, aber das Gerät und Aufkleber."
"Paß auf, ich schenke dir jetzt mal was", kündigte Rafa an und suchte aus seinem Portemonnaie ein Briefchen Streichhölzer mit C64-Emblem hervor; auf der Rückseite trug das Briefchen das Bild eines Fußballspielers.
"Das ist original aus den Achtzigern", erklärte Rafa. "Das mußt du aber in Ehren halten."
"Das werde ich in Ehren halten."
Cennet betrachtete das Briefchen, stellte fest, daß es noch ungebraucht war, und meinte, er habe Skrupel, aus diesem historischen Briefchen das erste Streichholz herauszubrechen. Das wäre wie eine Entjungferung.
"Entjungferungen sind nicht schlecht", fand Rafa.
"Du solltest wissen, daß Cennet Karl Koch kannte", sagte ich zu Rafa.
Cennet erzählte ein wenig von seiner Freundschaft mit dem jungen Hacker Karl Koch, der am 23.05.1989 zu Tode kam und von dessen Schicksal der Film "23" handelt. Ehe Cennet jedoch Genaueres über den Menschen erzählen konnte, der ihm wirklich begegnet ist, begann Rafa über den Film "23" zu reden und schien die Wirklichkeit nicht an sich heranlassen zu wollen. Vielleicht war es ihm nicht recht, daß Cennet mehr über Karl Koch wußte als er selber. Vielleicht wollte Rafa auch eine Illusion aufrechterhalten, die nach Cennets Schilderungen zusammengebrochen wäre. Rafa verehrt Karl Koch wie einen Helden, aber vermutlich nicht den Karl Koch, den es wirklich gegeben hat, sondern nur das Bild, das er von ihm geschaffen hat. Und das scheint mit der Wirklichkeit wenig gemein zu haben.
Rafa betonte, der Film "23" müsse für alle, die in H. wohnten, der "absolute Kultfilm" sein. Cennet und Rafa unterhielten sich über die Darsteller in "23", die Cennet auch persönlich kennengelernt hat.
"Mensch, können wir vielleicht auch mal über ein Thema reden, das mich auch interessiert?" beschwerte sich Darienne.
"Ja, such' dir eins aus", bot ich ihr an.
Da ihr kein Thema einzufallen schien, nahm ich Bezug auf ihr "Barbie"-Badge:
"Du bist auch Barbie-Fan?"
"Ja, das sieht man ja."
"Ich bin auch Barbie-Fan", sagte ich.
"Meine Tochter ist auch Barbie-Fan", sagte Cennet.
"Dann seid ihr aber hier am Tisch die einzigen", bemerkte Rafa.
"Ich habe mir erst kürzlich wieder eine gekauft", erzählte ich, "die ist von Kopf bis Fuß blau und glitzert."
"Oh nein", seufzte Darienne, "die habe ich nicht."
"Ich kenne Ken", sagte Rafa. "Und Barbie. Aber mehr kenne ich eigentlich nicht."
Cennet erzählte, daß er seiner Tochter eine Ballerina-Barbie gekauft hat.
"Ich habe eine Replik der ersten Barbie, die 1959 herauskam", sagte ich. "Sehr hübsch."
"Heute wird die für das Zehnfache bei Ebay gehandelt", wußte Rafa. "Leben deine Barbies eigentlich noch?"
"Ja, doch, schon", antwortete ich.
"Die waren doch immer so tot", erinnerte sich Rafa.
"Teilweise habe ich die schon aufgebahrt", schilderte ich meine Arrangements. "Und früher, als Teenager, hatte ich einen Katafalk auf der Fensterbank stehen, mit einem Porzellanengel am Kopfende, mit einem Kranz und einer Schleife ... Ich habe mir immer einen Barbie-Sarg gewünscht und einen Barbie-Leichenwagen, am besten in Rosa."
Ich erzählte von der Barbie, die ich an das Schwungrad einer Nähmaschine gefesselt habe und von der, die an Constris Heizung gekettet war und von der aufgeknüpften Barbie und von der, der ich ein Gummi-Skelett angezogen habe, nachdem ich den Kopf und ein Bein entfernt hatte.
Rafa wollte wissen, ob es makaber kostümierte Barbies überhaupt zu kaufen gibt.
"Auf einem Festival in KA. habe ich mal eine Domina-Barbie gesehen", erzählte ich. "Die hatte jemand selbst angezogen, mit Handschellen und so weiter. Aber die kostete 180,- Mark, und soviel Geld hatte ich nicht mit. Dafür habe ich mir stattdessen eine Schneekugel mit einem kleinen Friedhof gekauft."
"O.k."
"Auf dem Friedhof steht ein Grufti-Pärchen. Und irgendwann ist der Mann umgefallen. Da frage ich mich schon, warum ausgerechnet der Mann umgefallen ist."
"Na ja, falsch angeklebt."
"Diese Barbie-Puppen sind so wahnsinnig teuer", klagte Cennet. "Und wenn die in Kinderhände kommen, sind die so schnell zerfetzt."
"Dafür sind sie ja auch da", meinte Rafa.
"Stimmt", pflichtete ich ihm bei, "die sind ja zum Spielen da. Meine Nichte hat auch schon ihre erste Barbie."
"Hat sie die von dir?" fragte Rafa.
"Nein, von einem alten Freund von uns", antwortete ich. "Von Folter. Der hat ihr die geschenkt. Ich habe ihr eine Sandmännchen-Puppe geschenkt."
"Ost oder West?" fragte Gaelan.
"Ost", antwortete ich. "West gibt es ja zur Zeit nicht. Ich habe ihr ein Sandmännchen geschenkt, wenn man da draufdrückt, hört man das Sandmännchen-Lied."
"Und deiner Tochter?" fragte Rafa.
"Kinder habe ich ja leider nicht", entgegnete ich, "weil wir ja immer noch nicht verheiratet sind."
Ich zeigte dabei auf Rafa.
"Aber meine Schwester ist glücklich verheiratet, seit Jahren", fuhr ich fort, "und sie hat eine süße kleine Tochter, die jetzt zwei ist - Denise."
"Echt, Mensch, hast du dich nicht mal mit sechzehn verliebt?" fragte Rafa.
"Ich habe immer nur dich gesucht", antwortete ich. "Als ich dreizehn war, habe ich in einem Traum gemerkt, wie es sich anfühlt, wenn einen jemand liebt. Und nach diesem Gefühl habe ich gesucht. Und bei dir habe ich es gefunden."
"Ou Mann, du bist so weit weg von der Realität", stöhnte Rafa. "Du bist ja ganz schön weit weg. Mach's doch wie in 'Harold and Maude': Verlieb' dich in ganz viele Leute."
"Ich liebe dich und habe immer nur dich geliebt. Wenn du meine Internetseite Wort für Wort lesen würdest ..."
"Deine Internetseite ... ach, überhaupt ... was hat mein Vater mit der Geschichte zu tun?"
"Ich schreibe ja über dich", erklärte ich. "Die Seite handelt ja von dir. Denn der wichtigste Mensch, den es für mich auf Erden gibt, bist du."
"Aber ich bin doch nicht mein Vater. Mein Vater ist doch nicht ich. Was hat denn mein Vater mit mir zu tun?"
"Obwohl ich ihn nicht kannte und nie kennenlernen werde, ist er doch ein entscheidend wichtiger Bestandteil deines Lebens."
"Aber das ist mein Leben. Mein Leben, nicht deins. Das hat mit deinem nichts zu tun."
"Du bist aber für mich der wichtigste Mensch, den es gibt. Und ich denke, daß die Figur deines Vaters in der Geschichte für dich und deine Persönlichkeit eine entscheidende Rolle spielt."
"Aber er ist doch nicht ich. Du weißt doch noch nicht mal seinen Vornamen. Also, wenn mein Vater das mitgekriegt hätte, was du da gemacht hast, dann hätte der dich aber zusammengeschlagen. Und der hat oft geschlagen. Echt, wenn du ein Kerl wärst, dann hätte ich schon ... genau wie mit dem Sockenschuß, dann hätte ich dich fünfmal im 'Elizium' gegen eine Säule geknallt. Echt, wenn du ein Kerl wärst, dann würdest du aber die Mündung eines Colts sehen. Echt - du hast mich betrogen, verraten und verkauft!"
Mir ging durch den Sinn, daß Rafa genau das mit mir gemacht hat, aber ich wollte nicht aufrechnen.
"Warum kannst du das nicht einfach löschen?" fragte Rafa. "Warum geht das nicht?"
"Was du damals gesagt hast, das wiegt so schwer, das hat ein solches Gewicht, das kann ich gar nicht löschen."
"O.k., dann behalte deine Internetseite. Aber dann kannst du mich am A... lecken. Wirklich. Dann bist du mir vollkommen gleichgültig."
"Ich weiß, daß ich dich nicht kalt lasse, das weiß ich genau. Aber ich will dich ja nicht ärgern."
"'Piesacken', hattest du gemeint."
"O.k., piesacken. Oder ärgern."
"Echt, mehr hassen als du kann mich keiner!"
"Ich hasse dich nicht. Ich liebe dich. Aber du merkst nicht, daß ich dich liebe. Du kannst das nicht wahrnehmen."
"Wie wär's, wenn du aus Liebe die Seite löschst?"
"Aber dann würde ich ja mich selbst löschen", wandte ich ein. "Und ich kann mich nicht selbst löschen, denn ich bin kein Selbstmörder."
"Du kannst nicht? Du willst nicht! Es ist ganz einfach: Du mußt nur auf das Feld drücken 'delete'."
"Ich möchte so gerne einen für uns beide gangbaren Weg finden, einen Kompromiß, der für uns beide richtig ist."
"Da gibt's nichts zu diskutieren. Es gibt nur eine Möglichkeit, uns beiden gerecht zu werden: wenn du die Seite löschst. Wenn du das mit meinem Vater da 'rausnimmst. Nimm's doch einfach 'raus. Sag' doch einfach:
'O.k., Rafa, ich hab' dich verletzt, tut mir leid, ich nehm's 'raus.'
Jeder Penner auf der Straße, wenn der mir sagen würde:
'Rafa, du hast mich verletzt. Nimm' dies und das da weg, nimm' das und das Foto 'raus.'
- das würde ich doch sofort machen. Aber ich bin dir noch nicht mal so viel wert. Echt, warum kannst du das nicht einfach machen? Warum kannst du das nicht einfach löschen?"
"Die Seite bin im Grunde ich."
"Und du glaubst, daß du durch die Geschichte eine letzte Verbindung zu mir aufrechterhalten kannst. So ist es nämlich. Ey, wie findest du das?" wandte Rafa sich an Cennet. "Da erzählst du jemandem etwas, da vertraust du jemandem was an, und dann stellt der das alles ins Internet. Gibt es denn noch Schlimmeres, als wenn jemand einem das antut? Wenn man jemanden was anvertraut, daß er das dann ins Internet stellt? Ohne Absprache, das finde ich so schlimm."
"Ich hätte das gerne mit dir besprochen", sagte ich zu Rafa.
"Wenn ich das richtig verstanden habe", wandte Cennet sich an Rafa, "dann war das, was du ihr erzählt hast über deinen Vater, das war für sie bestimmt, nur für sie alleine. Das hattest du nur für sie allein bestimmt. Das hast du ihr gegeben, wie wenn man jemandem etwas gibt ..."
"Nein, das war allgemein so, wie wenn man irgendjemandem etwas gibt, wenn ich irgendjemandem was erzähle", flüchtete Rafa sich in Verallgemeinerungen, "egal, was es ist. Mensch, Hetty, warum kannst du das nicht einfach löschen? Was muß ich tun, damit du das löschst? Was muß ich tun? Muß ich dich umbringen, damit du das löschst?"
"Ja."
"Also muß erst ein Mord passieren, ehe du damit aufhörst."
"Ja, du kannst die Seite nur löschen, indem du mich umbringst."
"Nein, dann ist die Seite ja immer noch da", machte Rafa sich bewußt. "Was muß ich tun, damit du die löschst? Was kann ich tun?"
"Na ja ... eine Möglichkeit wäre, mich umzubringen. Und eine Möglichkeit wäre, einen gemeinsamen Kompromiß zu finden."
"Den brauchst du nicht zu finden. Du brauchst nicht zu diskutieren. Es gibt keine Diskussion. Sag' einfach:
'Rafa, ist gut, ich lösch' das, klar.'
Warum geht das bei dir nicht? Warum kannst du die nicht einfach löschen?"
Rafa wollte mich nicht zu Wort kommen lassen, wenn ich versuchte, etwas zu erwidern.
"Ich habe diesen einen Wunsch", beharrte er. "Kannst du mir diesen einen Wunsch erfüllen?"
"Ich hoffe, daß du mir einen Wunsch erfüllst, nämlich den, daß du mir zuhörst, damit ich dir das in aller Ruhe erklären kann."
"Ich will das nicht erklärt haben."
"Ich denke immer wieder darüber nach, wie es einen Kompromiß geben kann, der uns beiden gerecht wird. Aber dafür müßtest du mir jetzt zuhören."
"Ich will dir aber nicht zuhören. Ich will das gar nicht wissen. Wie kannst du sowas nur machen? Echt."
"Das will ich dir ja so gerne erklären."
"Das will ich aber nicht hören."
"Du stellst immer Fragen mit 'w' - 'wie' und 'warum'. Aber ich möchte darauf antworten."
"Das will ich aber nicht hören. Laß es einfach stehen als rhetorische Frage:
'Wie kannst du sowas tun?'
Bitte ... Hetty ... bitte ... bitte ... lösch' das, und es ist o.k. Lösch' das. Mensch, das ist doch so einfach."
"Das ist zu wichtig, das kann ich nicht."
"Lehne es nicht kategorisch ab", riet Cennet.
"Ich lehne es auch nicht kategorisch ab", erklärte ich, "ich habe ja schon was verändert."
"Jetzt ist langsam wirklich ultimo", fauchte Rafa. "Im Sommer habe ich es dir noch im Guten gesagt."
"Ja, und ich habe sofort danach Kapitel 1 entscheidend verändert."
"Das interessiert mich nicht. Du mußt das alles löschen."
"An Kapitel 1 habe ich sofort am Morgen danach was verändert."
"Ja, aber das ist ... das ..."
"Und wenn du das nur einem kleineren Kreis zugänglich machst?" schlug Cennet vor.
"Darüber habe ich schon nachgedacht", entgegnete ich, "aber ich bin Künstlerin. Ich kann das nicht."
"Jetzt komm' mir nicht an mit deiner sogenannten Kunst", sagte Rafa abfällig. "Durch deine Pseudo-Kunst kann man dein Verhalten nicht rechtfertigen."
"Ich schade dir mit dieser Seite nicht."
"Das muß ja ich wohl wissen, ob du mir damit schadest. Das muß ich ja wohl wissen. Und ich habe schon den Schaden, daß nämlich Leute, die ich überhaupt nicht kenne, mehr über mich wissen, als ich über mich weiß. Da kommen immer wieder Leute an, die mich vielleicht nur über meine Musik und meine Stücke kennen, die vielleicht nur W.E kennen und die Stücke kennen und dann mich auf irgendwas ansprechen, was über mein Leben, das ich noch nichtmal weiß. Echt, das Hetty-und-Rafa-Thema, das ist jetzt schon sowas von öffentlich ... Und jetzt hast du die Macht, jetzt hast du die Seite online, jetzt - bitte, lösch' diese Seite."
"Rafa, ich wünsche mir einen Kompromiß, der uns beiden gerecht wird."
"Dann werde ich mal deine Oberweite ins Internet stellen."
"Ja, mach' das."
"Nee, ich mach' sowas nicht. Ich nicht."
"Du kannst es aber ruhig machen. Es wäre nicht schlimm."
"Nee, von mir wird sowas nicht kommen. Sowas werde ich nicht machen."
"Ich möchte so gerne, daß du mich verstehst."
"Ich will dich aber gar nicht verstehen."
"Aber ich wünsche mir, daß du mich verstehst, daß du dich in meine Sichtweise hineinversetzen kannst."
"Das will ich aber gar nicht", wehrte Rafa ab. "Ich will mich gar nicht in dich hineinversetzen."
"Ich denke nach, ich denke immer wieder darüber nach, wie es einen Kompromiß geben kann, der uns beiden gerecht wird."
"Da mußt du nicht nachdenken. Da mußt du einfach nur 'delete' drücken. Ich erkläre dir das nochmal. Da gibt es unter 'PPP' eine Funktion, die heißt 'delete'. Mensch, ist das denn so schwer? Mensch, geht das nicht? Ist das nicht möglich? Geht das nicht, daß du einfach das löschst? Mensch, wenn jemand sagt:
'Du, auf deiner Internetseite ist ein Bild von mir. Das will ich nicht haben.'
- dann lösch' ich das doch weg, das ist doch gar kein Thema. Warum kannst du das nicht einfach löschen? Warum kannst du nicht sagen:
'O.k., Rafa, ist gut, ich lösch' das, alles klar, fertig.'
Wenn du das für dich allein in dein Tagebuch schreiben würdest, dann wäre das o.k., aber wenn du das ins Internet stellst, das ist wie die Bildzeitung. Jeder weiß über mich jetzt bescheid, du hast -zig Billionen Zugriffe am Tag auf die Seite ... aber das ist ja auch egal ... Wenn das wenigstens aus Versehen gewesen wäre und du gesagt hättest:
'Tut mir leid, das wußte ich nicht, daß dich das verletzt, das nehme ich selbstverständlich 'raus.'
Let's talk in English. Would you please delete this? It's the wrong way."
"Nein, ich denke, daß das gut ist, daß ich das tue."
"Dann werde ich mich mal revanchieren", kündigte Rafa an.
"Dann revanchiere dich, na klar", freute ich mich über seinen konstruktiven Vorschlag. "Mach' es."
"Nee. Was ich so schlimm finde, ist, daß jemand, den ich schon so lange kenne und den ich - sagen wir ruhig - schätze, daß jemand mich so hinters Licht führt ... daß jemand, dem ich etwas anvertraue, daß der sowas öffentlich macht, und öffentlicher als im Internet geht's gar nicht. Das ist ja noch öffentlicher als die Bildzeitung. Die Bildzeitung erscheint ja nur einmal am Tag. Das Internet ist dauernd."
"Das Internet ist ein Forum."
Cennet wandte sich an Rafa:
"Ein Journalist hat mal zu mir gesagt ..."
Rafa wollte ihn unterbrechen. Ich bremste Rafa:
"Hör' Cennet mal zu."
Cennet begann noch einmal:
"Ein Journalist hat mal zu mir gesagt:
'Erzähle mir nur das, wo du nichts dagegen hast, wenn ich es veröffentliche.'
Und da habe ich mir natürlich genau überlegt, was ich sage."
"Ich wußte es damals aber nicht", wandte Rafa ein. "Damals, als ich dir das erzählt habe, '93, '94, da war ich noch jung und doof. Da konnte ich das absolut nicht ahnen, wem ich das da erzähle."
"Ich hätte das so gerne mit dir abgesprochen", sagte ich zu Rafa. "1997 habe ich zu dir gesagt, daß ich so gerne mit dir reden möchte."
"Du hast es aber nicht mit mir abgesprochen."
"Mir wäre es aber lieber, wenn wir es miteinander absprechen würden."
"Wie ist das möglich, daß du das von deiner Seite löschst?"
"Ich möchte, daß wir die Seite zusammen schreiben. Daß wir sie gemeinsam schreiben."
"Nichts mit gemeinsam schreiben. Nur mit 'delete'. Nichts mit gemeinsam schreiben", wehrte Rafa ab. "Du genießt das doch, wenn es mir schlecht geht. Du genießt das, wenn du mich verletzen kannst."
"Nein", schaltete Cennet sich dazwischen. "So schätze ich sie eigentlich nicht ein, Rafa. So schätze ich Hetty eigentlich nicht ein."
"Die Geschichte ist für dich da", sagte ich zu Rafa. "Sie ist nichts, womit ich dich kaputtmachen will."
"Sie hat schon insofern recht, als sie dir nicht schaden will", sagte Cennet zu Rafa. "So gut kenne ich sie schon, daß ich mir sicher bin, daß sie dir nicht schaden will."
"Dann behalt' deine Internetseite, werd' selig mit deiner Internetseite", sagte Rafa wegwerfend. "Aber dann bist du mir vollkommen gleichgültig."
"Das bin ich dir doch schon seit Jahren."
"Ja, aber so gleichgültig warst du mir bisher noch nie. Echt ... mein Haß verwandelt sich allmählich nur noch in Mitleid, weil du glaubst, nur mit dieser Internetseite zu existieren."
"Ich bin nicht wütend auf dich, wenn du mich haßt. Meine Liebe bleibt davon unberührt."
"Ja, dann lösch' doch die Seite, weil du mich liebst. Wär' denn das nicht mal was? Aus Liebe zu mir löschst du die Seite."
"Wenn ich jemanden liebe und mich selber lösche für ihn, dann hat er von mir ja nichts mehr. Es hat ja keinen Sinn, mich selbst kaputtzumachen für jemanden, den ich liebe. Der muß ja von mir was haben."
"Ach, und du existierst nur durch diese Seite?"
"Ja, die Seite gibt mich wieder. Das bin ich."
"Das hört sich aber schon verdammt nach Psychotherapie an."
"Na , Psychotherapeut bin ich ja."
"Dann kannst du ja den Satz vorne auf deine Internetseite stellen:
'Wenn ich das lösche, sterbe ich.'"
"Ja, klar, das mache ich doch gern", freute ich mich. "Diesen Satz stelle ich ganz vorne hin. Das ist das erste Mal, daß wir an dieser Geschichte was gemeinsam machen."
"Nee, nee, das ist gar nicht nötig", erwiderte Rafa. "Du weißt, wie gesagt - die Funktion 'delete' - und fertig."
Rafa machte den Vorschlag, im Keller Tischfußball zu spielen. Cennet wollte mitgehen. Vorher wollten sie aber noch aufrauchen. Die Kellnerin kam und teilte mit, man werde gleich schließen.
"Dann sollten wir wohl mal den Abflug machen", sagte Rafa.
Jeder gab jedem die Hand, Rafa gab auch mir die Hand. Ich legte meine linke Hand über seine rechte.
"Hetty - lösch' die Seite", drängte er. "Ich sag's nochmal - lösch' die Seite."
"Rafa, ich wünsche mir einen Kompromiß, der uns beiden gerecht wird."
"Mach' es. Mach' es. Du löschst die Seite, ja? Du löschst die, nicht wahr?"
"Rafa, ich würde dir das so gerne erklären."
"Mach' es. Bit-te."
Im Auto sagte Cennet, Rafa sei ihm sehr sympathisch.
"Rafa ist aber auch sehr schwierig", wandte ich ein.
"Das habe ich wohl gemerkt. Mich hat's erstaunt, wie betroffen er war wegen deiner Internetseite. Ich kann dich verstehen, und ich kann auch Rafa verstehen."
"Es beschäftigt mich sehr", betonte ich. "Ich würde gern mit ihm gemeinsam einen Kompromiß finden, der uns beiden gerecht wird. Aber ich denke auch, wo gehobelt wird, fallen Späne. Wenn man jemandem wirklich helfen will, geht das manchmal nur so, daß er auf einen wütend ist und glaubt, man wolle ihm schaden."
Meine Mutter vermutet, daß meine Internetseite für Rafa eine Möglichkeit ist, immer wieder eine Brücke zu mir zu schlagen. Wenn er dieses Thema anschneide, brauche er sich um Gesprächsstoff nicht zu sorgen. Er behandle das Thema in ritualisierter Form, mit immer den gleichen Argumenten und Antworten. Eigentlich wisse er längst, daß die Internetseite sich nicht gegen ihn richtet.
Isis meinte, sie verstehe nicht, weshalb sich Rafa über meinen Online-Roman "Im Netz" so aufrege. Für Außenstehende sei praktisch nicht erkennbar, von wem die Rede sei, da die Namen geändert worden seien. Außerdem sei es doch eigentlich eine Ehre, wenn jemand sich so viele Gedanken um ihn mache.
Ivco meinte zu Rafas "Enthüllung" im "Mute", bestimmt habe Rafa mich damit nur ärgern wollen.
Ich mailte:

Daß es Rafa eigentlich darum geht, mich zu ärgern, wenn er sich vor mir die Hosen runterzieht, das denke ich auch! Nur find ichs erstaunlich, daß er sich meinetwegen immer wieder auf eine so ritualisierte Art "bloßstellt". Denn er mußte ja Energie aufwenden, um auf eine so kranke Idee zu kommen. Und er nimmt (meinetwegen) in Kauf, in der Öffentlichkeit peinlich zu wirken. Ich denke nämlich, das wirkt extrem peinlich, wenn jemand sowas auf der Tanzfläche bringt. Und wenn er, wie Rafa, anschließend mir gegenüber tanzt und mich anstrahlt, erst recht, weils inkonsequent ist.

Ivco mailte:

Rafa macht ja öfters Sachen, um zu schockieren oder zu provozieren. Da gehört sein blanker Po wohl auch hin. Meine Mutter brachte neulich einen Flugzettel mit, den er auf dem Marktplatz verteilt hat. Der ist sprachlich so dermaßen daneben, dass ich mir das auch nur mit Provokation erklären kann - wenn nicht, müsste ich mir mein Verhältnis zu ihm ernsthaft überlegen!

Ich mailte an Ivco:

Was war das denn für ein Flugzettel, den Rafa auf dem Marktplatz verteilt hat? Das macht mich neugierig!

Ivco tippte mir den Inhalt des Flugzettels in eine E-Mail:

K.K.F.
KOMMUNE DER KOLLEKTIVEN FALLENLASSUNG

Wir brauchen Sie ...
... für eine bessere Welt
... für die Freundschaft
... für einen ordentlichen Hirnf...
... für neue Werte & Normen
... für einen Toiletten-Trunk

Wir scheissen auf ...
... Unterdrückung und Versklavung
... jeden menschlichen Ballast
... Restef...er, Frauen und Parasiten
... das private Eigentum
... Sie, wenn Sie ein Vollidiot sind.

Alles beginnt und endet zur richtigen Zeit am richtigen Ort!


Soweit der Text. Ganz unten steht noch eine Netzadresse, an der aber keine Seite hinterlegt ist. Verteilt haben Rafa, Darienne und Herr Lehmann (letztere mit ärztlichem Mundschutz) die Flugzettel nach Eurer Aktion im "Mute" / "Nachtbarhaus". Rafa meinte gestern, sie hätten das nur aus Witz gemacht und um zu beobachten, wie die Leute reagieren. Offenbar fanden sie das wirklich witzig und spaßig. Na ja, von Rafa und Anwar kennen wir ja solche Aktionen, in der Leute angesprochen und z. B. interviewt werden. Es geht ihnen dabei gar nicht um den Inhalt, sondern nur darum, die Reaktionen zu beobachten in der Hoffnung, dass da etwas Witziges oder Peinliches an den Tag gelangt.

Ich mailte:

Spannend, das mit dem Flugzettel! Darienne und Herr Lehmann mit Mundschutz, die Idee hatte wahrscheinlich Rafa ... er sieht sich vielleicht als eine Art Eulenspiegel.
In dem Flugzettel klingt auch ein gewisser Frauenhaß an (wenn man bei so einem Nonsens überhaupt von sowas reden kann).

Am Samstagabend kamen Rikka und Domian zu mir, und mit ihnen fuhr ich zum "Lost Sounds". Talis unterhielt sich mit Rikka und sagte danach zu mir, Rikka verschlechtere sich, was ihre Freunde betreffe. Nur Adrian sei in seinen Augen ganz in Ordnung gewesen, Rikkas andere Freunde jedoch seien ein echter Abstieg:
"Solche Fuzzis ..."
Was er an Domian auszusetzen hat, weiß ich nicht, aber es könnte sein, daß Talis insgeheim noch immer ein wenig leidet unter dem Ende seiner Beziehung mit Rikka vor elf Jahren.
Janice und Talis stecken in den Vorbereitungen für ihre Hochzeit am 15. April. Talis verzichtet deshalb auf seine Geburtstagsfeier. Es sei einfach nicht zu schaffen.
Morgan erzählte, daß er weiterhin mit Seraf an dem musikalischen Projekt Eo Ipso arbeitet und daß geplant ist, Berenice als Sängerin einzusetzen.
"Sie hat nicht viel Ausdruck", meinte ich, "aber ihr versteht euch mit ihr, und das ist doch in Ordnung."
"Seraf kennt sie halt", meinte Morgan. "Ich kenne sie ja kaum."
"Ich bin so froh, daß sie endlich von Rafa getrennt ist", meinte ich. "Erstens ist sie glücklicher ohne ihn als mit ihm, und zweitens steht sie mir nicht mehr im Weg. Rafa und sie haben doch nie zusammengepaßt."
"Das haben ihr schon viele Leute gesagt", erzählte Morgan.
"Die haben sich doch nur gegenseitig ausgenutzt", meinte ich. "Er konnte sie gut für sein Ego gebrauchen und sie ihn auch für ihr Ego, weil sie gedacht hat, sie ist wichtig, weil sie in der Band ist. Das war eine Zweckbeziehung."
"Für uns ist es auch eine Zweckbeziehung", gestand Morgan zu. "'Soraya von W.E', das ist ein Name, der ist schon etwas bekannter, und wir können so einen Namen gut gebrauchen."
Tricky erzählte, tags zuvor im "Mute" sei er furchtbar betrunken gewesen. Ich meinte, ich hätte im "Mute" noch mehr Leute getroffen, die ziemlich betrunken gewesen seien. Ich erzählte von dem Frühstück mit Rafa und von meinen Versuchen, ihm bezüglich seines Zigarettenkonsums Problembewußtsein zu vermitteln. Tricky erzählte, er habe acht Monate lang nicht geraucht, weil seine Freundin Nichtraucherin gewesen sei, und als die Beziehung zerbrochen sei, habe er wieder angefangen. Es sei nicht gut gewesen, acht Monate lang auf das Rauchen zu verzichten, da er deswegen zugenommen habe. Die gesundheitlichen Risiken des Rauchens würden ihn nicht kümmern, weil die Luft in der Großstadt ohnehin schadstoffbelastet sei, weil jeder mal sterben müsse und weil man auch bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommen könne.
Lucas war mit einem Mädchen da, dem erzählte ich auch von meiner Begegnung mit Rafa.
"Stehst du nicht auch schon drei, vier Jahre auf Rafa?" erkundigte sie sich.
"Ich stehe nicht auf ihn, ich liebe ihn", meinte ich, "und es sind nicht vier Jahre, sondern zwölf. Er hat angefangen, er wollte mich kennenlernen. Das mit seiner Musik ging erst später los, das hatte mit unserer Beziehung nie etwas zu tun."
Sie meinte, sie wundere sich über meine Geduld und meinen Optimismus.
"Es geht auch darum, daß er mit dem Rauchen aufhört", erzählte ich. "Ich will erreichen, daß er möglichst lange lebt."
Im "Lost Sounds" trifft man viele ehemalige Stammgäste des "Elizium". Unter ihnen war Topas, die ich bisher nur vom Sehen kannte. Sie sprach mich an:
"Du, ich wollte dir nur sagen, daß du heute ultra-super-geil aussiehst."
"Danke", sagte ich. "Das freut mich. Kürzlich wollte ich mir unbedingt endlich mal Nadelstreifen-Corsagen kaufen, weil ich diesen Gegensatz zwischen braven Nadelstreifen und scharfen Schnitten so mag."
"Aber es ist nicht nur die Corsage", meinte Topas, "es ist das gesamte Styling, von Kopf bis Fuß."
"Ist auch alles durchdacht", erzählte ich. "Das Haarteil habe ich aus dem Kaufhaus ..."
"Das ist künstlich? Das fällt gar nicht auf. Es sieht wie kunstvolle Flechtarbeit aus."
"Ja, die Arbeit hatten die in der Fabrik schon."
Clarice und Leander waren beide im "Lost Sounds". Sie knutschte mit einem anderen Jungen, er mit einem anderen Mädchen. Talis fand das befremdlich. Ich erzählte ihm, daß Clarice - soweit ich weiß - ihrem Mann treu ist, aber sich die Freiheit vorbehält, mit anderen Männern zu knutschen, eine Freiheit, die sie auch ihrem Mann zugesteht.
Brandon erzählte, daß seine Mutter sich zur Zeit in einer manischen Phase befinde und nun im Rahmen ihrer seelischen Erkrankung das Haus der Familie verkaufe. Das Geld, das sie dafür erhalte, wolle sie ihrem Liebhaber schenken. Die Wahrscheinlichkeit, für die Mutter eine juristische Betreuung erwirken zu können, sei sehr gering. Er verstehe nun, warum ihn sein Vater auf dem Sterbebett gebeten habe, auf die Mutter aufzupassen. Die vergangenen dreißig Jahre habe der Vater schon auf die Mutter aufpassen müssen.
Brandon ist Diplom-Sozialwirt und arbeitet an seiner Dissertation. Er hat einen Nebenverdienst durch Nachtwachen in der Psychiatrie. Der Leiter der Station, wo er vorwiegend gearbeitet habe, sei ihm gram, wahrscheinlich weil er gemerkt habe, daß Brandon ihm einiges voraus habe. So sei es wohl zu erklären, daß er nun aus dem Job herausgemobbt werde.
"Beschaffe dir eine Zusatzqualifikation, die dich von der Meinung eines Stationsleiters unabhängig macht", riet ich.
"Bin ich gerade bei", erzählte Brandon.
Er findet, Leute wie er und ich seien nicht auf Dauer für ein Angestelltenverhältnis geschaffen. Er kenne mehrere, die sich selbständig gemacht hätten, und keiner habe es je bereut.
Ich erzählte Brandon, wie wütend Rafa auf mich ist wegen meiner Internetseite. Brandon zitierte:
"Narziß erblickte sein Spiegelbild und erschrak. Er drehte sich um und rief in den Wald:
'Wald, warum tust du mir das an?'
Und aus dem Wald rief es:
'Warum tust du mir das an?'"
"Das ist doch genau wie die Geschichte von Rafa", staunte ich. "Wo hast du das her?"
"Von Ovidius. Das ist der Mythos von Narziß und Echo."
"Rafa kann es doch auch nicht ertragen, sich im Spiegel gezeigt zu bekommen. Wenn er nur die Geschichte 'Im Netz' jemals wirklich Wort für Wort lesen würde ..."
"Er erfaßt nur die rationale Botschaft der Worte", vermutete Brandon, "die emotionale Botschaft erreicht ihn nicht, denn davor steht die Abwehr."
"Und die ist immer unbewußt. Die Abwehr ist die Mauer."
"Die Mauer ist wie der Eisenofen in dem Märchen der Brüder Grimm", meinte Brandon. "Das Märchen vom Eisenofen gibt genau die Problematik des Narzißmus wieder."
In dem Märchen ist ein Königssohn verwünscht, daß er in einem Eisenofen sitzen muß. Eine Königstochter muß mit einem Messer so lange an dem Eisenofen kratzen, bis ein Loch entsteht, das groß genug ist, ihn herauszulassen. Damit hat sie ihn aber noch lange nicht erlöst.
Brandon hat eine Arbeit über Narzißmustheorien geschrieben, die er mir mailen will. Ich finde, das Thema paßt gut zu Brandon, denn eine Selbstwertstörung hat auch er, und die Beschäftigung mit dem Thema hilft ihm, damit umzugehen.
Um drei Uhr kam ich in die "Lagerhalle". Cyra überließ weitgehend Hal das Pult. Hal spielte unter anderem "Flesh & Bone" von The Hacker und mehrere Stücke von seinem nächsten Album, das im April erscheinen soll. Als ich zu ihm hinters DJ-Pult kam, knuddelte er mich freudig. Er berichtete, daß er im April auf Tour geht und zeigte mir auf einem Flyer die Daten. Ich sagte ihm, daß für mich am ehesten der Termin in MD. infrage käme. Er meinte, er würde sich freuen, mich dort zu sehen. Er hatte sich heute ein besonders hübsches Hemd angezogen, mit Halbarm, aus einem feinen schwarzen Stoff, vorne bestickt mit flammenförmigen roten Linien, die gut zu seinem keltisch-rothaarigen Typ passen.
Ein Stück von Hals nächstem Album, das mir besonders gefällt, heißt "Homeward".
"Heimwärts", übersetzte Hal.
Die Party endete gegen sechs Uhr morgens. Hal erzählte, er sei sehr müde, weil er während der gesamten vergangenen Woche täglich nicht mehr als sechs Stunden Schlaf gehabt habe.
"Für mich ist das viel", erzählte ich. "Meistens habe ich nur vier bis fünf Stunden."
"Oh, damit könnte ich nicht existieren", meinte Hal.
Zur Zeit organisiert Hal seine Tour im April und hofft, bis dahin mit den Vorbereitungen fertigzuwerden. Von seiner Musik könne er leben, von Beruf sei er eigentlich Produzent. Er bedauert, daß der Elektro-Bereich von Radio- und Musiksendern nicht ausreichend beachtet wird.
"Die spielen viel Gothic-Rock", sagte er, "seit Within Temptation und Nightwish so erfolgreich sind. Jede Gothic-Rock-Band kriegt heute einen Major-Vertrag und ein Video. Diese Videos kosten 20.000 oder 30.000 Euro, und diese Bands machen ein Album, und danach kommt nie wieder eines ..."
Zumindest im "elektronischen Sektor" gilt Hals Band VNV Nation seit sechs Jahren als Dauerbrenner. Und zumindest die Alternative Charts werden von VNV Nation regelmäßig gestürmt.
Als wäre Hals Schlafbedürfnis auf mich übergetreten, konnte ich in den kommenden zwei Tagen das Bett fast nicht mehr verlassen. Schuld war vielleicht ein Virus, vielleicht auch mehrere. Constri und Denise mußten ins Kinderkrankenhaus, weil Denise sich übergab und nichts bei sich behielt. Denise kam an den Tropf und schlief auf Constri. In das Gitterbett in ihrem Krankenzimmer wollte Denise nicht.
Am frühen Morgen des 21. Februar kam Jay zur Welt, der Sohn von Alban und meiner Cousine Vivien. Für Viviens Eltern Britta und Wilko ist es das erste Enkelkind.
Constris frühere Kommilitonin Kyra hat seit dem 13. Februar ebenfalls einen Sohn.
Nancy hat einen neuen Freund, zum Jahreswechsel ist sie mit ihm zusammengekommen. Von ihrer Krankheit - Chorea Huntington - wußte er damals schon, das schreckte ihn aber nicht. Nancy berichtete am Telefon, daß es ihr recht gut gehe und daß sie zur Zeit ganz und gar nicht an Selbstmord denke. Das Leben finde sie viel zu schön. Sie hatte eigentlich vorgehabt, sich bei Ausbruch der unheilbaren Erbkrankheit umzubringen; davon ist sie nun abgekommen.
Als ich Tron erzählte, daß Rafa in der Kindheit oft geschlagen wurde, meinte Tron, Schläge seien durchaus ein Erziehungsmittel. Schaden könnten sie nicht, sonst hätte die Menschheit nicht bis heute überlebt.
Ich mailte:

"Erziehung" durch Schläge in der Kindheit haben schon so manchen verkorkst, zumindest insofern, als der Betroffene keine anderen Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung (kennen)lernte. Schläge sind meiner Meinung nach Ausdruck der Hilflosigkeit der Eltern und kein Erziehungsmittel (steht übrigens auch im Gesetzbuch, daß Schläge kein Erziehungsmittel sind). Kinder sollten, finde ich, lernen, konstruktiv Konflikte zu lösen, und das müssen ihnen die Eltern vorleben! Der Klaps auf den Po, mehr symbolisch, mag noch als erzieherisch gelten (steht auch so im Gesetz), aber nicht Schläge ins Gesicht (Demütigung!) oder gar Stockschläge (Mißhandlung!). Ist strafbar! Rafas Vater hat aber die Kinder mit dem Rohrstock verprügelt (so hats mir Rafas Bruder erzählt). Grenzen kann und soll man anders setzen, finde ich, damit die Kinder lernen, wie man ohne Gewalt Grenzen setzen kann. Das geht nämlich! Meine Nichte Denise lernt ihre Grenzen auch ohne Gewalt kennen. Auch mein Patenkind Elaine kennt ihre Grenzen, ohne je geschlagen worden zu sein. Wenn man ein Kind gegen dessen Willen in einen Autositz steckt, ist das, finde ich, keine Gewalt, sondern ein Aufzeigen von Grenzen. Wenn man das Kind dabei schlägt oder anschreit, ist das schon Gewalt, finde ich.

Tron mailte:

Ich denke, wir reden von unterschiedlichen Dingen, also Rohrstock und sowas ist mir und in meinem Bekanntenkreis völlig unbekannt.

Zu meinem Wunsch, Rafa das Rauchen abzugewöhnen, meinte Tron, es sei sinnlos, das zu versuchen. Ich müsse seinen vorzeitigen Tod hinnehmen, denn nur der Suchtkranke selber könne entscheiden, sein süchtiges Verhalten zu beenden, und bei Rafa sehe er schwarz, ebenso wie bei sich selbst; Rafa und er rauchten übrigens dieselbe Sorte.
Ich mailte:

Rafas Nikotinsucht kann und werde ich nicht hinnehmen. Diese Sucht hat ihre Gründe; sehr wahrscheinlich stecken ungelöste Konflikte dahinter. Rafas Zigarettenkonsum ist verknüpft mit Nervosität. Er scheint sich an die Zigaretten regelrecht zu klammern. Sie sollen ihm zu etwas verhelfen, das er in sich selbst nicht findet. Wenn ich gar nichts tue und nur zusehe, wie Rafa sich auf Raten umbringt, wird er auch nichts an seinem Verhalten ändern, da versuche ich es doch lieber wenigstens auf der "Vernunftebene", als es gar nicht zu versuchen. Schließlich ist sein Leben für mich genauso wichtig wie mein eigenes. Und mein Leben ist mir sehr wichtig. So sehr ich mich für mich einsetze, so sehr setze ich mich auch für ihn ein.

Tron erzählte von einem Vorläufer des C64, dem VC20:

Den VC20 gab es vor dem C64. War Commodores erster Homecomputer. Von den Fähigkeiten liegt er zwischen dem Atari 2600 und C64. Er hatte ganz wenig Speicher bei der Auslieferung, darum konnte er sehr preiswert verkauft werden. Commodore stellte ihre Chips selber her, und die hatten eine Überproduktion an veralteten Speicherbausteinen im Lager, also dachten sie sich, bauen sie die alle in einen Homecomputer ein. So besteht die halbe Platine nur aus Speicherbausteinen, und es sind trotzdem nur 5 kByte!!!! Der 64er hatte 2 - 8 Bausteine und 64 kByte Speicher, die Grafik beim VC20 war eher rudimentär vorhanden. Der C64 war eher die Killermaschine, der erste IBM-PC hatte weniger Speicher als der C64! Und der C64-Sound war zu seiner Zeit unschlagbar.
Im Prinzip war der VC20 eine gute Möglichkeit, die Lager zu leeren und die Leute auf das Erscheinen des C64 vorzubereiten, alles klar ;)
Ich stelle Dir mal nen kleinen VC20 und C64 Mix zusammen, dann kannst Du selber vergleichen.
Zwischen dem Sound liegen Welten, da wirst Du mir sicher zustimmen. Was am meisten auffällt, ist, dass der VC20 den Ton nur ein- oder ausschalten kann. Vor 25 Jahren hat man das bestimmt grausam gefunden, heute kommt es dagegen witzig, irgendwie minimal.

Ich mailte:

Die Geschichte von dem VC20 finde ich sehr interessant! Auch die Sounds! Schräg!

Ende Februar war ich mit Thorsten "Pattex" Pattek im Harz. Pattex ist sehr anhänglich und außerdem in mich verliebt, ohne sich jedoch dafür zu interessieren, was ich für ein Mensch bin. Er geht mir auf die Nerven, doch weil er im Harz aufgewachsen ist und sich in der winterlichen Gebirgslandschaft auskennt, machte ich den Ausflug mit ihm.
Pattex erzählte von seiner Arbeit; er lebt vom Handel mit Sammler-Briefmarken. Das fand ich interessant. Pattex erzählte auch von seinen Sauftouren. Das fand ich weniger interessant. Ich erklärte ihm, daß er keinen guten Eindruck bei seinen Mitmenschen macht, wenn er betrunken ist. Im "Mute" habe ich ihn bisher nur betrunken erlebt. Er trinkt, weil er sich sonst beim Ausgehen unsicher fühlt, schneidet sich damit aber ins eigene Fleisch, weil er mit dem distanzlosen Verhalten, das er im betrunkenen Zustand zeigt, auf Frauen nicht eben anziehend wirkt.
Eine kurze Rast machten wir an einer Talsperre; ich fotografierte den zugefrorenen Stausee und das Generatorenhäuschen.
Durch ein verschneites Dorf wanderten wir bergan. Unterhalb eines Holzhäuschens plätscherte ein Bach; fließendes Wasser gefriert nicht so leicht wie stehendes. Die Dorfkirche trug eine Inschrift über der Tür:

Die Höhen der Berge sind auch Sein.
Wenn am Schemel Seiner Füße
und am Thron schon solcher Schein
was muss dann in Seinem Herzen
erst für Glanz und Wonne sein!

Der Kirchhof war fast völlig im Schnee versunken; von den Grabsteinen schaute nur noch ein kleines Stück heraus. Der Waldweg oberhalb des Dorfes war geräumt. Zu beiden Seiten blickte man in einen Tannenwald, der an die Bilder auf Adventskalendern erinnerte. Die Brockenbahn hat eine Dampflok. Wir stiegen in den letzten Waggon und stellten uns hinten auf eine Plattform. Der Dampf wehte zwischen den Tannen nach oben und hüllte sie ein, wodurch sich außergewöhnliche Fotomotive ergaben. Je höher wir kamen, desto niedriger und spärlicher wurden die Bäume; sie standen unter der Schneelast wie gebeugte Menschen. Der Nebel wurde immer dichter. Auf dem Gipfel hatten wir nur noch eine Sicht von zehn Metern. Wir besuchten die wenigen Gebäude, die dort oben stehen, den Gasthof, das Hotel mit seinem Café und das Museum. Im Hotel, das sich in einem Turm befindet, gibt es im obersten Stockwerk einen großen leeren Aussichtsraum mit ringsum verglasten Wänden, durch die man nur dichten Nebel sah. In Touristik-Broschüren wirbt das Hotel mit der Aussicht über den Harz, in Faltblättchen über den Brocken liest man aber, daß dort fast immer dichter Nebel herrscht.
Wir schauten uns auch das Innere einer Funkstation an, eine bizarre Welt aus Schrauben und Drähten unter einer stählernen Kuppel.
In der Nacht war ich im "Byzanz". Der Garderobenmann berichtete, daß Puppen-Theo Ende Januar seine Veranstaltungen in der "Neuen Sachlichkeit" aufgegeben hat. Den Grund wisse er nicht. Ein Bekannter von Abraxas habe kurzfristig die schon geplanten Termine von Puppen-Theo übernommen, so daß vorerst die Veranstaltungsreihe in der "Neuen Sachlichkeit" fortgesetzt werden könne. Nun fehle zwar die aufwendige Dekoration der Halle, doch die Musik sei wie vorher, und es gebe auch weiterhin das kostenlose Frühstück.
Kitty und Vico waren mit einem Mädchen im "Byzanz", dessen Aussehen mich an Berenice erinnerte. Sie trug blondierte Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden, und stand mit Zigarette an einem Geländer. In der folgenden Nacht waren die drei in der "Neuen Sachlichkeit". Roman bestätigte, daß es sich bei der Blondierten tatsächlich um Berenice handelte.
"Ich habe sie angesprochen, weil ich sie unheimlich schön finde", erzählte er. "Sie wohnt in ER. und ist zufällig für kurze Zeit beruflich hier."
Berenice umarmte und küßte mehrere ihrer Bekannten überschwenglich.
Das kostenlose Frühstück gab es dieses Mal erst um fünf Uhr. Es war reichlich wie immer.
Die Party dauerte bis halb sieben. Als die letzten Gäste den Saal verließen, stand ich am Eingang des Saales und wartete, bis Ferry und Berit sich zu mir gesellten, weil ich sie nach Hause bringen wollte. Berenice kam auf mich zu, reichte mir die Hand und sagte aufgeregt:
"Jetzt können wir doch, nicht? Jetzt können wir doch?"
Ich nahm die Hand und sagte:
"Ja, sicher."
"Jetzt haben wir doch nichts mehr gegeneinander, oder? Jetzt sind wir doch keine Feinde mehr, oder?"
"Nein, sind wir nicht."
"Jetzt gibt es doch keinen Grund mehr, warum wir Feinde sein sollten, oder?"
"Nein."
Sie umarmte mich und gab mir nochmals die Hand.
"Was fühlst du jetzt?" fragte sie. "Was fühlst du?"
"Ich dachte es mir."
"Was fühlst du?"
"Ich habe es mir gedacht."
"Eigentlich haben wir uns doch nie was getan, oder?"
"Nein."
"Nein, jetzt wirklich?" fragte sie. "Meinst du das jetzt ehrlich?"
"Ja."
"Ich meine das jetzt ehrlich."
"Ja, davon bin ich überzeugt."
Berenice schienen die Ereignisse im "Exil" im Juli 2001 noch immer zu belasten. Sie versicherte:
"Das Minikeyboard, das wollte ich dir wirklich nur geben."
"Ja, ich glaub' dir das."
"Ehrlich?"
"Ja."
"Ehrlich?"
"Ja."
"Das war nämlich so: Rafa wollte dir das wiedergeben und hat zu mir gesagt:
'Gib du ihr das.'
Und da habe ich das eben gemacht."
"Das ist ja ein Schuft."
"Aber sonst haben wir uns doch nie was getan, oder?"
"Nein."
"Es gibt doch keinen Grund, daß wir uns hassen, oder?"
"Nein", versicherte ich. "Ich weiß, daß Rafa die Frauen gegeneinander ausspielt. Kürzlich hat er es schon wieder versucht, er hat es aber nicht geschafft. Es klappte nicht."
"Ich wohne jetzt in Bayern", erzählte Berenice. "Ich bin nicht mehr oft hier."
"Ich weiß. Eine Freundin von mir arbeitet in WÜ. Die macht das Gleiche wie du."
"Ach, die ist auch Biologin."
"Ja, die macht auch ihren Doktor. Aber eben nicht in ER., sondern in WÜ."
"Vielleicht ist die ab und zu in N.?"
"Das könnte ich mir schon vorstellen."
"Kennt die das 'Doom'?"
"Ich werde ihr das mal vorschlagen. Weil sie auch gerne in der Szene unterwegs ist, kann ich mir schon vorstellen, daß sie da mal hinkommt."
"Ich habe ein bißchen deine Internetseite gelesen", erzählte Berenice, "weil Ivco gemeint hat, ich soll da mal draufgucken. Da hast du auch Unsinn über mich erzählt. Aber ich bin dir nicht böse deshalb. Ich nehme dir das nicht krumm. Ich hasse dich nicht dafür."
"Das ist o.k."
"In deiner Seite habe ich 'rausgelesen, daß du einen Traum hast."
"Ja."
"Stehst du dazu?"
"Ja."
"Stehst du dazu?"
"Ja."
"Oh, du kennst Rafa nicht ...", seufzte sie. "Mensch, ich war siebeneinhalb Jahre mit dem zusammen."
"Ich weiß. Ich kenne ihn seit zwölf Jahren."
"Ja, aber ich war mit dem zusammen", sagte sie und bekam einen angestrengten Blick. "Mensch, du weißt nicht, wie der ist."
"Oh, seine Fehler kenne ich schon."
"Aber du kennst nicht diese Streits. Du hast die Streits nicht erlebt."
"Wir hatten auch schon unsere Auseinandersetzungen", erzählte ich. "Aber natürlich hast du ihn von einer anderen Seite kennengelernt als ich."
"Mensch, der hätte mich geheiratet."
"Ja, das glaube ich dir, daß der dich geheiratet hätte."
"Und ich sage dir, wenn du die letzte Frau auf der Erde wärst, er würde dich nicht nehmen."
"Das weiß ich, daß der mich nicht will."
"Warum willst du ihn dann immer noch?"
"Das ist ein weites Feld. Das ist schwer zu erklären und schwer zu verstehen. Die Komponenten, an denen ich ihn erkannt habe, sind so vielschichtig, daß es kaum möglich ist, es zu beschreiben."
"Aber der will dich doch nicht."
"Wenn der mich nicht will, dann hat er Pech gehabt."
"Mensch, es gibt so viele nette Männer auf der Welt."
"Das stimmt. Ich kenne unheimlich viele nette, sympathische Männer."
"Warum willst du Rafa dann noch?"
"Liebe ist ein blödes Wort, weil darunter sowieso jeder etwas anderes versteht."
"Das ist keine Liebe", war Berenice sicher. "Das ist Versessenheit."
"Nein, ich erlebe das anders. Es ist jedenfalls schwer zu verstehen."
"Das kann doch gar keiner verstehen."
"Doch, so zwei, drei Leute verstehen das schon."
"Das kann keiner verstehen."
"Ich verstehe es, und das ist für mich die Hauptsache."
"Ich sage, such' dir einen anderen. Such' dir bloß einen anderen. Ich bitte dich, ich rate es dir. Such' dir bloß einen anderen."
"Du scheinst mit Rafa sehr einschneidende Erlebnisse gehabt zu haben, die dich emotional nachhaltig geprägt haben."
"Mensch, du hast nur ein Leben. Du hast nur ein einziges Leben. Ich habe jetzt mein Glück gefunden. Und du kannst dein Glück auch finden."
"Ich werde mal sehen, wie Rafa sich demnächst verhält."
"Aber was willst du machen, wenn er dich nie nimmt?"
"Dann bleibe ich alleine."
"Du willst dann alleine bleiben?"
"Ja."
"Warum? Warum willst du alleine bleiben? Warum?"
"Weil mir Ehrlichkeit sehr wichtig ist. Ich wäre unehrlich, wenn ich mit jemand anderem als Rafa zusammen wäre."
"Ich bin sicher, du leidest."
"Glücklich bin ich nicht, aber es ist besser für mich, allein zu bleiben, als mit einem anderen Mann als Rafa zusammen zu sein. Es ist mir sehr wichtig, mich nach meinen Gefühlen zu richten."
"Mensch, Hetty, das ist dein Leben. Es gibt so viele nette Männer auf der Welt. Such' dir irgendeinen lieben, netten Mann."
"Ehrlichkeit ist mir sehr wichtig. Und ich könnte andere Männer nur belügen. Ich kenne so viele nette, sympathische Männer, und ich will die nicht belügen. Wenn ich mit denen zusammen wäre, würde ich die belügen."
"Wollen wir schreiben?" fragte sie.
"Du kannst mir gerne eine E-Mail schicken."
Ich gab ihr meine Visitenkarte.
"Und du antwortest auch?" fragte sie.
"Ja, sicher. Auf jeden Fall antworte ich."
"Wirklich ... ich meine das wirklich ehrlich."
"Ja, das glaube ich dir. Ganz bestimmt."
Sie umarmte mich mehrfach und wiederholte:
"Ich meine es wirklich ehrlich."
"Das glaube ich dir."
Als ich mit Ferry und Berit zum Auto ging, staunte Berit:
"Was ist denn das, Hetty? Du paktierst mit dem Feind."
"Das muß man relativ sehen", meinte ich. "Mein Gegner ist ja eigentlich Rafa, beziehungsweise die Mauer in seinem Kopf."
In einer E-Mail erzählte ich Ivco von meiner Begegnung mit Berenice in der "Neuen Sachlichkeit". Er mailte:

Danke für die Schilderungen von Berenice, finde ich ja super, dass sie Dich angesprochen hat und dass Du trotz ihres "Angriffs" das Gespräch nicht abgeblockt hast. So muss das sein! Irgendwann sollte man Vergangenheit auch mal Vergangenheit sein lassen. Ansonsten schien sie Dir das geraten zu haben, was schon viele Leute geraten haben. Die Entscheidung kann natürlich nur bei Dir liegen. Einerseits bewundere ich Dich ja für Deine Konsequenz, andererseits bin ich wohl zu sehr Kaufmann: Wenn sich eine Sache nicht mehr lohnt, lasse ich es lieber bleiben.
Da fällt mir auf, dass dieses Motto auf zwei Weisen verstanden werden kann:
Eigentlich wollte ich sagen, dass sich Dein Warten auf Rafa nicht mehr lohnt und Du es lieber bleiben lassen solltest. Andererseits betonst Du ja auch immer, dass sich andere Männer nicht lohnen und Du daher erst gar nichts mit ihnen anfängst. Na ja, wie auch immer, Du hast ja Deine Entscheidung getroffen und wirst diese auch so schnell nicht ändern.

Ich mailte:

Ja, Rafas Exfreundinnen waren nie Primärfeindinnen von mir, die Gegnerrolle ergab sich nur durch deren Beziehung mit Rafa, also brauche ich sie nicht als Gegnerinnen zu betrachten, wenn sie mit Rafa auseinander sind. Und auch sonst will ich sie als Menschen abgelöst von ihrer Rolle betrachten können, differenziert eben. Dann kann Rafas Prinzip "teile und herrsche" auch nicht funktionieren.

Am Montag mailte Berenice:

Dir wird es sicher nicht anders gehen: ich finde es schwer, Dir etwas zu schreiben. Dennoch bin ich froh, dass wir uns wenigstens grüßen können - ich fand das alles immer schon sehr albern. Damit meine ich nicht Deine Gefühle - ich denke, auch wenn man sich für denselben Menschen interessiert, kann man dennoch offen sein füreinander.
Dass ich Dir damals dieses kleine Keyboard-Spielzeug wiedergab, war nicht meine Idee; ich war nur immens erstaunt, wie Du reagiert hast. Dachtest Du, ich würde Dir etwas tun? Ich hatte nie einen Grund dafür.
Ich hoffe jetzt einfach, dass - auch wenn ich nur noch sehr, sehr selten in H. bin - wir "normal" miteinander umgehen können. Von mir aus gerne, ich habe nie etwas anderes probiert.

Ich mailte:

Ja, das stimmt wirklich, damals, als du im "Exil" von hinten nach meinem Kleid gegriffen hast und dran gezogen hast, hat das nur grade eben so gehalten, und noch bißchen mehr, und es wär gerissen. Und mir gings drum, daß es heile bleibt. Auf jeden Fall wirkte dein Verhalten auf mich aggressiv, auch wenns so nicht gemeint war (was ich dir durchaus glaube).
Ja, das kann ich mir vorstellen, daß Rafa die Rückgabe des Keyboards an dich delegiert hat, weil er mir das Keyboard nicht selbst geben wollte. Es kann Verschiedenes dahinterstecken. Es kann sein, daß er dich und mich gegeneinander ausspielen wollte (paßt zu ihm), es kann sein, daß er sich einer unangenehmen Pflicht entziehen wollte (paßt auch zu ihm), und es kann eine Kombination aus Beidem sein (paßt auch zu ihm). Vielleicht hat er dich auch damit provozieren wollen. Er provoziert ja nun mal sehr gern + ständig.

Berenice mailte:

Rafa ist für mich in meinem Leben abgeschlossen. Deswegen fällt es mir auch schwer, über diese Zeit nachzudenken. Aber er wollte uns nicht gegeneinander ausspielen - er hatte einfach keine Lust, sich mit Dir zu befassen. Mir war das alles egal, ich hatte kein Problem mit Dir oder damit, Dir etwas zu geben. Und so kam es dann eben dazu, dass ich es Dir zurückgab.
Und warum sollte er mich provozieren? Wir waren ein Paar, wir gehörten zusammen. Da arbeitet man nicht gegeneinander, sondern wie wir miteinander.

Ich mailte:

Natürlich gibt es keinen Grund, warum wir verfeindet sein sollten, weil wir ja ansonsten nie was gegeneinander hatten.

Berenice mailte:

Bin froh, dass das geklärt ist. Ich bin zwar kein Harmoniemensch, aber sowas Unnötiges, sich anzufeinden, nur wegen eines anderen Menschen, finde ich einfach dumm.

Ich mailte:

Ich lege Wert darauf, mich nicht von Rafa gegen irgendwen ausspielen zu lassen. Sein Prinzip "teile und herrsche" soll bei mir nicht funktionieren. So lernt er, daß ich mich authentisch und verläßlich verhalte und daß meine Prinzipien von den seinen unabhängig sind.
Gegen Rafas frühere Freundin Tessa bin ich regelrecht allergisch, aber Böses wünsche ich auch ihr nicht. Sie hat zwar versucht, mich im "Elizium" die Treppe hinunterzuwerfen, sie hat es aber nicht geschafft.

Berenice mailte:

Tessa habe ich nie kennengelernt, sie nur einmal vor wenigen Jahren gesehen. Aber ich hatte nie Grund, sie nicht zu mögen - sie war Vergangenheit und ich Gegenwart ;)

Ich mailte:

Wenn ich mich mit Rafa streite, läuft das schon seit 1994 so ab, daß er mir vorwirft, ihn verraten und verkauft zu haben, und wenn ich ihm erklären will, daß dem nicht so ist, fällt er mir dauernd ins Wort. Das ist bühnenreif, ritualisiert und für mich eine echte Herausforderung. Es geht darum, die Form der Kontaktaufnahme, die der Streit herstellt, zu nutzen zu einem Austausch. Rafa gibt sich mir mehr preis, wenn er sich im Streit mit mir befindet, das macht diese Art der Auseinandersetzung für mich so wertvoll. Bis dato sind diese Streits so geblieben. Er weist mir die Rolle der Versagenden, Enttäuschenden zu, und mein Part besteht darin, das zu widerlegen, und zwar so, daß er mir nicht ins Wort fällt. Daß er diese Form des Rollenspiels sucht, mag seinen Hintergrund in weit zurückliegender Vergangenheit haben (ist eine Arbeitshypothese).

Berenice mailte:

Es ist für mich erstaunlich, zu lesen, wie Du "das" zwischen Rafa und Dir für Dich interpretierst. Ich mag Dir da aber nicht reinreden - wahrscheinlich haben nicht mal Deine Freunde eine Chance, mit Dir darüber objektiv zu reden, warum solltest Du dann gerade mir glauben. Auch wenn ich mich von Rafa getrennt habe. Du könntest mir immer noch als Erklärung für Dich niedere Motive vorwerfen, auch wenn ich das nicht nötig habe. Dennoch lasse ich es einfach, mit Dir darüber noch mal zu reden. Nur so viel: nachdem ich beim Stöbern auf Deiner Geschichten-Seite so viele Lügen und falsche Mutmaßungen über mich gefunden habe (das stört mich allerdings nicht weiter - sowas gibt es immer und im Endeffekt ist man doch machtlos dagegen), weiß ich, daß das, was Du über Rafa schreibst, ebenfalls größtenteils falsch ist. Und - wie gesagt - ich kann Dir da leider nicht helfen.

Ich mailte:

Wie es auch weitergeht, es bleibt spannend. Es ist meine Art, auch im Tragischen das Erfüllende zu sehen.

Berenice mailte:

Dies hat mich jetzt insgesamt beruhigt. Ich hoffe sehr für Dich, dass Du das genauso meinst, wie Du es geschrieben hast. Für Dich. Wenn Du so damit umgehen kannst, gut. Ich mag dann doch lieber die Erfüllung in der wirklichen Liebe finden, im Lächeln, im Kuss und in Berührungen, in gemeinsamen schönen Erinnerungen, im Guten und Bösen. Das hatte ich wunderbarerweise und das habe ich. Dafür bin ich dankbar.
Aber Menschen sind nicht gleich.

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